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Friedrich Vischer (1807-1887)

Ihn gekannt, ihm ein wenig nahe gestanden zu haben, ist für jeden, dem das beschieden worden, ein hohes Lebensglück, eine stolze Erinnerung, eine seelische Bereicherung für den Rest der Lebenstage. Mir wurde die Begegnung zu Angesicht im Juni 1887 zuteil, wenige Tage nach der großartigen Feier seines 80. Geburtstags. Er hatte mir nach dem Erscheinen meiner ›Griechischen Frühlingstage‹ (Herbst 1886) überaus herzlich geschrieben. Mein Buch hatte unvergessene Jungmannseindrücke in ihm wachgerufen. Im Jahr 1844 hatte er Griechenland bereist, unter Umständen, die gar weit von denen meiner Reise nach 40 Jahren abwichen, unter viel größeren Entbehrungen und Beschwernissen als ich, obwohl auch ich noch manches ausgestanden hatte, was in meinem Buche zu lesen war. Das Land und die Menschen waren ihm trotz allen ›παϑήματα‹ (Leiden) lieb geworden und geblieben. Von der Sprache hatte er vieles behalten, und das alles war in ihm wieder ausgelebt, als er mein Buch las. In einem Aufsatz Vischers darüber, der in seinen ›Neuen kritischen Gängen‹ sieht, hat er die Empfindungen geschildert, die ihn beim Lesen bewegten.

Am Tage vor meinem Besuch bei Vischer hatte ich einer seiner Vorlesungen beigewohnt, ohne mich ihm vorzustellen. Seine Vorlesungen waren allgemein zugänglich. Er wußte gar nicht, daß ich in Stuttgart war. Ich hatte mich nicht bei ihm angemeldet, wagte es, ihn zu überraschen, nachdem er über mein Buch geschrieben, wollte ihn aber zuvor gesehen und gehört haben, um mich auf meinen Besuch vorzubereiten, dessen außerordentlichen Wert für mich ich vorausfühlte. Ähnlich mag es einst Denen zumute gewesen sein, die vor einem Empfang bei Goethe gestanden.

Mein Urteil hat sich in den 40 Jahren, die seitdem verflossen sind, nicht gewandelt: noch heute halte ich Vischer für den bedeutendsten, am schärfsten sehenden, am treffendsten urteilenden Kunstrichter, der uns nach der großen Zeit des 18. Jahrhunderts erstanden ist. Dazu kam meine Verehrung für den Dichter Vischer, der die ›Lyrischen Gänge‹ geschaffen, und selbstverständlich für den Verfasser von ›Auch Einer‹. Vischers ›Dritten Teil des Faust‹ hielt und halte ich für die außerordentlichste Schöpfung dieser Art, nach oder neben oder – über den ›Fröschen‹ von Aristophanes. Drei Jahre zuvor war ich von Gottfried Keller empfangen worden; ich nahte mich Vischern mit dem gleichen Gefühl wie damals: einem Höhepunkt meines geistigen Lebens entgegenzugehen.

Ein drolliger Zufall fügte, daß Vischer in der Vorlesung, der ich beiwohnte, über Byron und seine Zeit sprach, über die Zusammenhänge zwischen Byron und der französischen Literatur, über Goethes Bewunderung für Byron, und dann zum Schluß hinzufügte: ›Wenn Sie sich über Byrons Leben und Wesen unterrichten wollen, so empfehle ich Ihnen als das am unmittelbarsten einführende Buch die Autobiographie Byrons in Tagebüchern und Briefen von Eduard Engel‹.

Am nächsten Vormittag stieg ich die zwei Treppen zu Vischers Wohnung hinauf, zog an einem Klingeldraht, hörte der Tür sich nähernde leise Schritte: da stand der achtzigjährige kleine Mann mit dem vergeistigten, schon geisterhaften Antlitz fragend vor mir.

Ich zog den Hut und sagte: › Kali'mera, kirie kathigitá!‹ (Guten Tag, Herr Professor!), sah ein heiteres Aufleuchten seiner Züge, – dann begriff er, nahm meine Hand und führte mich in sein einfaches Empfangszimmer. ›Das haben Sie sehr gut gemacht, das habe ich seit mehr als 40 Jahren nicht mehr gehört. Wie das klingt, wie mir alles lebendig wird!‹ Und dann staunte er, wie ich meine große Reise durch Griechenland so tapfer, ja so vergnüglich durchgeführt, was ich alles gesehen, wie sich Griechenland verändert haben müsse, und sogleich berührte er die Frage der Aussprache des Griechischen: ›Sie haben mich völlig überzeugt (mein Buch ›Die Aussprache des Griechischen‹ war inzwischen erschienen), unsre oi und ei und au sind gewiß von keinem alten Griechen je gesprochen worden. Wir waren mitten in einem sprachwissenschaftlichen Gespräch, noch ehe ich mich gesetzt hatte. Am stärksten hatte auf ihn mein Hinweis gewirkt, daß kein südeuropäisches Volk Diphthonge im Deutschen Sinn kenne, daß diese schweren Laute den schnell sprechenden Völkern zu lästig seien, daß man immer an ein schnell sprechendes Volk denken müsse, wenn man über die Aussprache der alten Griechen urteile. Die Deutsche Schulaussprache könne nicht schnell gesprochen werden.

