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Gottfried Keller (1819-1890)

Es ging die Sage, Keller empfange keinen ihm Fremden; käme einer, so würde er schon an der Schwelle von dem schatzhütenden Drachen Regula, Kellers ebenso unnahbarer Schwester, abgewiesen; gelänge es dennoch einem Besucher, vorgelassen zu werden, so flöge er bald unsanft wieder zur Tür hinaus. Dergleichen hatte auch ich vernommen, als ich im September 1884 in die Schweiz reiste; aber ich brannte vor Verlangen, den größten lebenden Deutschen Dichter, den größten europäischen, von Angesicht zu schauen, obwohl ich sonst nie auf menschliche Sehenswürdigkeiten ausgewesen war, wenn sie nicht ungesucht meinen Lebensweg kreuzten. Eine leise Hoffnung schöpfte ich daraus, daß ich ein Jahr zuvor eine eingehende Besprechung des ›Sinngedichts‹ für mein ›Magazin‹ geschrieben und von Keller ein Kärtchen mit einem Dankwort für die Zusendung des Heftes bekommen hatte. Paul Heyse, den Freund Kellers, hatte ich um ein Wort der Einführung gebeten; er lehnte freundlich ab: Es wäre mir schmerzlich, wenn er Sie trotzdem nicht empfinge; aber er wird Sie ohne mich empfangen, er ist nicht so arg.

So schrieb ich an Keller aus der Schweiz, daß ich es wagen wolle, an dem und dem Tage an seine Tür zu klopfen; bat nicht um Antwort, kam in Zürich an und stieg beklommen das Trepplein zu seiner über der Straße gelegenen Wohnung hinauf. Die alte Regula öffnete die Haustür –: durchaus kein Drache, wer durfte solche Nachrede führen? Ein zartes, feindurchrunzeltes Altmädchengesicht; ernst, aber nicht ungütig; die Stimme leise, höflich: ›Ich werde zusehn, ob der Herr Staatsschreiber [nicht: mein Bruder] noch schläft.‹ Sie nahm meine Karte, kam wieder: ›Der Herr Staatsschreiber läßt bitten, ein wenig zu warten, er kommt alsbald.‹

Ich trat in ein behagliches Zimmer, die ›gute Stube‹; gediegene Möbel, keine modischen. Ich setzte mich auf einen rotgepolsterten Stuhl am Fenster, blickte auf die Straße, – da trat der Herr Staatsschreiber ein.

Er hatte geschlafen, war frisch, mit 65 Jahren, gutgelaunt, reichte mir liebreich die Hand, setzte sich auf den Stuhl mir gegenüber, und das Gespräch begann. Es lief so hurtig, daß es mir nicht die Ruhe ließ, Kellers Leibliches aufnehmend zu betrachten. Ich habe einen starken Gesamteindruck behalten; er weicht von den beiden bekanntesten Bildern, dem von Stauffer und dem Lichtbild im zweiten Bande meiner Deutschen Literaturgeschichte ab, namentlich durch die leuchtende Belebung des auf mich gerichteten teilnehmenden Blickes. Da er saß, fiel mir die Kürze seiner Beine nicht auf; ich sah einen Mann in stattlicher Mittelgröße mir gegenüber sitzen.

Wovon haben wir gesprochen? Ich habe leider nichts aufgezeichnet, aber vom häufigen Erzählen, z. B. an Paul Heyse, weiß ich noch alles. Er begann mit seiner Freude, daß grade in Berlin seine ›Geschichten zu gefallen schienen‹; denn von seinem Berliner Aufenthalt sprach er mit leuchtenden Augen. Als ich ihm sagte, daß ich Franz Duncker gut gekannt, wurde er fast fröhlich, und ich war ihm dadurch wie vertraut. Er frug nach dem kleinen Haus hinter der Universität, in dem er gewohnt, ob es noch stehe, und strahlte halbjugendlich, als ich ihm berichtete, daß das Haus wenig umgebaut aussehe, daß dort ein Wirt wundermild kargbegüterte Studenten speise, in seiner ›Akademischen Bierhalle‹, daß ich selbst im Vorbeigehen dort zuweilen etwas äße. ›Wissen Sie, daß ich in jenem Hause ›Romeo und Julia auf dem Dorfe‹ geschrieben habe?‹ Auf mein Erstaunen –: »Ja, ich wohnte in einer Stube oben, unten war eine Schmiede oder eine Werkstatt, wo Metall verarbeitet wurde; ich glaube, ein Instrumentenmacher arbeitete darin, und von dem hatte ich die Bude gemietet. Beim Hämmern unter mir habe ich meine Geschichte geschrieben, der Lärm hat mich garnicht gestört, eher beflügelt; ich wußte ja, drunten wird rechtschaffen gearbeitet, also mußte ich Schreiberlein dadrüber auch meine Schuldigkeit tun. Ja das war eine feine Zeit!‹

