Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Kommt die Rede auf Bülows Staatsmannschaft, so wird mit einem reichen Wortschwall hin und her gestritten, ohne daß ein greifbares Ergebnis herausspringt. Ich bin kein Staatsmann, aber als ein Deutscher Bürger, dessen Schicksal, wie das aller Deutscher, von der Weisheit oder Dummheit seiner Regierer abhängt, habe ich das Recht, über den Staatsmann Bülow, den ich vom Reichstag her sehr genau kenne, zu urteilen, und das mache ich so. Ich frage: Welche Aufgabe war ihm durch die weltgeschichtliche Lage Deutschlands gestellt, und wie hat er sie gelöst? Hatte er sie überhaupt erkannt? Ich glaube: ja, denn Bülow war nicht dumm; aber es gehörte gar keine erlesene Klugheit dazu, sie zu erkennen –: jeder gebildete und nachdenkende Vaterlandsfreund begriff in den Jahren der Reichskanzlerschaft Bülows, wie es um Deutschland stand; die Folgerungen aus dieser Erkenntnis zu ziehen, und darnach zu handeln, war die Aufgabe des leitenden Staatsmanns.
Bülow hatte diese Lage Deutschlands vorgefunden, als er im Jahr 1900 Reichskanzler wurde: im Westen bedrohte uns der unversöhnliche Todfeind Frankreich; fest mit ihm verbündet war Rußland. Daß wir einen Kampf auf Tod und Leben mit diesen beiden Kriegsmächten ersten Ranges zu bestehen haben würden, stand fest, und Bülow hatte dies vorausgesehen.
An Italiens Bundestreue glaubte in Deutschland kein klarsehender Mensch; auch Bülow hat nie daran geglaubt. Wie brüchig es mit Österreich, diesem aus 8 bis 10 sich gegenseitig hassenden Völkerschaften zusammengesetzten Wirrwarr, nicht Staat, bestellt war, wußte Bülow kaum besser als jeder Beamte des Auswärtigen Amts, kaum besser als sein Leibdiener oder Kutscher, denn das wußte jeder Deutsche, der darüber nachdachte, was ein Weltkrieg zu bedeuten hätte.
Also? Es gab eine noch mit keinem Feinde Deutschlands verbündete Großmacht, von deren Entschließung für den Fall eines Krieges das Schicksal Deutschlands abhing: England. Trat England auf die Seite der gegen uns verbündeten Großmächte, so drohte uns das Verderben.
War das so, oder war es anders? Es war so, und dies heute auszusprechen, ist keine bequeme Kannegießerei hinterher, sondern so haben unzählige kluge, vaterlandsliebende Deutsche gedacht. Viel mehr als so denken konnten sie nicht, denn das Handeln war die Aufgabe des leitenden Staatsmanns.
Das Gewicht Englands auf der Schicksalswage wog noch schwerer, als die Nachdenkenden genau wissen konnten; Bülow aber hat das gewußt und hätte darnach handeln müssen: er kannte den Wortlaut unsers Bündnisvertrages mit Italien, wonach dieses nicht zum Kampf an Deutschlands Seite verpflichtet war, falls England sich zu Deutschlands Feinden schlüge.
Welche Aufgabe also stellte die Weltlage einem Deutschen Reichskanzler, der sein Vaterland vor dem Untergang durch einen Weltkrieg, d. h. durch einen Krieg der Welt gegen Deutschland, schützen sollte und wollte? Wiederum ist es keine Treppenweisheit, zu sagen: seine Aufgabe war das Bündnis mit England. Nicht ein Bündnis um jeden Preis, aber selbst eins um hohen Preis.
Ein Bündnis mit England hätte Deutschland oder dem Dreibunde nicht nur einen ungeheuren Machtzuwachs gegenüber dem französisch-russischen Verbande verliehen; nicht nur Italien in seiner Bündnistreue gefestigt; – es hätte den Weltkrieg gegen Deutschland für unabsehbare Zeit verhütet. Gegen ein mit England und Italien verbündetes Deutschland würden Frankreich und Rußland allein keinen Krieg gewagt haben. – Alles dies ist sonnenklar und hat mit Kannegießerei nichts zu tun.
