Otto Ernst
Semper der Mann
Otto Ernst

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LXIV. Kapitel.

Die Rechnung verschlechtert sich ganz erheblich.

Und dann kam der Tag, da Asmussens Mutter die Augen schloß. Seit Jahren wohnte sie schon wieder in Oldensund, wo ihr auch Kinder wohnten und wo sie dreißig Jahre eines sorgenreichen Glückes mit Ludwig Semper durchlebt hatte. Immer hatte sie mit Stolz erzählt, daß ihr Vater beim Dänen »Kommandier-Sergeant« – bitte: nicht ein gewöhnlicher x-beliebiger Sergeant, sondern Kommandier-Sergeant – gewesen sei. Eigentlich war sie ja gegen alle Autoritäten, und sonderlich gegen militärische; aber »Kommandier-Sergeant«, das war doch immerhin eine sehr beachtliche Charge. Von dieser Charge hatte sie ein bißchen geerbt; sie mußte regieren, mußte ein Kommando, ein eigenes Imperium haben, sei es auch noch so klein, und so baute sie sich in Oldensund aus tausend Erinnerungen, tausend Liederanfängen, tausend Weisheitssprüchen, tausend Spitzen-, Tuch- und Seidenresten, tausend Geranien und Fuchsien und ungefähr ebenso vielen »stärkenden« Tropfen und Salbenfläschchen ein eigenes Reich. Mit ihren Tropfen und Tränken hatte sie immer auch Hildens Kinder »stärken« wollen, und abwechselnd hatte sie festgestellt daß die kleine Leonarda notwendig Baldriantropfen, der kleine Wolfram unbedingt »Brustpulver« nehmen müsse usw.; aber in diesen Dingen kannte Frau Hilde keine Nachgiebigkeit. An allen guten Tagen kam jetzt Frau Rebekka, dreifach eingehüllt und mit einer stattlichen Auswahl von Medizinflaschen versehen, zu ihren Kindern und Enkeln, oder es kamen an guten und schlimmen Tagen Kinder und Enkel zu ihr. Wenn ihr Asmus dann von einem neuen Glück und Erfolg erzählen konnte – er durchkostete schon tagelang vorher die Freude, die die Nachricht ihr bereiten werde – dann sprach sie etwa, wie wenn die fünf Erdteile sich zu einem einzigen Staatswesen vereinigt und ihrem Sohne die Präsidentschaft – nicht die Königskrone; gegen Fürsten und Pfaffen war sie noch immer heftig entbrannt – also: die Präsidentschaft angeboten hätten. Und wenn ihr Sohn irgendwo recht gründlich geschmäht und angepöbelt worden war, dann sprach sie, als wäre er nun dreimal zum Tode und 700 Jahren Ehrverlust verurteilt, und der Kummer, den sie dieser alten Frau verursachten, war der einzige Giftpfeil, mit dem seine Feinde ihn wirklich persönlich trafen. Und wenn er sich zur Wehre gesetzt und sich mit einem besonders frechen Verleumder tatkräftig angelegt hatte, dann rief sie, indem sie ihm mit den Knöcheln der geballten Faust zärtlich gegen die Stirn pochte: »Du Dullkopp, bis du all wedder losgohn? Du bis dat reine Pulverfatt!« Und wenn er dann mit einem heimtückischen Lächeln andeutete, daß er diesen »Tollkopf« möglicherweise von einer gewissen Frau geerbt habe, dann war sie von dieser empörenden Unterstellung grenzenlos überrascht. Aber schon nach einer Minute, wenn sie auf die neueste Politik zu sprechen kam, konnte man ihr Temperament in flagranti ertappen. Den Regierungsorganen des Deutschen Reiches erging es verwettert schlecht, und da Asmus einmal mit dem Reichskanzler gesprochen und mit ihm Briefe gewechselt, ihn auch wohl einmal schüchtern gegen sie verteidigt hatte, so schloß sie ihre Rede gewöhnlich mit der Conclusio:

