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Dieser Abschnitt gehört trotz seiner menschenreichen Überschrift zu den ›Dingen‹, denn er handelt überwiegend von einer Sachfrage: dem Wohnsitz des Odysseus; die nachgeborenen Menschen selbst, auch ich, sind Beiwerk.
Der Roman von der Heimkehr des Odysseus spielt zum größern Teil in dessen Inselreich Ithaka. Nun kennen wir eine Ithaka heißende Insel des heutigen Griechenlands, von der feststeht, daß sie Ithaka geheißen, solange es eine schriftlich beglaubigte Geschichte gibt, also seit etwa zweieinhalb Jahrtausenden. Nie in geschichtlicher Zeit hat die Insel anders geheißen als Ithaka: wie konnte da überhaupt eine Ithaka-Frage entstehen? Vernünftiger Weise nicht, und für die Gelehrtenwelt der alten Griechen hatte es nie eine gegeben; auch nachmals, noch tief im 19. Jahrhundert, nicht, bis eines Tages ein Deutscher Professor diese Streitfrage, eine richtige › Querelle d'allemand‹, unter die Gelehrten warf, indem er, gegen Ende der 60er Jahre, nach einem flüchtigen Besuch auf Ithaka schrieb: Ich habe nichts gefunden, was mit Homers Angaben stimmt; also hat der Dichter seinen Schauplatz nicht gesehen, hat ihn frei erfunden, ihn willkürlich in eine ihm unbekannte Insel verlegt. Und da Griechenland damals sehr selten von Deutschen bereist wurde, Ithaka schon gar nicht, so galt für fast zwei Jahrzehnte die Insel Ithaka als wirklicher Schauplatz der Odyssee für abgetan. Ein Deutscher Professor, ein Altphilologe – damals sehr berühmt, heute spurlos vergessen –, hatte gesprochen, die › Germania docta‹ hatte entschieden, die Sache war erledigt –: Homer hatte seinen Schauplatz aus dem blauen Dunst geschaffen, Ithaka nie betreten, denn nichts stimmte, so sagte der Deutsche Professor.
Hercher hat er geheißen, und als ich 1886 zuerst Ithaka besuchte, erinnerten sich seiner alle ältere Leute, besonders der Schulmeister und der Bürgermeister. Und sie sagten mir: Nichts hat er gesehen, fragen konnte er auch nicht, denn er sprach nicht Griechisch – Hercher war Professor des Griechischen! –, sonst hätten wir ihm gern alles gezeigt. Er war ja nur ein paar Stunden hier, suchte nach einer Nymphenhöhle, fand sie nicht und fuhr noch am selben Tage zurück nach Sami (auf Kefallonia), von wo er im Segelboot gekommen war.
Es gibt viele sehr gründliche Deutsche Professoren, aber es gibt auch einige andre, und Hercher war einer von den Andern. Um die zahlreichen zwingenden Übereinstimmungen zwischen Wirklichkeit und Odyssee kümmerte er sich nicht; sie zu finden war er, zumal bei seiner Sprachunkenntnis, unfähig. Aber die Nymphengrotte, die mußte da sein, und war die nicht da, dann war das mehrtausendjährige Gerede von Ithaka, dem Schauplatz der Odyssee, dummes Zeug, und es lohnte nicht, die Insel zu besuchen.
Man stelle sich vor: eine Grotte am Meeresufer, also ein ausgehöhltes Stück der Felswand, in einem Erdbebengebiet ersten Ranges, wo kaum ein Monat ohne Erderschütterung verläuft – auf einer der Homerischen Inseln, Zakynthos (Zante), hat das Erdbeben von 1893 Riesenfelsen am Meeresufer abgesprengt –, da suchte Hercher die von Homer beschriebene Grotte, und da er diese, diese allein von allen Schauplätzen der Odyssee, nicht fand, nach 3000 Jahren voll Erdbeben und Wogenprall, nicht unversehrt fand, garnicht fand, so war für ihn die Sache klar.
