Otto Ernst
Semper der Mann
Otto Ernst

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XXXV. Kapitel.

Gebet vor der Arbeit.

Und ehe er nun zum Werke schritt, fühlte er ein brünstiges Verlangen nach einem langen, langen Gespräch mit der Natur. Nur für wenige Tage zog er hinaus. Dort fand er der großen Mutter schönsten, weisesten und gütigsten Sohn, den Wald.

Mitten im Walde stieg er Höhen voll ewigen Schattens hinan und sah von ihrer Kuppe hinab in schattenstille Mulden, wo in weitem Ringe die Helden der deutschen Vorzeit saßen zu ernstem Rat. Noch immer saßen sie da, noch immer seit tausend, tausend Jahren, und in leisem Winde wehte ihr Bart und tönte ihr Wort.

Er stieg höher und höher, und wenn er nach stundenlangen Schatten hoch oben auf eine Lichtung hinaustrat, riß seine Brust sich dem Lichte aus, und seine Seele war ein einziger stummer Schrei des Glaubens.

Er starrte vom Bergesrande hinab in blaue Wipfelgründe, und wie einst als Knabe an jenem dunkeläugigen Teich seines Heimatdorfes mußte er denken: Unergründlich, unergründlich! In unergründlicher Tiefe saß die Sage und spann, und ihres Rades Summen klang herauf, wenn man sein Herz still hielt, ganz still.

Durch tausendstämmiges Waldgewirr sah er einen fernen Weg schimmern und sah und hörte lachende Ritter dahinreiten für ihres Volkes und Königs Recht, für edler Frauen Liebe. Einst waren seine Gedanken solche Ritter gewesen: stark, gesund, glücklich und froh. Was ich damals glaubte, liebte und ersehnte, war gut, dachte er. Was gegen Rittertum witzelt, ist Schlangentrug.

Ohne Pfad stieg er hinab ins Gewirr der Tannen. Hundert Schritte vor ihm hing Gold in den Ästen, einsames, winkendes Gold. In das webende Dunkel ringsum fiel ein einziges zitterndes Sonnenband. Da mußte er an seine Geliebte denken.

Vier der Stämme ragen empor,
Die sich allein das Licht erkor;
Aber sie flimmern in hellem Glast
Wie ein lichter Zauberpalast.
Zwischen den Stämmen in der Schwebe
Hängt der Spinne silbern Gewebe;
Käfer im Goldrock, flink und munter,
Hasten die Stämme hinauf, hinunter,
Und ihr Schwirren und Summen leis
Einziger Laut im weiten Kreis! –

Also fiel auch in unsre Brust
Golden das Licht der Liebeslust,
Und inmitten der düstern Welt,
Die uns mit Sturm und Frost umstellt,
Fanden wir strahlende Einsamkeit,
Frieden und tiefe Seligkeit.
Eine stille Sommerpracht,
Uns im Herzen die Liebe lacht.
Sonne trank nun allen Schmerz.
Ahnend zittern durch unser Herz,
Wie das Licht um die hohen Bäume,
Einsame Wünsche, schweigende Träume. –

Hier klang ihn die Welt seines Hauses noch an – er mußte tiefer hinein in das heiligende Schweigen. Und er drang weiter und weiter ins Dickicht der Tannen. Dickicht der Tannen – verborgenste Werkstatt des Märchens – geheimste Kammer der Welt – verschwiegenster Gedankenwinkel, in dem Gott seine Träume spinnt! Hier ließ Asmus sich nieder und dachte selig in sich hinein:

»Verirrt – vergessen – ewig, ewig verirrt und vergessen! – – –«

Lange, seltsam lange saß er so. Einmal hob er den Blick, da sah er Grünes durch das Dunkel leuchten. Er ging dorthin und sah einen Pfad, der trennte Tannenwald und Laubwald, einen zweihandbreiten Pfad, der ganz bewachsen war. Er sah den Pfad hinauf und hinab und dachte: Hier ist in Ewigkeit niemand gegangen; hier wird in Ewigkeit niemand gehen. Nichts ist so einsam wie ein Weg, den niemand geht.