Aber dann nötigte er mich zum Sitzen, und wir berieten über die gelegenste Stunde für ein gründliches langes Gespräch. Vischer schlug die Abendstunden in einer guten Wirtschaft vor, wo er sein Glas Bier zu trinken gewohnt sei, und dort – wo? – trafen wir uns gegen acht und sprachen bis Mitternacht. Zu meinem Kummer habe ich mir damals keine Aufzeichnungen gemacht; nur einige wichtige Gegenstände sind mir im Gedächtnis geblieben und einige Äußerungen Vischers darüber.

Wir waren im Jahr 1887, das Jüngste Deutschland stand auf der Höhe seines Gelärms, hatte aber noch nichts hervorgebracht, was beachtenswert gewesen wäre. Von Hauptmann, von Sudermann war noch keine Rede. Vischer behandelte die Bewegung der Jüngstdeutschen mit der Ruhe des Achtzigers, der gegen Lärm gefeit war. Immer wieder sagte er: ›Ich sehe keine Leistung. Wo ist eine, kennen Sie eine? Alles Gerede über das, was man möchte, ist bewegte Luft.‹ – Ich hatte vom Anfang der Bewegung an dasselbe gesagt und geschrieben, war dafür mit dem Namen des Rückständlers beehrt worden und habe Recht behalten.

Wir kamen auf Ernst von Wolzogen. Er hatte die verzeihliche Keckheit gehabt, seine harmlose Schnurre ›Die Gloriahose‹ großartig Vischern zu widmen, ohne ihn um Erlaubnis zu fragen. ›Dem müßte man die Gloriahosen spannen!‹ Dieses lustige Wort ist mir wörtlich in den Ohren geblieben. Ich bat um Nachsicht für Wolzogen: er sei ein lieber und begabter Kerl, hege, wie ich wisse, die tiefste Verehrung für Vischer und habe mit seiner selbstherrlichen Widmung wohl nur sagen wollen: Bei allem, was ich schaffe, klein oder groß, denke ich an unsern größten Meister der Kritik. – Wolzogen lebt ja noch: vielleicht freut es ihn, zu erfahren, daß Vischer zuletzt gütig, ja anerkennend von ihm sprach.

Als Tübinger Stiftler hatte Vischer noch Hölderlin gesehn, schilderte mir den Eindruck: unheimlich, zu Tränen rührend, – ›was ist der Mensch!‹ Uber Hölderlins Krankheit zuckte er mitleidig die Schultern: ›Es ist mit ihm gewesen wie mit Lenau, Heine und Friedrich Wilhelm 4.; die Ärzte wissen heute, wie es mit den körperlichen Gründen dieses Leidens steht.‹

Wir kamen auf Goethe, auf Frau von Stein. Ich hatte mich damals mit dieser Frage noch gar nicht näher beschäftigt, lebte des Glaubens, die Fachgelehrten, die jene Frau für eine Aspasia, für Goethes Muse erklärten, müßten um die Beweise solcher Auffassung wissen. Vischer sagte in seiner ruhigen, bedächtigen, zarten Art: Ich mag Goethes Briefe an die Frau ganz und gar nicht. – Aber die Sprache! warf ich ein. – Ja ja, die Sprache, aber was steht denn darin? Wer war denn die Frau? Wissen wir das? Was sagen uns Goethes Briefe darüber? – Was hätte Vischer gesagt, wenn er gelesen hätte, was ich aus der Stein eigenhändigen Briefen an Beweisen für ihre schöne Seele zusammengestellt habe? Aber das geschah erst 22 Jahre nach meinem Gespräch mit ihm.

Die Götzenanbeter Goethes hatten Vischern seinen kurz zuvor herausgekommenen Dritten Faust in der neuen Bearbeitung erschrecklich übelgenommen, – ›Tempelschändung‹! Ich sagte ihm, was ich gefühlt hatte: mir sei keine großartigere Verherrlichung Goethes bekannt als die am Schlusse seines Dritten Faust; daneben wären die Spöttereien über gewisse Stellen im Zweiten Faust harmlose Späße. Natürlich war das Vischern lieb zu hören. Ich bin bei meiner vom ersten Lesen her gewonnenen Auffassung des Vischerschen Faust geblieben und habe sie in meinem ›Goethe‹ nachdrücklich behauptet. Der Zorn mancher Goethe-Gelehrter über Vischers Dritten Faust hat noch lange fortgedauert, schwelt wohl noch heute hier und da. Die Sache steht doch so: ein so von Goethes Größe durchdrungener, ihm nicht unebenbürtiger Geist wie Vischer, aber nur ein solcher, hatte das Recht, seine Verehrung in jeder ihm zulässig erscheinenden Form auszusprechen, denn noch Vischers Spott ist Verehrung: ›Erkrankte Liebe ist mein ganzer Zorn‹.

Es hatte Mitternacht geschlagen, wir waren die letzten Gäste, aber Vischer machte noch keine Anstalten zum Aufbruch. Ich dachte an seine achtzig Jahre und sprach vom Ausruhen. ›Sie haben vielleicht Recht, gehen wir.‹ Ich begleitete den herrlichen Mann bis an die Tür seines Hauses, er sagte mir liebe Worte zum Abschied, – ich habe ihn nicht wiedergesehen.

Drei Monate darauf schied er von uns, nicht aus Altersschwäche, nur durch eine kleine Unvorsichtigkeit beim Genuß eines sonst harmlosen Gerichtes. Er hätte 90 alt werden können, so ungebeugt rüstig war er im Juni 1887; so rüstig soll er noch den Tag vor seiner Erkrankung im September gewesen sein.

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