Als ich 1886 Ithaka betrat und drei Tage verweilte, konnte ich die Bewohner in ihrer Sprache befragen, sie konnten mir antworten, mich führen, mich belehren. Was ich gesehen, teilte ich in meinen ›Griechischen Frühlingstagen‹ mit; mein Urteil lautete: Ithaka ist Ithaka, der Dichter der Odyssee hat die Insel genau gekannt und hat nach dem Augenschein geschildert. Dieses Urteil war durchgedrungen; es war bestätigt und vertieft worden durch das Werk des besten Kenners der Insel, des Erzherzogs Ludwig Salvator, über Ithaka.
Handelt es sich etwa um eine fernabgelegene bloße Gelehrtenfrage? Wie seltsam: grade um das anziehendste Beweisstück für die Art, wie Dichter dichten, das älteste und wertvollste, hat sich die neue Literaturwissenschaft, die durch Scherer angeblich auf die einzig richtige Bahn gelenkte, so gut wie garnicht gekümmert. Scherer forderte, man solle alles vom Dichter Erlebte erforschen, dann halte man das Geheimnis der dichterischen Zeugung in der Hand. Dies ist falsch, denn die dichterische Zeugung wird für die Wissenschaft immerdar ein unerforschbares Geheimnis bleiben. Dennoch leuchtet ein: da wir von Homer dem Menschen und Dichter so gut wie nichts, ehrlich gesagt garnichts mit Sicherheit wissen, so bietet uns das Vergleichen des Inhalts der Odyssee mit dem noch vorhandenen Schauplatz Ithaka so reichen Aufschluß über sein Menschenleben und Dichterwesen zur Zeit des Aufkeimens und Entstehens seines herrlichen Gedichtes von Odysseus, wie keine andre Forschung ihn uns je verschaffen kann und wird. Wenn wir mit Sicherheit feststellen können, daß alle wichtigste Begebenheiten und mündliche Musterungen in der Odyssee mit der örtlichen Wirklichkeit übereinstimmen, so gewinnen wir ein Bild von Homers Dichterwesen, wie es selbst die alten Griechen nicht besaßen, weil sie diese Betrachtungsweise den Dichterwerken gegenüber nicht kannten. Ein schlagendes Beispiel wird dies auch dem Laien klarmachen.
Homer hat Ithaka genau gekannt, hat es zu Lande und zu Wasser durchforscht, die Insel umsegelt, wie ein Dichter gesehen und im Sehen sogleich geschaffen. Auf einer seiner Fahrten im wohlgebordeten Schifflein hat er unweit vom nordwestlichen Felsenufer der Insel, über dem die uralten Trümmer der Königsburg liegen, ein Kalkinselchen gesehen, Asteris (Sternlein) nannten es seine ithakischen Gastfreunde. Schon trug er sich mit dem großen Gedicht von den Irrfahrten des Odysseus, da gewahrte er der ›Polis – dem noch heute so genannten – Städtchen, Hauptstädtchen, gegenüber jenes Sterninselchen. Ich war nicht dabei, ich weiß nichts Sicheres von der dichterischen Zeugung in Homers Hirn beim Anblick der Asteris; wohl aber weiß ich aus eignem Erleben, daß, nicht wie, aus einem Blick auf ein totes Ding im Dichter eine lebendige Gestalt und eine bewegte Handlung mit der Schnelligkeit des Blitzes aufschießen kann. Welche Mausefalle stellte solch Inselchen dar für ein nach der Polis segelndes Schiff! Wie leicht konnten sich Feinde, Übeltäter – ha, die Freier! – hinter jenem Inselchen verbergen und plötzlich vorbrechend das schwachbemannte Boot des Odysseus, nein Telemachs, überfallen! Diese Wahrnehmung des Dichters Homer war der Keim der Stelle im 15. Gesang (Verse 28 ff.), wo Pallas Athene ihrem Schützling Telemach in schlummerloser Macht verkündet:
Wachsam lauern auf dich die tapfersten unter den Freiern
In dem Sunde, der Ithaka trennt und die bergige Samos,
Daß sie dich töten, bevor du die Heimat wieder erreichest – –
Wenn du das nächste [vom Süden heransegelnd, also das südlichste] Gestade von Ithaka jetzo erreicht hast,
Siehe dann sende zur Stadt [nach Polis im Nordwesten] das Schiff und alle Gefährten
Und du gehe zuerst dorthin, wo der treffliche Sauhirt
Deine Schweine hütet, der stets mit Eifer dir anhängt.