»Verirrt – vergessen – ewig, ewig verirrt und vergessen! – – –«

Und nach langer Zeit hob er wieder den Kopf und sah plötzlich, was er zuvor nicht gesehen hatte. Drüben unter einer weitspannenden Buche liegt ein gewaltiger platter Felsblock wie ein Grabmal aus Riesenzeit. Und dahinter, am Stamm der Buche, gerade aufgerichtet wie eine Säule ein steinern Bild, ein gepanzerter Ritter, den Kopf an den Stamm gelehnt und beide Fäuste um das Kreuz des Schwertes geballt. Seine Augen sind fast ganz geschlossen; nur durch einen schmalen Spalt blicken sie auf das Grab seit siebentausend Jahren. Ein Sonnenstrahl spielt mit dem Schwertknauf. Und über des Ritters Haupte spreitet sich weit und wagerecht ein junger, lichtgrüner Buchenzweig wie ein Baldachin. Und wiederum saß Asmus lange und starrte glückselig auf das verwitterte Bild und dachte:

»Verirrt – vergessen – ewig, ewig verirrt und vergessen! – – –«

Einmal schlich er näher und bückte sich, um von unten her in das unbewegte Auge zu schauen; aber da sah er, daß alles nur ein Sonnenschein war, der auf den Stamm der Buche fiel. Aber vorher war es gewiß ein steinerner Ritter gewesen. Denn von Gestalten und Geistern erfüllt war die ganze weite Runde ringsum.

Er klomm einen steilen, unabsehbaren Waldabhang hinan und sah in einer engen Lichtung zwischen düster ragenden Stämmen ein schlankes Bäumchen, das mit tausend grünen Augen empor in die Sonne lachte.

Er stieg höher hinauf und sah fern hinter hundert Bäumen ein Reh, das hinter einem Stamm hervor zu ihm heräugte. Und dieses Auge war ihm wie das Auge aller beseelten, aller lebendigen Kreatur. –

Er wanderte weiter, einem fernen Donnern und Brausen zu, und sah bald – seltsam! – ganz wie einst im Haine des dänischen Küstendorfes durch tiefes Walddunkel eine rote Blume winken. Er ging ihr entgegen und kam an einen schäumenden und rauschenden Bach, der über wildes Felsengestein daherschoß. Und ganz allein auf einem gewaltigen, gischtumtanzten Felsblock stand die rote Blume und schaute über und über erglühend ins Himmelslicht. Da ließ er sich nieder auf einem bemoosten Stein und starrte selig die Blume an. Und da hörte er aus der donnernden Tiefe Gesang von vielen tausend Männern und dazwischen Orgelbrausen und ernste, raunende Zwiesprach und wieder Gesang und Orgelton. Und als er das Ohr erhob, hörte er über sich aus den Kronen der Bäume Gesang und ernstes Gespräch und rauschendes Orgellied. Es war ein einziger Dom über und unter der Erde, und er saß mitteninnen, vor dem Altar, von dem die Blume glühte. Im deutschen Walde wohnen lebendig die Edlen der Vorzeit. Darum ist die Stille des deutschen Waldes ohne Bangen; dir ist im deutschen Walde wie unter vielen guten Menschen: »Fürchte nichts; wir stehen zu dir.« Der deutsche Wald ist ein einziges Volk mit einem einzigen Herzen, das deutlich zu dir spricht: »Fürchte nichts, ich stehe zu dir.«

Wie ein Kind unter dem Schutze hoher Ahnen, so saß Asmus unter den Bäumen. Ihr Leben schien ihm größer als Menschenleben; mit größeren Maßen standen sie in Raum und Zeit der Welt; länger und darum tiefer blickten sie hinein in Werden und Vergehen. Sie können warten auf die Kunde der Zeiten, besser als das jagende Menschenherz. Und seine Andacht klang wie ein Hymnus in ihren Gesang:

