Otto Ernst
Semper der Mann
Otto Ernst

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XXXII. Kapitel.

Herr Semper ist in Gefahr, von zwei Pferden auseinandergerissen zu werden.

Natürlich hatte Asmus sich nicht geschmeichelt, den alten souveränen Herrn im Armsessel überzeugen zu können; aber er hatte erwartet, daß Hamburgische Liberalität und Großzügigkeit auch in diesem alten Herrn nicht versagen werde, und darin hatte er sich nicht getäuscht. Der Senat beschloß auf Veldkamps Antrag, den Kongreß durch einen Abgesandten zu begrüßen und einen Beitrag zu den Kosten zu bewilligen.

Der Kongreß mit seinem bunten Gemenge von Deutschen, Österreichern, Ungarn, Russen, Rumänen, Schweden, Norwegern, Dänen, Engländern, Holländern, Belgiern, Franzosen, Italienern und Amerikanern bot ein ungemein fesselndes Erlebnis, und wenn beim Bankett das Orchester mit Weber, Donizetti, Auber und Glinka abwechselte und der Präsident des Hamburgischen Parlaments in deutscher und französischer Sprache auf die edle Sache der Friedensbestrebung seinen Trinkspruch ausbrachte, so hatte man ein sehnsüchtig-wohliges Gefühl: Warum kann es nicht immer so sein? Aber so kindlich war Asmus nun doch nicht mehr, daß er in diesen Festen und Verhandlungen einen wesentlichen Schritt zum Völkerfrieden erblickt hätte. Diese Verhandlungen beruhten in der Hauptsache auf der Meinung, daß der ewige Friede von oben, von den Fürsten und Regierungen gemacht werden könne. Von oben, dachte Asmus, lassen sich viele gute und große Dinge schaffen; aber der Völkerfriede gehört nicht zu ihnen.

Es kränkte ihn auch, im Gespräch mit ausländischen Delegierten herauszufühlen, daß man von Deutschland am ehesten eine Störung des Friedens befürchtete. Einen Engländer von dieser Gesinnung erinnerte er an die Fabel vom Wolf, der sich beschwerte, daß das Lämmlein ihm das Wasser trübe, obwohl es unterhalb des Wolfes aus dem Bache trank. »Der Vergleich«, fügte Asmus hinzu, »hinkt allerdings insofern, als Deutschland kein Lämmlein ist. Das kann man aber auch von Deutschland, das in der Geschichte nun so oft das geschorene Lamm gewesen ist, nicht gut mehr verlangen. Vielleicht ist ein anderes Gleichnis treffender. Unser Land ist durch Jahrhunderte das Spielbrett gewesen, auf dem die Völker ihre Knöchelspiele trieben. Und daß wir uns dazu nicht mehr hergeben, davon ist man unangenehm berührt.«

Auf diesem Kongreß war auch ein Mann erschienen, der sieben Jahre zuvor die Welt in Erstaunen gesetzt hatte, weil er, ein Oberstleutnant der Husaren, aus dem eisernen Zirkel seines Standes hervorgesprengt und für Freiheit des religiösen Gewissens, für Beseitigung des Dogmenzwanges und Verinnerlichung und Einigung des Christentums eingetreten war. Nach der krassen Unduldsamkeit jener Zeit hatte er sogleich seinen Abschied nehmen müssen. So war er für Asmus Semper, der ein Trauerspiel vom Gewissenszwang geschrieben hatte, ein Genosse des Herzens gewesen; aber ein andres Gefühl hatte sich noch stärker in ihm geregt. Der Gedankenbau dieses Mannes erschien ihm als eine einzige Halbheit; er verlangte Freiheit innerhalb des Christentums, aber nicht über das Christentum hinaus; Halbheit aber war Sempern von je ein Greuel gewesen.