Bündnis mit England: so lautete Bülows Aufgabe. Er hatte sie erkannt, – was hat er getan, um sie zu lösen? Nichts! Wer ihn verteidigen will: er stieß auf unüberwindliche Hindernisse, der weiß nichts von der Aufgabe eines leitenden Staatsmanns. Es gab kein unüberwindliches Hindernis für einen wirklichen Staatsmann. Das angebliche Hindernis: das Anwachsen der Deutschen Kriegsflotte, war nicht unüberwindlich, – auch dies hat Bülow gewußt. Das Anwachsen der Deutschen Flotte in einem Maße, das von England mit Recht für eine Bedrohung seiner Sicherheit und Weltgeltung angesehen wurde, mußte England zwingen, sich mit Deutschlands Todfeinden zu verbünden. Was denn auch während Bülows Kanzlerschaft geschah.
Den Preis, für den Englands Bündnis, mindestens dessen Ohnseitigkeit in einem Weltkriege zu haben war, kannte Bülow: Zurückhaltung Deutschlands im Flottenbau. Jede weitere Vermehrung der Deutschen Flotte gefährdete Englands Sicherheit; die Versicherung Bülows, daß dies nicht der Fall, jedenfalls von Deutschland nicht beabsichtigt sei, wurde in England verlacht. Bülow wußte, daß aus dem Flottenbau hüben, aus der Sorge um die Sicherheit des Landes drüben der Krieg Englands gegen Deutschland an der Seite Frankreichs und Rußlands notwendig entstehen werde, daß Italien in solchem Kriege von uns abfallen müsse, daß Deutschland alsdann mit der größten Wahrscheinlichkeit verloren sei, und – er hat nichts getan, dieses Unheil von dem ihm anvertrauten Vaterlande abzuwenden. Darnach urteile man über den ›Staatsmann‹ Bernhard von Bülow!
Weißt du denn aber nicht, daß der Kaiser in der Flottenfrage nicht nachgeben wollte? Daß Tirpitz erst recht nicht nachgeben wollte? Ist die Politik nicht die Wissenschaft und die Kunst des Möglichen? – Das weiß ich; ich weiß auch, von wem ihr das habt. Der Mann aber, der das gesagt, hat die Liebhaberei eines Herrschers und den Eigensinn eines Fachministers niemals für Unmöglichkeiten gehalten. Wenn Bismarck das Bündnis mit England zur Errettung Deutschlands aus unmittelbar drohender Lebensgefahr für unerläßlich gehalten hätte, so hätte kein Kaiser, erst recht kein ihm unterstellter Staatssekretär ihn gehindert, das zum Heile Deutschlands Notwendige zu fordern und es entweder zu erzwingen, oder sein Amt niederzulegen. Und wie niederzulegen! Mit der offnen Erklärung an einen etwa hartnäckigen Kaiser: Verharren Sie bei Ihrem Willen, so gehen Deutschland, das Kaisertum und die Hohenzollern vor die Hunde, aber bitte ohne mich! Ich fordre meinen Abschied und werde dem Deutschen Volke sagen, warum ich gehe. Der Kaiser aber wäre nicht hartnäckig geblieben.
Bülow hat gewußt, daß die von ihm geführte oder geduldete Flottenpolitik Deutschland ins Verderben führen müsse, und ist im Amte geblieben, hat an ihm geklebt, geklebt, geklebt, und er wäre noch im August 1914 Reichskanzler gewesen, wenn der Kaiser das – Lumen nicht schon 1909 ›weggejagt‹ hätte. Warum dies geschah, steht in einem sehr lesenswerten Auszuge aus den Urkunden des Auswärtigen Amtes, der 1929 unter dem Titel ›Kaiser und Kanzler im Sturmjahr 1908‹ im Verlage von Hesse und Becker in Leipzig erschienen ist.
Es ist denkbar, daß Bülow, der nicht so unwahrscheinlich taprig war wie Herr von Bethmann, den Ausbruch des Weltkrieges im August 1914 verhindert hätte. Das wäre ein kleiner Aufschub gewesen, weiter nichts. Das Bündnis mit England hätte Bülow niemals zustande gebracht, denn dazu gehörte, mehr noch als ein Staatsmann –: ein Mann. Bülow war keins von beiden.