Otto Ernst
Semper der Mann
Otto Ernst

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LXVII. Kapitel.

Der Jubelgreis und seine Anschläge.

Nach Rußland war Asmus auf dem kleinen Umwege über Stuttgart gefahren; denn dort hatte man das neue Hoftheater eingeweiht, und Asmus war der Einladung des Königs, dieser Feier beizuwohnen, mit ganz besonderer Freude gefolgt. Er trug das Andenken an den Fürsten dieses Landes in warmem Herzen; denn als er vor Jahren – Asmus hatte in der württembergischen Residenz eine Satire gegen den Profitpatriotismus aufführen lassen – mit ihm geredet hatte, da war es ihm gleich so wohl ums Herz gewesen, als spräche er mit seinem Vater. Nun war das neue, schöne Theater mit einer festlichen Menge gefüllt, und in der Hofloge saßen das Königspaar, das die Kunst mit regem Herzen liebte, und der Hof. Auf der Bühne zog eine Wandeldekoration vorüber, und als nun das Denkmal Eberhards des Rauschebarts erschien und die Musik spielte:

»Eberhard, der mit dem Barte,
Württembergs geliebter Herr,
Sprach: Mein Land hat kleine Staate,
Trägt nicht Berge silberschwer.
Doch ein Kleinod hält's verborgen:
Daß in Wäldern noch so groß
Ich mein Haupt kann kühnlich legen
Jedem Untertan in Schoß –«

da erhob sich die ganze Menge unwillkürlich wie ein einziger Mann und brach, der Königsloge zugewendet, in endlos brausende Jubelgrüße aus. Denn jedermann fühlte in dieser Stunde: das Lied ist wahr, ist heute wieder wahr. Niemand hatte die Worte gesungen oder gesprochen; aber jedermann dachte sie; jedes Herz sprach sie zur Loge der Königs hinauf. Und das ergriff Asmussen so wunderbar die Seele, daß ein solcher Zusammenklang der Herzen noch möglich war zwischen einem Volk und seinem Führer. –

Als Asmus Semper aus Rußland heimkehrte, wurde er 50 Jahre alt. »Es ist eine Gemeinheit, einem zum 60. Geburtstage zu gratulieren!« hatte Löwenclau einst ausgerufen. So dachte Asmus nicht, jedenfalls jetzt noch nicht. Er sträubte sich nicht im mindesten gegen das Alter. Der Gleichmut seiner Stimmung, soweit sie sein eigenes Schicksal betraf, ruhte auf dem Gefühl: So schön das Leben ist und so Köstliches es mir geschenkt und so gern ich es noch einmal leben würde – wenn es damit zu Ende geht, schadet's auch nicht. Um sich an dieses Leben angstvoll festzuklammern, dazu hatte er doch auch zu viel Bitteres geschmeckt, das nicht auf seine Zunge gekommen war, hatte er doch zu oft auch unter den besten Freuden seiner besten Tage ein Leid gefühlt, das die Menschen uns nicht antun und nicht anmerken. Übrigens fühlte er auch noch nichts vom Alter; sein Herz tat wieder seine Arbeit, wenn man es rücksichtsvoll behandelte, und als am Geburtstagsmorgen Mozart und Beethoven aus seinem Garten heraufklangen, da fühlte er sich im Gegenteil wie neugeboren. Und als er in seiner Mappe mit Entwürfen blätterte, da fand er, daß er an seinem 50. Geburtstage etwas mehr als 50 Entwürfe darin hatte von Dingen, die er noch schaffen wollte, darunter von recht umfänglichen und schwierigen Dingen. Er fand aber auch, daß diese Dinge noch wesentlich besser werden müßten als seine bisherigen Leistungen, und er hoffte, daß es ihm gelingen werde, sie besser zu machen. Er war also noch nicht alt, weil er noch nicht mit sich zufrieden war.

»Als Jubilar«, sagte er in seiner Rede beim Festessen, »kann man verschiedene Posen einnehmen. Man kann sich zum Beispiel allen Ehrungen durch die Flucht entziehen und den Festtag auf der Insel Robinsons oder auf einer Eisscholle des Polarmeeres zubringen: das macht dann immer einen stoisch-erhabenen Eindruck. Ein Wiener Zoologe, den seine Hörer aus Anlaß eines Jubiläums mit besonderem Beifall begrüßten, begann seine Vorlesung mit den Worten: ›Das Feiern von Jubiläen, meine Herren, ist eine Sitte, die wir bei den Tieren nicht beobachten.‹

»Eine andere Pose ist die, daß man sich alle Ovationen entschieden verbittet, dabei aber zu Hause bleibt. Das ist indessen gefährlich; denn es gibt Leute, die solche Ablehnungen ernst nehmen und dann wirklich nichts tun. Oder man läßt alle erdenklichen Feierlichkeiten über sich ergehen und sagt hinterher öffentlich oder heimlich: »Dieses Angefeiertwerden ist mir entsetzlich.« Man findet auch dabei mitunter Gläubige; aber es wirkt schon weniger. Natürlich gibt es bei solchen Festlichkeiten und Jubelhymnen allerlei Entsetzliches, allerlei falsche und unreine Töne, und ein Mann, der unter dem Honigseim solcher Tage den billigen Sirup nicht herausschmeckte, würde eine komische Figur spielen. Ich habe zeit meines Lebens ein nicht ganz unmusikalisches Ohr besessen; aber ein Narr würde ich mir scheinen, wenn ich über den falschen Tönen die echten und reinen überhören und mich ihrer nicht freuen wollte.