»Die Halbheit taugt in keinem Stück;
Sie bleibt noch hinterm Nichts zurück«,

diesen alten Spruch liebte er. Und so hatte er gegen den halben Reformator die Feder angesetzt und war mit einem Verteidiger des Oberstleutnants in eine lebhafte Fehde geraten. Hier trat er nun diesem tapferen Manne gegenüber; auf einer Lustfahrt die Elbe hinunter hatten sie ein langes Gespräch miteinander, und schon nach wenigen Worten und nach einem Blick in diese Kinder- und Husarenaugen wußte Asmus, daß dieser halbe Denker ein ganzer Mensch war. Und ein wundervoller Mensch, die himmelsoffne, sonnenreine, furchtlose Seele eines echten deutschen Offiziers, ein Tellheim mit der Statur und Munterkeit Dietrichs von Löwenclau! Asmus sagte sich: Hätte ich diesen Mann gekannt, so hätte ich wohl auch gegen ihn geschrieben, aber doch wohl in anderer Weise. Er lernte wieder einmal, was wir alle, alle lernen sollten, was wir immer wieder vergessen: daß die Menschen gerechter gegeneinander sind, wenn sie lebendig voreinander stehen, wenn die Augen des einen dem andern ins Herz scheinen und über alle Worte ein lebendiges Licht ergießen. Wenn es sich irgend ermöglichen läßt, so schreibt nicht gegeneinander, sondern redet zueinander! Die Feder ist spitz; die Lippe ist rund. –

Da Asmus in dieser Zeit außer solchen Beschäftigungen nach bestimmten Andeutungen und Vorzeichen zu gewärtigen hatte, daß er zu den Ehrenämtern, mit denen ihn seine Kollegen schon betraut hatten, noch ein paar größere und schwerere übernehmen müsse, so hatte er keine Veranlassung, sich zu den Arbeitslosen zu zählen und ein »Recht auf Arbeit« geltend zu machen, ganz im Gegenteil. Da er an keinem Abend mehr sich selbst und den Seinen gehörte, so machte er vielmehr sein Recht auf Menschsein geltend und warf eine größere Last von Ämtern von den Schultern.

Aber mochte Asmus auch noch so viele Ämter und Pflichten abwälzen, es blieb immer noch eine zu große Bürde übrig, und daß ihm die Schule eine Bürde wurde, das war sein tiefster Schmerz. Man hätte seinen Zustand falsch bezeichnet, wenn man gesagt hätte: Sein Herz gehört zur Hälfte der Schule und zur Hälfte der Kunst. Menschen, die ihr Herz teilen können, finden einen Ausweg: sie tun jedes Ding mit halbem Herzen und können leben. Es ist nur ein Lemurendasein; aber sie leben. Asmussens Herz war ganz erfüllt von der Liebe zur Schule und ganz erfüllt von der Liebe zur Kunst, und davon muß ein Herz zuletzt zerspringen. Wie schön war es, sich tagelang hineinzuwühlen in die innersten Kammern eines weltgeschichtlichen Vorganges und vor den Kindern die kahlen Knochen der Tatsachen mit blühendem Fleische zu umkleiden und werdendes Leben vor ihnen zu enthüllen; wie schön war es, ihnen Goethes »Fischer« vorzutragen, so vorzutragen, daß sie den Atem der Flut und ihre »hereinziehende« Gewalt empfanden; wie schön war es, ein physikalisches Experiment, eine listenreiche mathematische Aufgabe mit behutsamen Fingern vor ihnen zu entwirren und sie auf reinlichsten Gedankenpfaden von Schluß zu Schluß zu führen; wie schön war es, mit ihnen zu singen:

»Die lieben Waffen glänzen
So hell im Morgenrot;
Man träumt von Siegeskränzen,
Man denkt auch an den Tod«