Es stimmt, es stimmt, denn nahe dem südlichsten Gestade liegt der Korax-Berg, der noch heute so heißt. Dort im Dunkel fließt der verborgene Quell, der › melan hydor‹ (schwarzes Wasser) für die Schweine spendet. Aus ihm, der noch heute Melánidro heißt, mit zwei aufbewahrten Worten aus der Homerischen Zeit, die es im Neugriechischen nicht mehr gibt, aus ihm habe ich getrunken, – es stimmt zum Verblüffen, zum Schreien.
Und dann die Bucht des Phorkys, wo die phäakischen Schiffer ihren Gast Odysseus ans Land tragen, ohne daß er erwacht, weil jener Hafen so windstill ist, daß die Schiffe unangebunden am Ufer liegen. Aber jener Hafen ist ja da, ich und meine Frau sind an seinem Gestade gelustwandelt; unangebunden, ohne Anker, schaukelten die Schiffe und Schifflein, nur an der Leine, die um einen im seichten Wasser liegenden gekerbten Stein geschlungen war:
Phorkys, dem Greise des Meers, ist eine der Buchten geheiligt,
Gegen der Ithaker Stadt [nicht die Polis, den Königssitz, sondern die Einwohnerstadt],
wo zwei vorragende schroffe
Felsenspitzen der Reede sich an der Mündung begegnen.
Diese zwingen die Flut, die der Sturm laut brausend heranwälzt [außen, vom Norden und Osten wehend],
Draußen zurück, inwendig am stillen Ufer des Hafens
Ruhn unangebunden die schöngebordeten Schiffe
Wir standen in dem Hauptstädtchen Wathy (Βαθύ = Die Tiefgelegene) am Ufer, wir gewahrten, aufs Meer hinausblickend, die zwei vorragenden schroffen Felsenspitzen, die den Blick, den Sturm, die Flut absperren; wir lasen die Verse Homers, sahen einander an und lachten laut auf, fröhlich wie bei einer kostbaren Entdeckung: hier um uns, vor uns, dort abgegrenzt lag die Erd- und Meeres-Landschaft, genau so wie sie der älteste und größte Erzähler der Weltliteratur vor 3000 Jahren gesehen und dann beschrieben hat. Einen Hafen, wie Homer ihn schildert, gibt es in ganz Griechenland nur in Ithaka; die Einzigkeit dieses Hafens, dieses Gestades hatte sich ihm aufgezwungen, und als er die sanft schaukelnden Schiffe unangebunden sah, da durchzuckte ihn der Strahl: Hier, nur hier kann ein nach langer Seefahrt fest Schlafender unerwacht gelandet werden.
Und die zwei draußen auf der Reede einander begegnenden Felsenspitzen, Felsennasen? Hat der Leser selbst nicht schon an die zwei ›Nasen‹ am Vierwaldstättersee gedacht? Nur daß die Nasen auf Ithaka noch enger gegenüberliegen, den 5turm und die Flut völlig absperren, wiederum etwas so Einziges, daß es dem Dichter auffallen, ihn zum Hineinziehen in seine Dichtung, nicht als Beiwerk, reizen mußte.