Euch, ihr Bäume,
Acht' ich des Schöpfers
Göttlichste Kinder.
Ihr wart vor uns Lebenden,
Und eure Kronen bewahren
Vergangenes in rätselvoller Sprache –
Ihr werdet nach uns sein,
Und euer Inn'res
Hegt Keime der Zukunft
In ernstem Schweigen.
Und unbekümmert
Um Vergangenes und Künftiges,
Spendet ihr, Wissende,
Frucht und Schatten,
Duft und Schönheit.
In schweigender Hoheit
Wachst ihr empor
Über der Menge Geschrei und Gewühl,
Und überhebt euch nicht,
Neigt euch milde
Zu den Menschen
Und blickt fromm
Zu nächtlichen Sternen.

Menschen, die ihr mich liebt,
Pflanzt Bäume mir auf das Grab,
Daß ihre Wurzeln meinen Leib umfangen
Wie sorgende Arme,
Und ihre Häupter, sich neigend, mir singen
Von Lenzen, die ich ersehnt
Und nicht mehr gesehn. – –

Er kam wieder in Tannen hinein, in kraushaarige, krausstirnige Tannen, vom Höhenwinde wundersam zerschlagen und zerfetzt. Und sah aus einem Kranze solcher Tannen den grau zerfallenen Turm einer zerfallenen Burg schimmern. Nie hatte er von dieser Ruine gewußt, nie von ihr gehört. Er suchte den Eingang, suchte einen Weg zu ihr; er fand nicht den Eingang, fand keinen Weg und fand trotz allen Suchens keine Ruine mehr; sie war verschwunden. –

Und wieder schaute er von hoher Felskante hinab in blaue Gründe: da blinkten die Ströme und wanderten nicht mehr; da wohnten die Menschen und lärmten nicht mehr. Dem Einsamen aus der Höhe stehen die Ströme still und werden die Menschen stumm. Da schloß er die Augen und sank immer tiefer hinab in den Brunnen der Stille. Verirrt – verirrt und vergessen! Zurückverirrt in den Urgrund der Dinge, in den Mutterschoß der Natur, in die schweigende Werkstatt Gottes.

Und als er die Augen wieder auftat, da sah er ringsum Wälder und Wälder, ein grünes Meer, und sah die Sonne sich zu ihren Wipfeln neigen. Da war es, daß auf einmal aus allen Wäldern und Gründen ein einziger ungeheurer Strom emporstieg und ihm brausend in das Herz stürzte:

»Gut sein! Wahrhaftig sein! Treu sein! Tapfer sein! Schaffen, wirken, ringen nach dem Reinsten, Heiligsten und Schönsten und niemals wieder wanken im Glauben an den endlichen Sieg!«

Und wie ein zerfaultes Gewand – er fühlte es fallen! – fiel von ihm ab, was nie in sein Inneres gedrungen war, aber womit ihn ein Jahrzehnt umwoben und umlogen hatte, fiel in Nichts zurück der Trug, daß das Leben eine einzige sinnlose Pein, die Welt ein einziger Irrgarten, die Menschheit eine einzige Bestie, daß der Mensch für sich allein da sei, daß Lüge, Gewalt und Selbstsucht seine einzigen, seine gerechten Waffen seien gegen Selbstsucht, Lüge und Gewalt.

Wiedergeboren, neu geboren, zehnfach verjüngt, zehnfach erhoben ging er hervor aus dem Schoß der Natur, aus den Armen des Waldes.

Und als er am Abend aus seinen Schatten hervortrat und wieder zu den Menschen kam, da war ihm wie jenem, der dreihundert Jahre im Schoß eines Berges verbracht hatte und meinte, es sei ein Tag gewesen, der eine andere Welt und ein anderes Geschlecht fand, das ihn nicht mehr erkannte.


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