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Von Carla Piper und französischer Kunst.
Bei Carla Piper durfte man für den Champagner sehr hohe Preise zahlen, genoß dafür aber auch die Gesellschaft vorurteilsfreier Damen von zugänglichem Wesen. Die Unterhaltung dieser Damen war freilich im allgemeinen nicht eben geistig belebt; aber das beanspruchte Löwenclau auch an solchen Tagen nicht. Er hörte teilnehmend auf ihre ungenialsten Eingebungen, sang mit ihnen die uneigenartigsten Gassenhauer, steckte – er, der Schumann-Freund und Brahms-Bewunderer – ein Zehnpfennigstück nach dem andern in den schauderhaften Musikautomaten, tanzte dazu mit allem, was weiblich war, bis hinunter zum Aufwaschmädchen, und spendierte ihnen alles, was sie wünschten; sie durften Sekt trinken »à discrétion« – und die Kellner durften beste Importen rauchen. Er hatte das bei Künstlern oft zu beobachtende Bedürfnis, gelegentlich von den Höhen der Kunst hinabzusteigen in die Niederung und sozusagen wie ein richtiger Junge mit einem Fuß in den Schlamm zu treten. Er tat das schon aus Widerspruch gegen die offizielle Moral, die solche Menschen wie diese Damen verachtete, obwohl sie sie nicht entbehren konnte. Und es gab auch an solchen Tagen zwei Schönheiten an seinem Gehaben. Er fühlte den innerlichsten Drang, diesen Stiefkindern der Gesellschaft einen möglichst frohen Tag zu machen, und in dieses Mitgefühl mischte sich nichts von pharisäischer Selbstgerechtigkeit: er behandelte diese Damen genau so wie andere Damen, wie ein vornehm gesinnter Mann jedes Weib behandelt. Und das andere war, daß doch ganz von selbst die innere Distanz gewahrt blieb; sie nannten ihn nicht nur den Herrn Baron, sie empfanden und respektierten ihn auch als den ritterlichen Mann, der in diese Welt nur auf Besuch kam. Selbst die Matrone dieses Hauses, Carla Piper, deren berühmte Eigenart darin bestand, daß sie nach längerem Sektgenuß »à discrétion« höchst indiskret wurde und einen smarten Bankdirektor mit »Herr Kravattenmacher« und einen vielseitigen Advokaten als »Herr Rechts- und Linksanwalt« anredete, machte vor Löwenclau halt und würdigte sein Edelmannstum.
»Napoleon betrachtet vom Kreml aus das bren–nen–de Moskau!« schrie Löwenclau plötzlich, und Asmus fuhr aus seinem Sessel empor.
»Napoleon vor dem brennenden Moskau!! So hast du eben dagesessen!! Hahaaaa!!! Hast du gedichtet?«
»Nein!« lachte Asmus, »aber – vielleicht so etwas Ähnliches.« Er hatte längere Zeit den Lebensgefährten der Frau Carla Piper, sozusagen »Herrn Carla Piper«, betrachtet. Er stammte nach verbürgten Nachrichten aus sehr guter, ja bester Familie; man sprach von gräflicher Abkunft, und wenn man seinen Blick recht tief in die Vergangenheit seiner Züge bohrte, sah er wohl heute noch nach dergleichen aus. Er durfte still im Winkel sitzen und gute Zigarren rauchen, bekam auch gut zu essen und zu trinken; aber wenn ein Rest seiner aristokratischen Vergangenheit sich in irgend einem Widerspruch geltend machen wollte, dann fuhr ihm Frau Carla mit Nachdruck über den Mund.
»Was wünschen mein neunzackiger Herr Gemahl?« fragte sie dann liebenswürdig. Und zur Gesellschaft gewendet, fuhr sie fort: »Das ist nämlich mein Mann. Er soll mein Herr sein.«
Diesen Mann hatte Asmus sich lange betrachtet und war ihm seinen langen, langen Leidensweg schaudernd nachgegangen. Er war jetzt aufgesprungen und empfahl einen Lokalwechsel. Löwenclau war nur einverstanden unter der Bedingung, daß man ins Variété zur Yvette Guilbert gehe. Man ging also hin.
Frau Yvette Guilbert knotete sich ein dickes rotes Tuch um den Hals, setzte eine Ballonmütze auf und mimte einen Zuhälter und Meuchelmörder, der das Schafott beschreitet und seinen »prachtvollen Kopf« unter das Fallbeil legen muß. Das Publikum, das zu 95 Prozent natürlich nichts verstand, fand das damals schön und klatschte heftigen Beifall. Löwenclau das Kind war begeistert. Er haßte so leidenschaftlich das Herkömmliche, daß er sich verpflichtet fühlte, alles herrlich zu finden, was sich als neu und »modern« gab, und was Asmussen auch hieran immer noch erquickte, das war sein fröhlicher Draufgänger- und Bekennermut. Asmus war in künstlerischen Dingen ein äußerst duldsamer, gastlicher Mensch; in seinem Herzen waren viele Wohnungen. Darin wohnten verträglich nebeneinander Dante Alighieri und Fritz Reuter, Michelangelo und Ludwig Knaus, Johann Sebastian Bach und Jacques Offenbach. Er versuchte, sich zu überreden, daß an der Leistung der Frau Guilbert etwas wie Schönheit und Kunst sei; aber außer ihrer Vortragstechnik fand er nichts, was ihn dazu überreden konnte. Gewiß konnte die Kunst auch von Zuhältern und Mördern handeln, sie mußte es sogar; aber dann mußten doch wohl Grauen und Mitleid die alles beherrschenden Empfindungen sein; er konnte sich an dem Kopf eines Pariser Apachen nicht »ästhetisch delektieren«, besonders nicht zwischen Ballett-Divertissements und exzentrischen Clowns; er mußte sich immer sagen: Wenn hier ein Zuhälter und Mordbube im Theater sitzt, muß er sich als ein glorreicher Mann vorkommen, und wenn dergleichen gar von einem Weibe dargestellt wurde, so fand er es ausgetiftelt scheußlich. Was suchte diese Kunst, die im Schmutzigsten und Greulichsten einen raffinierten Kitzel fand, in Deutschland? Freilich: im damaligen Deutschland fand die Kunst einer Frau Guilbert das inbrünstigste Lob.