Otto Ernst
Semper der Mann
Otto Ernst

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VI. Kapitel.

Das Unglück des Herrn Asmus Semper kommt an den Tag und er ins Gebirge.

Mit dieser Bemerkung hatte das Schicksal nicht so ganz unrecht. Nur war es nicht Herr Semper, den der Hafer stach, sondern das geflügelte Tier, das ihm im Herzen hauste und wieherte, stampfte, hinten ausschlug und Feuer durch die Nüstern schnob, weil es gefangen saß und nicht hinaus konnte. Der Hippogryph des Herrn Semper hatte seit frühesten Kindheitstagen seines Herrn gegrast auf allen Weiden der Welt, hatte geweidet:

»Bis an den Bauch in goldner Gerste,
In goldnem Hafer bis zum Bauch –«

war es ein Wunder, daß er seine Kraft und seinen Übermut austoben und in den Himmel steigen wollte? Herr Semper war, wie sein allererster Rezensent mit verblüffender Treffsicherheit erkannt hatte, ein Realromantiker, d. h. er brauchte keinen Loreleyfelsen oder Gottfried von Bouillon zu seiner Dichtung; er sah überall Romantik, sah alle Dinge in einer wundersamen Luft. Vielleicht war es eine Art Kurzsichtigkeit; die Kurzsichtigen sehen ja auch um jede Gasflamme einen Glorien- oder Heiligenschein. War es ein Wunder, daß das Herz dieses Menschen immer nahe am Bersten war? Also

»Hell wieherte der Hippogryph
Und bäumte sich in prächtiger Parade«;

aber das Herz des Semper beherbergte auch zwei Weiber mit harten Gesichtern, die hielten den Renner am Zügel; sowie er nur den Kopf hob, riß die Sorge erbarmungslos am Zügel, oder es riß die Pflicht, und gewöhnlich rissen beide. Es war deutlich genug anerkannt, daß Herr Semper ein Dichter sei; aber wenn er ein wenig Zeit zum Dichten hatte, dann hatte er gewöhnlich nichts zum Leben, und wenn er zu leben hatte, hatte er keine Zeit. Freilich, freilich: in flüchtigen Minuten konnte er sich notieren, was ihm einfiel und was er später einmal zu blühenden Körpern formen wollte; aber was das Beste an einer Dichtung ist, kann man nicht notieren; man kann kein Abendrot notieren und kein Morgenrot, keine Mittagsstille und kein Raunen der Nacht, man kann nicht notieren, wie eine Wolke just am 17. Juni sang. Gleichwohl zeichnete er vieles auf: ganze Bücher voll Andeutungen und Entwürfe; aber wenn er sie nach Monaten wieder ansah, dann lagen sie da wie bleiche, starre Kinderleichen, und er blickte auf sie hinab wie ein Vater, der seine eigenen Kinder verhungern lassen mußte, mit einem Schmerz, der schreien möchte und nicht schreien kann.

Sein Weib und seine Kinder durften nicht merken, daß er unglücklich war. Asmus Semper hatte nämlich diese Auffassung von der Ehe: was sein Weib nicht unfehlbar mitleiden mußte, das sollte ihr nicht nahekommen, und das war das einzige Gefühl, in dem sie verschiedenen Sinnes waren und über das sie zuweilen in zärtlichen Hader gerieten. Daß sie die großen Leiden des Lebens teilten, verstand sich von selbst; sie aber wollte alles mit ihm leiden; das aber hielt er für eine falsche Seelenökonomie, für eine unnütze Verschwendung von Herzkraft. Oft freilich durchschaute sie seine Maskenfröhlichkeit; denn sie hatte das richtige »Verstehen«. Ob sie alles wisse, was er wußte, ob sie dieselben Gleichungen berechnen könne wie er, ob sie jedem seiner Gedankengänge folgen könne, darauf legten beide, so grundgescheit und wissensdurstig sie war, geringeren Wert; mit feinen und sicheren Organen des andern Freude und Kummer spüren: das nannten sie »Verstehen«. Und wenn er dann sah, daß sie seine Sorge teilte, daß das Bangen um die Notdurft des kommenden Tages ihre Worte, ihr Denken, ihr Lächeln umspann und erstickte, dann war er unglücklich auf den Tod. In diesen Zeiten sang Asmus ein Schweres und schwarzes Lied von der