Soll ich weiter ausführen, wie entzückend, wie beglückend uns die Wirklichkeit das Verständnis eines großen Dichterwerkes eröffnet? Mir ist keine zweite Dichtung höchsten Wertes bekannt, bei der wir aus des Dichters Gesichten so unmittelbar seine Werkstatt erklären können. Und dieses ganze wundervolle Gebiet der echten Literaturforschung, der wahren Homer-Wissenschaft ist bis jetzt so gut wie unbeachtet, unbenutzt geblieben; denn ich zähle natürlich nicht mit, ich bin kein festbesoldeter Beamter der Wissenschaft, sondern nur ein nebenher lustwandelnder Liebhaber, der sich mit solchen Dingen aus Liebe abgibt. Oh ich könnte ein Büchlein schreiben: ›Wie die Odyssee entstand‹, nach dem Muster meiner Untersuchung ›Wie der Othello entstand‹; aber ich muß doch nicht alle Bücher schreiben, die seltsamer Weise noch nicht geschrieben sind, obwohl es hohe Zeit ist, daß sie geschrieben werden.
*
Statt dieses notwendigen Buches wurde ein höchst unnützliches und irreführendes geschrieben. Das ging so zu. Professor Wilhelm Dörpfeld, der sehr verdienstvolle Baukundige, dann Ausgräber und Erklärer von altgriechischen Trümmern, eifriger Leser Homers, stieß eines Tages auf die jedem Schüler von der Sekunda her bekannte Stelle in der Odyssee (9, 21-26), wo der königliche Held seine Heimatinsel den lauschenden Phäaken beschreibt:
Ithakas sonnige Höhen sind meine Heimat, in dieser
Türmt sich Neritons Haupt mit rauschenden Wipfeln, und ringsum
Dicht aneinander gesät, sind viele bevölkerte Inseln,
Same, Dulichion und die waldbewachsne Zakynthos.
Ithaka liegt in der See am höchsten hinauf an die Feste,
Gegen den Nord, die andern sind östlich und südlich entfernet.
Es stimmt, es stimmt, hier wie überall. Für Dörpfeld stimmte es nicht: ihm waren die drei von Homer, von Odysseus, genannten Inseln außer Ithaka falsch benannt, also nahm er aus eigner Machtvollkommenheit folgende Vermehrung und Vertauschung Homerischer Inseln vor: Dulichion war die heutige Kefalonia; Sami war angeblich, nach Dörpfelds Willkür, der Homerische Name für die heutige Insel Ithaka, Zakynthos ist Zante. Aber wo war dann die Insel Ithaka, der Schauplatz der Odyssee? Wenn die 2500 Jahre hindurch nur Ithaka genannte heutige Insel Ithaka zu Homers Zeiten nicht Ithaka, sondern Sami hieß, wie Dörpfeld, er allein unter allen erdbewohnenden Menschen seit 2500 Jahren, willkürlich behauptete, ohne den kleinsten geschichtlichen Beweis, ohne die leiseste Spur bei irgendeinem alten Schriftsteller, einzig aus der Tiefe seines Gemütes behauptete, – dann allerdings mußte für die nach ihm Ithaka heißende, von Homer gemeinte und geschilderte Heimat des Odysseus eine andre Insel entdeckt, ernannt werden. Dieses Kunststück seiner Willkür brachte er so fertig: er erfand die Insel Lewkas als das Reich des Odysseus und erklärte: Lewkas habe zur Zeit Homers Ithaka geheißen, Lewkas sei des Odysseus Ithaka.
