Otto Ernst
Semper der Mann
Otto Ernst

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XXVII. Kapitel.

Der verschleierte Prophet.

Aus dem erhabenen Gottesfrieden des Pestalozzischen Herzens trat Asmus wenige Tage darauf in die wüste Schlägerei der Nietzscheschen Philosopheme; denn nun ging er daran, den verschleierten Propheten der »Moderne« zu lesen. Gleich bei den ersten Seiten, die er las, empfand er etwas wie einen Faustschlag in die Gegend seines Herzens und wie ein körperliches Zurücktaumeln. Was das Gemeinsame aller großen Seelen und Geister war: die offene, fragende, sehnende und forschende Hingabe des Herzens an das Große und Ganze der Welt, das war hier nicht; hier war ein unaufhörlich und wild gestikulierender Mann, der immer nur das eine Wort schrie: Ich, ich, ich, ich! Dieser zweifellos geniale Mann wollte nicht die Welt und die Menschheit sehen; er wollte überhaupt keine Tatsachen sehen; er wollte nur etwas Neues, Unerhörtes und Verblutendes aus seinem engen und armen Herzen herausspinnen. Es gibt Revolutionäre, die nur deshalb rebellieren, weil sie nicht Könige sein können. Dieser Mann rebellierte gegen alle großen Gedanken und Menschen der Geisterwelt, weil er nicht Geisterkönig sein konnte; er war ein Luzifer, der aus den Elementen Haß und Neid ein Gegenstück zur Gotteswelt backen wollte und so nur eine »Spottgeburt von Dreck und Feuer« zuwege brachte. Er wollte alle Werte der Menschenwelt vernichten, damit sie von ihm, dem Antichristen, dem neuen Heiland, dem Überwinder Gottes, einen neuen Wert empfange, und als der Wechsel verfallen war, zahlte er mit Seifenschaum.

Das Bild dieses Mannes gab eine Erklärung für seine Philosophie: ein Paar gutartiger, aber tiefkranker Augen über einem gewaltsamen Schnauzbart.

Sicher hatte er die Welt nicht betrügen wollen; aber krank war er gewesen von Anbeginn und bis in die Wurzeln seines Wesens.

Wie Asmussen die herzlose Temperaments- und Blutsphilosophie dieses Schriftstellers abstieß, so stieß ihn die skrupellose Wortnebelei seines pompösen, raffinierten Agitatorenstiles ab. Dieser ursprünglich gewiß ehrliche Denkwille verlor, wenn der Wortrausch ihn umnebelte, die Redlichkeit des Denkergewissens, wie sie deutschen Denkern eigentümlich ist. Wollte man ihn nur als Dichter nehmen – gut; ein Dichter hat das Recht, nur anzudeuten; allzu grelle Klarheit kann sogar zum Mangel an ihm werden; der Denker aber muß genau das sagen können, was er gedacht hat; kann er es nicht, so hat er's eben nicht gedacht, und er täuscht nur vor, daß er's gedacht habe, wie Schopenhauer mit so erquicklicher Strebe ausführt.

»Such Er den redlichen Gewinn:
Sei Er kein schellenlauter Tor!
Es trägt Verstand und rechter Sinn
Mit wenig Kunst sich selber vor.«

Dies Goethewort war Asmussen eigentlich immer ein oberstes Gesetz für Dichter und Denker gewesen, sicherlich für Denker. Auch die Psychologie dieses Denkers, sein bestes Teil, beschränkte sich fast ausschließlich aus Andeutungen; er leuchtete mit roter, qualmender Fackel in Seelenabgründe hinein; aber er stieg nicht forschend hinab, und dieser Tiefsinn schien Asmussen für einen so bevorzugten Geist wie Nietzsche zu billig.

Dieser Philosoph verherrlichte den Willen zur Macht und fragte nach keinem Recht als nach dem des Stärkeren. Da Asmussens Leben und Glauben auf der Heiligkeit des Rechts ruhte, so war der Gegensatz vollkommen.

Er sollte übrigens bald nach dieser Zeit erfahren, daß die »neue« Lehre schon auf die unmündige Jugend übergegriffen habe. Er gab zwei Primanern des Gymnasiums Unterricht im deutschen Aufsatz, und da sie in der Klasse von Machiavelli gehört hatten, so wählten sie, als er ihnen das Thema freistellte, den Machiavelli. »Gut,« sagte Asmus, »schreiben Sie über Machiavellis Buch vom Fürsten,« und machte sie auf des großen Friedrich »Antimachiavell« und auf Rankes und Macaulays Verteidigung des Italieners aufmerksam. Er erwartete von deutschen Jünglingen eine flammende Verurteilung des Machiavellismus und erhielt zu seiner größten Überraschung zwei unbedingte Verherrlichungen des skrupellosen Staatsmannes weit über Ranke und Macaulay hinaus in allerdings wenig ergötzlichem Stil. Als er ihnen seine Verwunderung aussprach, meinten sie, ja, das sei doch die einzig richtige Politik, nicht nur für das damalige Italien, sondern für alle Zeiten und alle Länder. Nach Herrschaft strebe doch jeder Mensch und müsse auch jeder Staat streben, besonders Deutschland, und die Wahl der Mittel zur Macht sei ganz belanglos; das sage doch auch Nietzsche.

»So so,« sagte Asmus, »Sie haben Nietzsche gelesen?«

»Ja, natürlich,« meinten sie.

»Nun, meine Herren,« sagte Asmus lächelnd, »wenn die Herrschaft Ihr höchstes Ideal ist, dann will ich Ihnen einen Rat geben. Suchen Sie vor allen Dingen eine möglichst unumschränkte Herrschaft über Ihre Muttersprache zu gewinnen. Ihre Aufsätze lassen diese Herrschaft leider noch immer vermissen.«


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