Sorge.
                  Willkommen, stiller Mond, im Schlafgemach!
Gieß deine Lichtflut neben mich aufs Kissen
Und laß in deine Strahlen mich die bleichen
Gedanken meines Grames flechten!
                                                        Wohl,
Du bist gewohnt, der Liebe sanfte Klagen,
Der Wonne Hauch als Opfer zu empfangen,
Und Glück, das in verschwiegner Nacht erblüht,
Vor dem verwandten Zauber deines Lichtes
Erschließt es seufzend seinen Kelch. Doch ich –
Mit der gemeinsten Sorge nah ich dir,
Und deine Freundschaft, dein Vertraun erfleh ich
In wacher Einsamkeit der stummen Nacht.
Ja, küsse dieses Weib! Sieh, wie erlöst
Ihr edles Haupt ins Kissen hingesunken!
Ist sie nicht schön? Die Arme ausgebreitet,
Die Lippen warm erschlossen – hingegeben
Der Wonne ganz, vom Tag erlöst zu sein.
Befreit von niedrer Sorge und nun ganz
Ein Engel! Ja, verweil mit deinem Lichte
Auf dieser Stirn, versenk ihr Träumen ganz
In deine Silberflut! Ein hoher Geist
Träumt hinter dieser Stirn von lichten Tagen.
Doch ihn erdrückt des Tages harte Last,
Und er erstickt im Staube.
                                          »Nahrung – Brot!«
In diesem Schrei stirbt unser Leben hin.

Vergebens hehl' ich ihr die grasse Not;
Verstellung schmilzt so bald im Strahl der Liebe!
Im Strahl der Liebe? Will er nicht erblassen?
In Hungers Knechtschaft ringen sie und ich
Mit Arm und Geist, und atemlos geschäftig
Gehn wir am Tag einander stumm vorbei.
Kaum noch gekannt lebt einer mit dem andern,
Des Glücks nicht achtend ob der größern Not,
Durch Leid entfremdet nicht, allein durch Sorge.
»Fürs nackte Leben heisch' ich Eure Kraft,«
So schreit uns Armut an, »und nicht fürs Lieben.
Was brauchen Bettler denn das Prachtgewand
Der Liebe, um ihr Leben dreinzuhüllen.
Das ist mein Fluch, das ist mein rastlos Mühn.
Die Seelen so mit Sorge zu umklammern,
Daß sie einander nie gehören können
Und müd und stumpf der Liebe sich entwöhnen!«

Siehst du, o Mond, auf deiner weiten Bahn
Noch irgendwo im reichen Erdengarten
Aus dunkler Nacht so duft'ge Rosen blühn
Wie diese Kinder? Du umschmeichelst selbst
Der zarten Glieder weiche Lieblichkeit
Mit sanfter Welle. Sieh, ein Hündchen hascht
Im Traum nach Früchten, die der Traum gereift!
Die Lippen lallen Worte eines Spiels –
Ein helles Lachen jetzt – und ganz im Schlaf,
Im festen, ruhigen, zufriednen Schlaf!
Sie atmen noch im Ganzen der Natur;
Ihr Leben Traum, und selbst ihr Traum noch Leben.
Ein Engel hütet sie: sie pflücken Blumen
Am Abgrund unsres Elends . . .
                                                    O verdammt
Sei diese ew'ge Qual und gift'ge Pein!
Willkommen, Schmerz! Zerreiße du mein Innres
Und laß mein Blut dahin in Strömen fließen,
So will ich sterben und die Erde segnen!
Laß mich auf deinem Schlachtfeld sterben, Erde;
Allein erstick mich nicht durch deinen Schlamm,
Durch deinen eklen Kot! Ist's denn erlaubt –
O Narrenspiel der Welt! – ist's denn erlaubt,
Daß diesen wunderbaren Bau des Hirns
In tausend Windungen nur ein Gedanke
Durchkreist, daß eine einz'ge Mahnung nur
In diesem Herzen klopft und pocht und daß
Sich dieses Lebens reicher Quell erschöpft
Nur um das Eine: daß wir fressen können?
O Schmerz, ein Sohn des Himmels bist du sonst;
Erloschne Geister schürst du wieder an
Zu hellen Bränden; aus verdorrten Herzen
Lockst du in heißen Wellen rotes Blut;
Die Stirn des schwachen Menschen schmückst du herrlich
Mit Götterglanz; den Weg durch Meer und Wüste
Führt ihn fortan des Trotzes Feuersäule.
Doch diese Sorg' ums Brot – o pfui – sie ist
Ein widerwärtiges, gemeines Weib,
Das unverschämt im Haus die Herrin spielt,
Auf offnem Markt sich in den Arm uns hängt,
Vor Edlen uns erröten macht, zugleich
Vor Schurken uns erniedrigt. Heilig ist
Kein Winkel ihr in unserm ganzen Innern;
Sie höhnt mit schmutz'gem Lachen unsre Andacht
Und speit auf unsern Stolz. Ja selbst, wenn Krankheit,
Wenn Tod uns und Verrat zu Boden schlugen,
So hockt sie triumphierend an den Herd
Und sucht mit frechem Grinsen unsern Blick,
Wenn er ins Leere starrt . . . .
                                                Du schwindest, Mond;
O fliehe nicht; denn bin ich einsam, raunt
Der Tod aus meinen Kissen . . . Nein, ans Fenster!
Ich will dich sehen, bis du ganz versinkst.
Laß mich mit dir durchwandeln diese Nacht!
Laß durch den Nebel, der mein Haupt umwogt,
Die Ströme deines weißen Lichtes rinnen –
Vielleicht ertastet doch mein müder Geist
Nach aller Qual den Weg zur Morgensonne! –