Für Dörpfelds unfaßbare Unwissenschaftlichkeit, um das schonendste Wort zu wählen, stehe hier nur dieser eine Beweis von vielen. Wer den Schauplatz einer Dichtung bestimmen will, fragt zuerst: Was sagt der Dichter von ihm?, wie beschreibt er ihn? Es gibt eine allbekannte Beschreibung Ithakas in der Odyssee, sie ist jedem Schüler bekannt; von ihr muß jeder ausgehen, der über die Frage ›Ithaka oder Lewkas? die Feder ansetzt. Der Kaiser wird sich ihrer von seiner Kassler Schülerzeit her erinnern. Man schämt sich, von ihr besonders zu sprechen, weil sie die ganze Frage in sich schließt. Solchen Wert legte der Dichter auf seine Beschreibung der höchst eigentümlichen Boden- und Lebensverhältnisse Ithakas, daß er seine Verse an verschiedenen Stellen wiederholt. Jene Verhältnisse wichen ab von allem, was er sonst auf seinen Wanderungen gesehen; er hatte sich höchlich darüber verwundert, konnte sich nicht genug tun in seiner Schilderung grade dieser seltsamen Insel. Am wirksamsten ist die Stelle im 4. Gesang der Odyssee (589-608); da hat der Dichter einen reizenden Anlaß erfunden, sein Erstaunen über den völligen Mangel an Ebenen auf Ithaka, zum Unterschiede von allen andern Inseln, in Dichtung umzusetzen. König Menelaos will dem ihn besuchenden Kronprinzen Telemach zum Abschied ein Rossegespann samt einem Wagen schenken. Doch der verständige Jüngling Telemachos sagte dagegen:
Hast du mir ein Geschenk bestimmt, so sei es ein Kleinod,
Rosse nützen mir nicht in Ithaka, darum behalte
Selber diese zur Pracht,
du beherrschest flache Gefilde [die Eurotas-Ebene von Sparta], –
Aber in Ithaka fehlt es an weiten Ebnen und Wiesen;
Ziegen nährt sie, doch lieb ich sie mehr als irgendein Roßland,
Keine der Inseln im Meer [die Homer aufzählt: Dulichion, Sami, Zante] ist mutigen Rossen zur Laufbahn
Oder zur Weide bequem,
und Ithaka minder als alle.
Kann man sich eine noch stärker hervorhebende, unterscheidende Schilderung der Insel Ithaka denken, auf der es, allein unter allen jonischen Inseln, ganz und gar an Bodenebene fehlt, der ›buckligsten‹ aller Inseln, wie ich immer wieder mit meinen ithakischen Gastfreunden scherzte? Und nun höre, staune, zweifle, glaube man aber meinem Worte: dieses wichtigste Beweisstück für die Frage, ob Ithaka oder Lewkas?, verschweigt, verheimlicht, unterdrückt, ja wie sonst noch soll ich die ungeheuerliche Tatsache aussprechen? –, unterbuttert der Professor Wilhelm Dörpfeld! Kennt der Leser einen zweiten Fall solches Verstoßes gegen Wissenschaft und Wahrheit? Ich will einen nennen: Dörpfeld unterdrückt auch die amtlich festgestellte Tatsache, daß es auf seinem Ithaka, nämlich Lewkas, über 100 Geviertkilometer Anbauland gibt, davon mehr als 20 Weideland, und über 1000 Rosse. Diese Zahlen habe ich erst ermitteln müssen.
Es gelang Dörpfeld, Wilhelm 2. zu ›überzeugen‹, Lewkas sei das Ithaka Homers und des Odysseus. Es gelang ihm, vom Kaiser namhafte Mittel zu Ausgrabungen auf Lewkas zu erlangen. Er ließ in einer sumpfigen Niederung an der Ostküste von Lewkas graben und fand, was man überall in Griechenland findet, wo man an Stellen mit irgendeinem alten Namen gräbt: Mauerreste und Tonscherben. Er fand nicht etwa eine Gedenktafel, auf der stand: ›Dem Andenken Seiner Majestät des Königs Odysseus, Sohnes des hochseligen Königs Laertes, geboren 1142 vor Christus, gestorben 1038 v. Chr.‹; aber die von ihm ergrabenen Ziegel und Scherben genügten ihm, der Welt und dem Kaiser zu verkünden: Ich habe den Königspalast des Odysseus freigelegt und dadurch bewiesen, daß die Insel Lewkas das wahre Ithaka gewesen, daß dagegen die heutige Insel Ithaka zur Zeit der Odyssee Sami geheißen.