»Wieder eine andere Pose besteht darin, daß der Gefeierte mit tränenerstickter Stimme erklärt, das alles habe er ja nicht verdient oder doch nicht entfernt in solchem Maße verdient, das sei ja viel zu viel, und er müsse es ablehnen usw. usw. Wenn ich auch diese Pose verschmähe, so soll damit nicht gesagt sein, daß ich alles Liebe und Gute, das man mir erweist, als wohlverdienten Lohn empfände. An Geburtstagen und Weihnachtsfesten pflegt ein fröhlicher Geber zu verschwenden. Solch eine Verschwendung ist vielleicht eine Ungerechtigkeit; aber da das Leben so oft nach der anderen Seite ungerecht ist und dem Menschen, ganz besonders dem Künstler, so gern vorenthält, was ihm gebührt, so ist es ganz in der Ordnung, daß es ausgleichend verfährt und ihm ein anderes Mal einen gehäuften Scheffel zumißt. Menschen von der Nüchterlingsart jenes Zoologen pflegen zu sagen: Warum sollte man einen Geburtstag feiern? Ist er anders als die andern Tage? Nein, er ist nicht anders; eben darum soll man ihn anders machen. Man soll ihn herausheben aus der langen Reihe der Alltäglichkeiten und soll die Kargheit des Lebens verbessern durch liebevolle Verschwendung; man soll den Gefeierten entschädigen für erlittenen Mangel und ihm einen Vorschuß geben für die Zukunft. Alle Künstler leben vom Vorschuß, teils vom materiellen, teils vom ideellen. Was man mir in diesen Tagen gibt, nehme ich nur zum Teil als Nachzahlung für unverschuldete Ausfälle; zum andern Teil nehme ich es als Vorschuß, den man mir in der Überzeugung gewährt, daß junge Talente ermutigt werden müssen. Und meinen Dank für solche Freundschaft zeige ich darin, daß ich ohne Pose, ohne allen falschen Schein sage: Ich freue mich und will meine Freude zeigen in meinen Werken

Zu den umfänglicheren Dingen, die er sich vorgenommen hatte, gehörte die möglichst rückhaltlose Kritik der mit beispielloser Aufdringlichkeit nach Alleinherrschaft strebenden Nietzscheanischen Modephilosophie. Wer da glaubt, daß schwer oder überhaupt nicht verständliche Philosophen nicht ins Volk drängen, der lebt in einem schweren Irrtume. Ihre Wahrheiten und Irrtümer werden auf den Universitäten in Sammelbecken aufgestaut, aus denen die Studenten trinken, und wenn diese Studenten Lehrer, Prediger, Schriftsteller, Journalisten u. dgl. geworden sind, geben sie das Getrunkene wieder von sich und besprengen das Land damit wie mit Gießkannen. Nun war freilich das deutsche Land gottlob noch nicht von dem Halbwahnsinn jener Philosophie durchtränkt; aber unter jenen Gärtnern des deutschen Gartens waren schon recht viele eifrig dabei, die neue Lehre über das Land zu sprudeln, als wäre sie das wahre Wasser des Lebens. Diese Lehre hieß: Entthronung des Sittengesetzes und Inthronisierung des individuellen Beliebens. Nun war für Asmussen das Ich eine Unendlichkeit, wenn es in sich versank, und ein Quark, wenn es sich aufblähte gegen das Weltall. Er hatte nicht die geringste Begabung zum Moralfexen, Tugendprotzen oder Pharisäer. »Strenge gegen sich selbst und Milde gegen andere macht den wahrhaft vornehmen Charakter aus«, hat ein Weiser gesagt. Mit der Strenge gegen sich selbst haperte es bei ihm zuweilen recht bedenklich; aber Milde gegen die Fehler seiner Mitmenschen konnte ihm in der Praxis des Lebens niemand absprechen. Eines indessen stand ihm unverrückbar fest: nur durch das Sittengesetz ist die Menschheit im Urgrunde der Welt sicher verankert. Reißt dieser Anker los, so ist das Schiff verloren. Die äußerste Spitze dieses Ankers ist der Eid. Unvergeßlich durchs ganze Leben blieb ihm der Schauder, mit dem sein alter Lehrer, der herrliche Herr Cremer, vom Meineid gesprochen, und der Schauder, mit dem er dessen Worte in sich aufgenommen hatte. Der Meineid, hatte er gesagt, ist das furchtbarste Verbrechen eines Menschen; der Meineidige verrät die ganze Menschheit. Jedes andere Verbrechen kann eher verziehen werden; den Fluch, der den Meineidigen trifft, wäscht keine Zeit ab; nur Gott kann ihn von ihm nehmen. In einem Theater hatte Asmus bald darauf einen Schauspieler gesehen, von dem man wußte, daß er einen Meineid geschworen habe. Wenn der Mann ein Mörder gewesen wäre, so hätte es der kunsthungrige, dankbar empfängliche Knabe vergessen können; über den Meineid konnte er nicht hinweg, und er starrte auf den Mann mit einem gar nicht nachlassenden Mitleid und Grauen und sah und hörte nichts von seinem Spiel.

