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September 1913 bei Hermann Sudermann in Blankensee bei Trebbin-Berlin. Wir Männer saßen mit unserm Wirt in der Halle, rauchend, plaudernd, dieweilen die Frauen im Garten lustwandelten. Im Plaudern fiel das Wort ›Zufall‹, man sprach von seiner Bedeutung, seiner entscheidenden Rolle im Leben eines Jeden, und ungewollt erzählte einer nach dem andern seinen eignen merkwürdigsten Zufall. Sudermanns Geschichte war eine ganze fertige seltsame Begebenheit: wie er einst mit 26 Jahren seine Handschrift der ›Frau Sorge‹ auf einer Reise zwischen Ostpreußen, wo er seinen Roman geschrieben, unterwegs verloren und nach zwei Tagen unter den merkwürdigsten Umständen bis auf einige Blätter wiedergefunden, – er erzählte die tolle Geschichte mit hinreißender Anschaulichkeit. – Die Andern folgten mit ihren Zufällen, deren mancher an die dunkle Grenze zwischen Wirklichkeit und Jenseits streifte. Dann erzählte ich mein Erlebnis von zwei Menschenbahnen, die sich einmal, ein einzigmal an einem Punkte berührten, obwohl die Wahrscheinlichkeit wie Eins zu Milliarden war.
Eine ganz einfache Geschichte, vielleicht eine für Mathematiker, die berechnen können, welche Wahrscheinlichkeit für das Zusammentreffen von zwei Menschen unter 1500 Millionen an einem Ort von Hunderttausenden auf Erden bestehen, und zwar von zwei Menschen gleichen Namens, sonst aber ohne irgendwelche menschliche Beziehung.
Vor 9 Jahren, so erzählte ich 1913, im September 1904 war ich von Wien nach Zell am See gereist, wo ich mich zwei Tage aufhalten wollte. Mein erstes Geschäft nach der Ankunft war, zum Zeller Postamt zu gehen, um meine nachgesandten Postlagerbriefe abzuholen. Ich reichte dem Postfräulein am Schalter meine Karte; sie nahm, las und stutzte merklich. Dann: ›Vor einer Viertelstunde sind Ihre Briefsachen abgeholt worden.‹ – ›Abgeholt? Von wem? Wie konnten Sie?‹ – ›Von einem Herrn, der mir seine Karte mit Ihrem Namen gab.‹
›Haben Sie die Karte noch?‹
›Nein, ich gab sie ihm mit seinen Postsachen zurück.‹
›Was stand auf der Karte für ein Name?‹
›Genau derselbe wie auf Ihrer Karte; aber seine Karte, dessen erinnere ich mich bestimmt, war anders gedruckt; sie lautete genau wie Ihre, aber anders gedruckt.‹
›Auch Eduard?‹ – ›Ja.‹ – ›Auch Professor, auch Dr.?‹ – ›Ja, genau wie auf Ihrer Karte.‹
Ich stand angedonnert da, und das Postfräulein wußte auch nicht, wie sie sich den Vorfall erklären solle. Wir stimmten überein, ein Betrug sei nicht beabsichtigt worden, ›der Abholer, ein Mann in meinen Jahren, im Reiseanzug wie ich, mit einem Kneifer wie ich, Vertrauen erweckend wie ich, habe nicht im mindesten den Eindruck eines Unredlichen gemacht, habe die Briefschaften uneröffnet in die Brusttasche gesteckt und sei eilig davongegangen, wahrscheinlich zum Bahnhof.‹
Ich zum Bahnhof: soeben war der Zug nach Innsbruck abgefahren, die Bahnsteige waren leer.
Was blieb mir übrig, als mich ins Unabänderliche zu fügen und auf eine Lösung des Rätsels bei meiner Rückkehr nach Berlin zu warten.
Am nächsten Tage bekam ich Postsachen am Zeller Schalter, so noch am übernächsten; dann reiste ich nach Wien zurück, um dort bald nach Berlin und beim Betreten meines Arbeitszimmers fiel der Blick sogleich auf einen großen dicken Brief mit dem Poststempel Dresden. Ich öffnete ihn zuerst aus einem Vorgefühl: Aha! – und siehe da: wohl an 10 Briefe und Postkarten, alle mit der Bezeichnung meines Berliner Postamts: ›Nachsenden nach Zell am See, Österreich, postlagernd‹ lagen darin, obenauf ein offner Brief: ›Sehr geehrter Herr Professor, durch einen seltsamen, ja unbegreiflichen Zufall wurden mir am Postschalter in Zell am See nicht nur die für mich, sondern auch die für Sie bestimmten Briefsachen ausgehändigt. Ich sende sie Ihnen umgehend zurück, nachdem ich aus der ursprünglichen Adresse festgestellt habe, wo Sie wohnen. Hochachtungsvoll Professor Dr. Eduard Engel.‹
Ich hatte meine Briefe, aber wer mein Namensvetter in Dresden war, erfuhr ich erst nach mancherlei Erkundungen: ein angesehener Tonkünstler, Gesangslehrer, Stimmbildner. Hätten er und ich Wilhelm Müller geheißen, so wäre die Sache etwas wahrscheinlicher gewesen; aber Engel und Eduard, und Professor und Doktor gar –? Die Lebenskreise zweier Menschen hatten Jahrzehnte hindurch völlig getrennt von einander ihre Bahnen beschrieben, nichts konnte sie zur Berührung bringen; da verlegen diese zwei Menschen die Mittelpunkte ihrer Kreisungen für kurze Zeit weitweitweg: nun berühren sie sich an einem abgelegenen Punkt für eine Minute und durchfliegen dann wieder für immer ihre eignen Bahnen.
Sudermann hatte seinem ans Wunder grenzenden Zufallserlebnis schließend hinzugefügt: Kein Erzähler dürfte solche Geschichte seinen Lesern zumuten. Wir einigten uns, nachdem jeder sein Wundererlebnis vorgetragen, in dem ja nicht neuen Satze, der am kürzesten von den Engländern geprägt worden: › Truth is stranger than fiction.‹ – Wahrheit ist seltsamer als Dichtung.
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