»Goh mi man af mit din'n Reichskanzler; dee mokt sick dor'n scheune Politik torecht!«

Und wir können es als einen Beweis für den pädagogischen Instinkt unseres Schulmeisters ansehen, daß er es nicht versuchte, eine 86jährige Frau zu bekehren und ihr die Notwendigkeiten eines modernen Staatswesens auseinanderzusetzen. Er lenkte dann auf einen anderen Gegenstand ab, z. B. auf ihre Blumen oder auf ihre Enkel oder auf ihre Krankheiten; er wußte, daß es ihr großes Vergnügen machte, zu klagen. Zwar zeigten sich wirklich Gebrechlichkeiten des Alters; aber sie hinderten sie nicht, immer wieder durch die Stube zu trippeln und zu singen:

»Nach Sevilla, nach Sevilla,
Wo die letzten Häuser stehen –«

oder:

»Fahr mich hinüber, junger Schiffer,
Nach dem Rialto fahre mich!«

oder als Lucrezia Borgia:

»Um stets heiter und glücklich zu leben,
Will ich, Freunde, die Lehre euch geben:
Trinket, küsset, verbannet die Sorgen!
Nur die Gegenwart nehmet in acht!«

oder – und das rührte Asmussen immer ganz seltsam ans Herz, weil er es schon als winziges Bübchen von seinem nun längst dahingegangenen Vater gehört hatte –:

»Ei du kleine Klapperschlange,
Du machst mir das Herz so bange;
Du hast mich in deinem Netz
Wie die span'sche Lola Montez!«

Oder sie sang »Des Pfarrers Tochter von Taubenhain«, ein Lied, das man in ihrer Kindheit auf Jahrmärkten zur Drehorgel und zu Mordgeschichtsbildern gesungen hatte und in dem Asmussen als kleinem Knaben bei der Stelle:

»Es schleicht ein Flämmchen am Unkenteich,
Das flimmert und flammert so traurig.
Da ist ein Plätzchen, da wächst kein Gras;
Das wird von Tau und von Regen nicht naß;
Da wehen die Lüftchen so schaurig« –

immer ein Schauder über den Rücken gelaufen war. So blätterte sie, wenn sie singend hin- und hertrippelte, das Buch seiner Kindheit vor ihm auf, das im großen und ganzen ein Liederbuch gewesen war.

Ihr Körper mußte schier unverwüstlich sein, da er durch alle Tropfen und Tränke, Pulver und Pillen nicht unterzukriegen war, oder es ging Frau Rebekken wie der Türkei: wie die nur noch bestand, weil die europäischen Mächte sich über den Raub nicht einigen konnten, so lebte Frau Rebekka vielleicht nur, weil die tausend Medikamente miteinander um die Beute stritten. Aber zuletzt wollt' es mit dem Gehen nicht mehr gehen, und Asmus und Hilde und ihre Kinder fuhren mit Pferden, die sänftiglich einhergingen, ein letztes Mal mit ihr ins Freie, heiter und bang. Und dann drohte das Augenlicht zu schwinden. Da kam eine barmherzige Erkältung und streckte sie auf das letzte Lager, und sie starb »alt und des Lebens satt« wie Isaak, der Erzvater. Um 19 Jahre hatte sie ihren Lebensgefährten überlebt, trotz allen Glücks und aller Freuden, die eine Mutter erleben kann, ein trauriges Los. Sie hatte nie an ein Fortleben nach dem Tode geglaubt und hatte sich doch immer danach gesehnt, an ihres Mannes Seite zu ruhen. Gleich nach seinem Tode hatte sie damit begonnen, von den kargen Groschen ihrer Armut zu sparen, bis sie einen Platz an seiner Seite erwerben konnte. Liebe ist stärker als alles Denken und Meinen, und was auch des Menschen Gedanken sein mögen, sein Herz und sein Wille langen über alle Gräber hinaus. – –