Anker und Sittengesetz wirken aber nicht nur durch ihre Spitze, sondern auch durch ihre ganze Schwere und Hebelkraft; der Eid ist nur das stärkste Symbol der Treue, die wir Menschen einander, die der Mensch der Menschheit bewahren soll. Und Asmus hielt es für unabweisbare Gewissenspflicht, die ihn quälte, so lange sie nicht erfüllt war: nach seinen Kräften aufzutreten gegen eine Lehre, die nicht aus Bosheit, aber aus Größenwahnwitz des Individuums einen Sturm zu entfesseln suchte, der den Anker losreißen und den sichersten, letzten Glauben der Menschheit entwurzeln mußte. Im Laufe der Jahrhunderte oder Jahrtausende mag das einzelne Sittengesetz sich wandeln; aber ewig, solange die Menschheit besteht, muß der Satz bestehen, daß der Mensch der Menschheit verpachtet ist.

Seiner raffinierten Gewohnheit gemäß die Erholung durch Arbeit würzend, pendelte er am Gardasee zwischen philosophischer Kritik und den See- und Sonnenwundern Gardones, San Vigilios und der »Grotte des Catull«, als seine Hilde ihm eines Tages aus der Zeitung vorlas, der deutsche Kaiser habe für die diesjährigen Festspiele Webers »Oberon« und »Freischütz«, Raimunds »Verschwender« und den »Heiligen Bureaukratius« von Asmus Semper befohlen. Das war eine Nachbarschaft, in der ihm ganz absonderlich wohl wurde.

»Rezia ist auf ewig dein!«

diese Musik war wie silberner Mond über dunkler Wolkenwand durch früheste Tage seiner Kindheit gezogen.

»Und ob die Wolke sie verhülle,
Die Sonne bleibt am Himmelszelt«,

Pljdas war ihm noch immer nach Sinn und Weise das frömmste Gebet aus einer Menschenbrust. Und die ganze Wolfsschlucht hatte er ja schon als fünfjähriger Junge ganz allein gespielt, mit allen Schrecken und Gespenstern, mit nichts bewaffnet als mit seines Vaters Spazierstock, der die Büchse Maxens, Caspars und Samiels zugleich war. Und zum größten Ergötzen seiner Eltern und Geschwister hatte er die Sache blutig ernst genommen. Mit teuflischer Härte hatte er gerufen:

»Es sei! Bei den Pforten der Hölle:
Morgen er oder du! Rrrrrrrrr!«

PljDieses Rrrrr! war der Donner, unter dem der wilde Jäger verschwand, und dann hatte der Vater den furchtbaren Höllenfürsten auf den Schoß genommen und geküßt.

Und den »Verschwender« hatte er ja als zehnjähriger Bube in einem kümmerlichen Vorstadttheater mit großen Augen und großem Herzen gesehen. Die Verschwendung schien ihm ein so schönes Laster, daß es schon fast gar kein Laster mehr war. Auch Timon von Athen war ihm unter Shakespeares Helden der liebens- und beklagenswerteste. Und für alle Zeiten hatten seine Augen das Bild eingesogen, wie der arme, arme Verschwender mit seiner Geliebten nach Amerika flüchtete und seinem Schiff in Nacht und Sturm auf schmalem Boot der gespenstische Bettler folgte, hatten seine Ohren für immer das Lied eingesogen, das der Bettler sang:

»O laßt mich nicht vergebens klagen,
Seid nicht so stolz auf eure Pracht,
Ich sprach wie ihr in goldnen Tagen,
Drum straft mich jetzt des Kummers Nacht.«

Und ein goldnerer Kerl als dieser Tischler Valentin war ihm noch seiner Lebtage nicht über den Weg gelaufen; da hätte man ja im Theater laut aufschreien mögen vor Herzerlösung! Als Erwachsener fand er dann wohl, daß das Stück zuweilen ein wenig reichlich kindlich sei; aber es war kindlich, und das war schon sehr viel zu Jesu Zeiten, sonderlich aber in diesen. –


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