Eine besondere Verzwicktheit in Sempers Schicksal war es, daß ihm auch das Glück zum Unglück werden mußte. Globendorff lud ihn in zartfühlendster Weise zu einer Harzreise ein. Er könne nicht allein reisen, wisse keinen, der ihm den Gefallen tue, und auch keinen, mit dem er lieber reisen möchte. Asmus griff mit taumelnder Freude zu: mit seinen 29 Jahren war er noch nie über die engere Heimat hinausgekommen. Und ein Wunder winkte ihm ja, ein Offenbarungswunder: er sollte Berge sehen! Auf der ganzen Eisenbahnfahrt bis Oker sprach er kaum mehr als ein Dutzend Sätze. Immer wieder mußte er's denken: Ich soll Berge sehen.

Und Wunder eines Wunders: die Erfüllung übertraf alle Ahnungen. Und würdest du hundert Jahre alt und trügst auf deinen Schultern den lebendigsten Kopf der Welt: du weißt nicht, was Berge sind, wenn du sie nicht gesehen hast. Schon am zweiten Tage ihrer Reise war es Asmussen, als wandere er seit grauen Tagen durch alle Täler und Höhen der Welt, als liege hinter ihm ein langes Leben voll Staunens und Entzückens. Aus diesen Bächen und Schluchten klangen Worte, die er nie gehört, die er verstand und die er doch nicht sprechen konnte, so sehr die Lippen sich mühten; von diesen Wänden blickten Augen, in die er nie geschaut. Oft war's ihm wie im Wirbel: diese Felsen standen in seiner Seele; diese Quellen rannen durch sein Herz; dies Wälderrauschen kam aus seinem Innern; sein Körper hatte seine Grenzen verloren: Felsen und Tannen und Wiesen und Bäche und Asmus Semper waren alles eins geworden: ein einziger singender Lebensstrom. O, was für Gedichte sollten das werden! Er stieg durchs Ilsetal den Brocken hinan, und in seinen Ohren klang's von selber wie Gruß ans Vaterland:

Wohin die Füße schreiten
In nimmermüder Lust,
Dein Feld und Anger breiten
Sich weit in meiner Brust.

Geruhig steht mein Wille
Wie dieser Felsen Hang;
Durch meines Herzens Stille
Rinnt deiner Ströme Klang –

stockenden Schrittes, wie im Traume, die Augen überall, nur nicht auf dem Wege, ging er, nicht selten strauchelnd, von Schierke nach Elend, immer nach drei Schritten stehen bleibend, und während er auf einen moosüberwachsenen Felsenklotz starrte, den vor siebenhunderttausend Jahren Zyklopen mit brüllendem Lachen einander zugeschleudert, flüsterte die Bode – oder kam es aus den Tannen? –:

Ein Wasser ging im Waldesgrunde
– Es weilte still mein Bild darin –
Von Stein zu Stein, von Stund zu Stunde
Mit ewig gleichem Sang dahin.

Und rings zersprengte Felsenmauern
In altbemooster Einsamkeit –
Auf einem Felsblock sah ich kauern
Ergraut und stumm die tote Zeit – –.

Fünf Tage lang durften sie den Harz durchwandern – weiter reichte auch Globendorffs Reichtum nicht – aber in diesen fünf Tagen eroberte Asmus Semper ein größeres Reich als Cyrus der Perser und Alexander der Große. Heimat und Vaterland waren ihm größer und vertrauter geworden: höher ragten sie in den Himmel, tiefer griffen sie in das Herz.

Eine ganze Walpurgisnacht voll ziehender, webender, schwebender, tanzender, wirbelnder, werdender Gestalten im Kopfe, kehrte er heim – und am folgenden Tage begann wieder der Dienst mit neun Stunden und dreißig Korrekturen.


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