und mit ihnen zusammen in einem einzigen Schauen das Leuchten einer Zeit zu sehen, die aus Todesmut und Hoffnung gewoben war – und plötzlich stand dann seine jüngste dichterische Idee vor ihm wie ein vergessenes, frierendes, hungerndes Kind und flüsterte: Warum verrätst du mich? – und dann hätte er gern alles von sich geschleudert und wäre davongerannt. Wie schön war es, am Abend daheim in der gestaltenträchtigen Stille seines Zimmers zu atmen, zu sehen, wie immer neue Erscheinungen aus dem Nebel hervortraten, sich formten, Grenzen annahmen, sich zu bewegen begannen, lebendige Gesichter und Augen bekamen, sich neben ihn stellend, den Arm um seinen Hals legten und ihm ins Ohr flüsterten, was er schreiben solle – und plötzlich sah er die hundert Augen seiner Schüler auf sich gerichtet und sah sie fragen: »Warum verrätst du uns?« Ja, er verriet sie; er gab ihnen nicht sein bestes Wollen und Können mehr; er fühlte, daß er ein schlechter Mensch wurde, und das machte ihn vollends elend. Dieser schreckliche Zwist machte ihn reizbar, jähzornig und ungerecht. Er hatte immer scharf und streng sein können, wenn es ihm nötig schien; er wußte, daß keine Arbeit möglich ist ohne Disziplin, und seine Schüler wußten – auch wenn sie länger waren als er – daß er sich nicht auf der Nase spielen ließ. Aber sie hatten ihm dennoch angehangen, weil er gerecht war, sich wenigstens bemühte, es zu sein. Das war nun auch nicht mehr. Er fühlte mit tiefster Beschämung, daß er sich immer häufiger von seinen Launen fortreißen lasse, daß er anfange »Stunden zu geben« ohne Lust und Kraft. Und so vervielfachte und vertiefte sich sein Leiden durch Schuld. Wie sollte er ihm entrinnen? »Niemand kann zween Herren dienen. Entweder er wird den einen hassen und den andern lieben, oder wird dem einen anhangen und den andern verachten.« Konnte er seine Schüler hassen? Konnte er seine Kunst verachten?

Eine »Befreiung« bot sich ihm dar. Er konnte Redakteur einer angesehenen Wochenschrift werden mit hochanständigem Gehalt! Er konnte seine Einnahmen auf das Vierfache bringen! Zu essen würden er und die Seinen dann ohne Sorgen in Fülle haben. Aber dafür mußte er dann auch schreiben, was und soviel man von ihm verlangte; dafür kam dann seine Muse unter die Räder und Rollen der Schnellpresse, die so manches Talent ins Breite zerwalzte. Das wäre schlimmer als das Schlimmste, dachte Asmus.

Und noch eine Aussicht winkte ihm: man wollte ein Volkstheater gründen, und ihn hatte man zum Direktor ausersehen. Für einen Mann, dem das Theater weit mehr als ein Schein, dem es ein lebendiges Stück der Menschheit war, der die Kunst ins Volk bringen wollte und in ihr eine erziehende Grundgewalt erblickte, fürwahr ein verlockender Ausblick! Aber auch dieser Posten forderte wie nur einer den ganzen Menschen, und der Theaterdirektor mußte den Dichter genau so ohne Gnade, ja, noch weit schonungsloser erdrosseln als der Schulmeister. Denn in der Arbeit der Schule gab es doch noch eine Ruhe der Seele; Ruhe der Seele aber ist dem Theaterdirektor nicht beschieden.

»Asmus, armer Asmus, du Theaterdirektor?« rief Hilde in mitleidigem Erschrecken, und ihre Augen feuchteten sich schon jetzt. »Mit deinem Temperament? In einem Jahre hätten sie mir dich zerfleischt.«

Sie hatte recht, und so blieb es beim Alten.

»Wer zwischen zwei Gerichten hat die Wahl,
Gleich reizenden, gleich fernen, wird vergehen
Vor Hunger, eh er eins anbeißt zum Mahl.«

Diese Verse aus Dantes Paradiso kennzeichneten seine Lage. Oder nein, sie kennzeichneten sie nur halb; sein Unglück war größer. Wenn er die Schule wählte, so verhungerte seine Seele nach der Kunst; wenn er die Kunst wählte, so verhungerte sein Leib und – weit schlimmer – so darbten die Seinen. Wenn er sich aber wie bisher für keines entschied, so ging er zugrunde am Hunger und am Zwiespalt, dann hatte er zu allem Seelenhunger das beständige Gefühl, von zwei gleich starken Pferden auseinandergerissen zu werden.


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