Und als im Sommer darauf Asmus und die Seinen wieder einmal an der Nordsee die Brust dehnten, auf der Insel Sylt, dort, wo im Westen die Sonne jeden Abend in neuen Lichtoffenbarungen und Feuerpsalmen stirbt und im Osten der Mond das milde Wattenmeer wie ein heimlicher Buhle besucht, da wurde Asmus aus beiden Himmeln gerissen durch eine Depesche seines Freundes Globendorff:

»Heute morgen um 10 Uhr ist Löwenclau gestorben.«

An seinem 65. Geburtstage hatte Asmus ihn zum letztenmal gesehen. Die Universität seiner Heimat hatte ihn, möglichst spät, zum Ehrendoktor ernannt; es war gerade noch Zeit gewesen, der Philologen-Fakultät diese Ehre zu sichern. Asmus hatte ihm die besten Zigarren gebracht, die er finden konnte, und Löwenclau hatte sich kindlich gefreut.

»Siehst du: dazu freu' ich mich!« hatte er gerufen. »Du schickst kein Telegramm, du bringst Zigarren! Und was für Zigarren! Jeden Abend werd' ich mir eine davon anzünden und an dich denken!«

Und dann waren sie lange in seinem Garten – seinem Garten; denn auch für ihn waren endlich die Tage der Ernte gekommen, und er stand auf eigenem Grund und Boden – auf- und abgewandelt und hatten in wehmütigem Gespräch das Andenken des Prinzen von Schonndorf gefeiert. Beim Abschied hatte Asmus gesagt: »Den Siebzigsten feiern wir wieder zusammen. Dann wirst du ›Professor‹ werden.«

Aber Löwenclau hatte nicht gelacht, sondern nur wenig gelächelt, und es war ein zweiflerisches und zweifelhaftes Lächeln gewesen.

Und dann hatte er einem seit langem gehegten Verlangen gehorcht; er hatte sich mit den Seinen auf die Reise gemacht und hatte die Schlachtfelder von 1870 und 71 wiedergesehen. Noch einmal genoß er in einem tiefen Erinnerungstrunke das größte Glück seines Lebens: Soldat zu sein. Noch einmal stand er dort, wo er, ein wilder Wagehals, ein Draufgänger von Gottes Gnaden, von seinen Soldaten vergöttert. mit Lachen allen vorangestürmt war, wo er mit halbgeheilten Wunden den Ärzten ausgerissen war, um wieder in die Feuerlinie zu kommen; noch einmal kamen über die weiten Felder Trommeln und Pfeifen gezogen und durchwirbelten sein Herz; noch einmal vernahm er im Geiste sein Lieblingssignal:

»Daß dir, mein Vaterland, es Gott bewahre,
Das Infanterie-Signal zum Avancieren!
Zum Sturm, zum Sturm! Die Hörner schreien! Drauf!
Es sprang mein Degen zischend aus dem Gatter.
Und rechte und links, wo nur ein Flintenlauf,
Ich riß ihn mit ins feindliche Geknatter.
Lerman, Lerman! Durch Blut, Gewehrgeschnatter,
Durch Schutt und Qualm! Schon fliehn die Kugelspritzen.
Der Wolf brach ein, und matter wird und matter
Der Widerstand, wo seine Zähne blitzen.
Und Siegesband umflattert unsre Fahnenspitzen.«

Aber über die weiten Felder kam auch ein tückischer Gifthauch gezogen und drang bis in seine Lunge. Eine Lungenentzündung fiel ihn an, und nach acht Tagen schon war Dietrich von Löwenclau vom zeitlichen zum ewigen Leben hinübergeschritten.

Das kam nun auch nicht wieder, das, was dieser Mann gewesen war. Ein Sonnenherz war jäh erloschen. Ein preußischer Offizier mit einer mutigen und wissenden Kinderseele, ein Held mit einem singenden Schwert war für immer geschieden. Dieser Tod war ein bleibender Schmerz, das wußte Asmus. Es gibt nicht zwei solcher Begegnungen in einem Leben.


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