Alles Nähere über jene tolle Begebenheit, einen Hohn auf jede wissenschaftliche Denkform und Beweisführung, findet der Leser, der mir bis hierher gefolgt ist, in meinem Schriftchen ›Der Wohnsitz des Odysseus. Ithaka oder Lewkas‹ (Leipzig 1912, Verlag von Fr. Brandstetter). Es kostet nur eine Mark, und ich halte den Preis für billig. Das Büchlein ist der Abdruck der zwei im Sommer 1908 in der Vossischen Zeitung von mir veröffentlichten Aufsätze, die auf eingehenden Forschungen in Ithaka und Lewkas beruhten. Zufällig war ich in Lewkas an dem Tage, an dem sich das Kaiserpaar von Dörpfeld den Palast des Odysseus zeigen ließ. Ich hatte ihn schon gesehen und hielt mich fern; mir kam das Ganze so unsagbar abgeschmackt vor, daß ich so schnell wie möglich das Schiff bestieg, das mich nordwärts trug.
Der Kaiser kehrte von Lewkas nach Berlin zurück in dem Glauben, er habe dort den Palast des Odysseus gesehen. Es gab in Bertin einen Mann, dessen Urteil ihm etwas hätte gelten sollen: den Professor von Wilamowitz-Möllendorf, den ersten Kenner der Homerischen Frage. Den hat der Kaiser denn auch befragt, aber wie! In seinen soeben (1929) erscheinenden ›Erinnerungen‹ berichtet der greise Gelehrte über seine Begegnung mit dem Kaiser: ›Ich war ihm ›zu verschieden von der Art seiner Umgebung; die Unterwürfigkeit, auf die er zu treffen gewohnt war, ließ ihm als Plumpheit erscheinen, wenn ich rundweg sagte, daß Ithaka Ithaka ist, und auf eine wegwerfende (!) Replik aussprach, daß die Wissenschaft zu entscheiden hat.‹ Das ist's: die Wissenschaft, nämlich die von der Übereinstimmung der Wirklichkeit mit dem Gedicht, und für diese Wissenschaft ist der Ausgräber und Bauverständige Dörpfeld überhaupt nicht zuständig.
Um jene Zeit trat ich auf den Plan. Meine zwei Aufsätze in der Vossischen machten einiges Aufsehen; die Kunde von ihnen drang zum Kaiser, zur Kaiserin, und eines Tages bekam ich von dem Herausgeber der wissenschaftlichen Beilage der Vossischen, Stephany, einen Brief, dem ein zweiter von des Kaisers Handbüchereiverwalter – er lebt noch – beilag; darin bat dieser im Auftrage S. M. des Kaisers und I. M. der Kaiserin, ›die sich beide sehr dafür interessierten‹, um zwei ›Exemplare‹ der Nummern mit den ›Artikeln‹ über Ithaka von E. E. Stephany schrieb mir, er habe die ›Exemplare‹ abgesandt, und fügte hinzu: ›Und jetzt, lieber Kollege, machen Sie sich darauf gefaßt, daß der Kaiser Sie kommen läßt und Ihnen den Kopf wäscht.‹ Dies war in der Tat möglich; gleichviel ob meine Aufsätze den Kaiser überzeugten, daß Ithaka – Ithaka sei, oder nicht. Ich hatte über Dörpfelds geplante Ausgrabungen des Meeresbodens zwischen Lewkas und dem Festlande geschrieben: ›Eine überflüssigere Arbeit, ein nutzloseres Hinauswerfen des Geldes kann ich mir nicht denken.‹ Wegen solcher Verwegenheit konnte mir gar wohl eine kaiserliche Kopfwäsche drohen.
Ob meine Aufsätze den Kaiser überzeugt haben, weiß ich nicht. Vielleicht für die Zeit des Lesens; dann aber hat Dörpfeld mit seinen beweislosen Behauptungen doch wohl über meine schlagenden Beweise gesiegt. Merkwürdig allerdings war, daß nach dem Erscheinen meiner Darlegungen Dörpfeld nicht weiter gegraben hat, auch nicht zwischen Lewkas und dem Festland. Die Geschichte von dem Palast des Odysseus war doch gar zu lächerlich geworden, die Urteile der Fachmänner in Deutschland, England, Frankreich, Griechenland schlossen sich dem meinigen an: Ithaka blieb Ithaka, und das Geld für Dörpfelds Ausgrabungen war nutzlos hinausgeworfen.
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