Und nun konnte ich ihm der frohen Wahrheit gemäß berichten, daß seine Berliner Geschichte grade in Berlin die begeistertsten Bewunderer habe, daß er überhaupt der Dichtungsheilige für Berlin geworden sei; ich sprach von Erich Schmidt, von Brahm. – ›Na Sie dürfen doch auch sich selber nennen; Ihr Aufsatz im ›Magazin‹ [er war wohl der erste über das ›Sinngedicht‹ gewesen] hat mir sanft getan.‹ – Ob ich mich dabei gefreut habe –?

Ich wagte die Frage, ob er eine neue Arbeit auf dem Amboß habe; unser Gespräch von der Schmiede hatte mir den Amboß eingegeben. Da seufzte, da stöhnte er: ›Ja, wohl, auf dem Amboß, aber das Ding wird nicht heiß, es sprühen keine Funken, es will nicht fließen? Ich frug nicht nach den Stoff, aber er fügte selbst hinzu: ›Es ist aus dem heutigen Leben, aus der Schweiz, aus dem Handel und Wandel, alles weltlich, wenig Poesie.‹ Er war unfroh über sein Werk, – es hieß ›Martin Salander‹, doch das erfuhr ich erst nachher.

Noch einmal Erich Schmidt und Brahm –: er war gut auf beide zu sprechen, auf ihre Gescheitheit, ihren Eifer um die Literatur, aber sehr schlecht gelaunt über ihre ›Schule‹, die Scherersche, die damals, zwei Jahre vor Wilhelm Scherers Tode, auf ihrem Gipfel stand. ›Sie gehen an der Sache, der Dichtung, vorbei, auf ein Ziel, das es nicht gibt; sie wollen durchaus heraus kriegen, wie wir Dichter es machen, um zu dichten. Das ist ja gar nicht ihre Sache, das geht doch keinen an als uns, die wir dichten. Im ganzen Leben werden sie das nicht herauskriegen. Sehen Sie z. B. meine ›Romeo und Julia‹, – wo hab ich die wohl her? Da grabt nur und treibt eure Forscherspäße, das kriegt ihr nie heraus, wenn ich es euch nicht sage. Alles, was sie darüber schreiben werden, ist Schund und bleibt Schund [›Schund‹ hat er gesagt, zweimal; er hat dieses Lieblingswort auch an Storm geschrieben, und es kann nachgelesen werden]. Nicht wahr, ein Erlebnis irgendwo hier herum, in Glattfelden oder bei Zürich, und dann werden sie nach den Eltern der armen Kinder und nach den Kindern selbst forschen und die Charaktere der lebendigen Vorbilder mit meinen Geschöpfen vergleichen, – das ist ja alles Unsinn‹, und nun erzählte er mir, wie er zu seinem Stoffe gekommen war; im 2. Bande meiner Deutschen Literaturgeschichte (S. 207) kann man es nachlesen. Mir gingen die Augen auf. Ich sagte: Das ist wie das Rätsel vom Rumpelstilzchen. Er verstand sogleich, lächelte und sagte: Ja sie hören das Gras wachsen. Und dann erzählte er mir, was ihm ein Züricher Germanist – Bächtold?, Adolf Frey? – zu lesen gegeben: Scherers wundervolles Befremden darüber, daß Gretchen im Faust Lieder singt, sie könne doch nicht dichten! Ich mußte ihm glauben, so toll mir's klang. In Berlin habe ich nachgefragt und es gedruckt gelesen: ›Gretchen kann doch nicht dichten.‹ Wo hat denn der Professor Faust das Dichten gelernt, wo Valentin und Martha, sogar der Privatdozent Wagner? Seit jenem Besuch bei Keller vertiefte ich mich ein wenig in den Betrieb der Schererschen Schule und wurde davon sehr erbaut. Leider war ich in jenen jungen Jahren noch nicht so goethefest, daß ich Kellern die vielen vielen Stellen nennen konnte, worin sich der Meister mit einer Derbheit, ja Grobheit über die Scherersche Schule ausgesprochen hat, die warnend hätte wirken können, Aber die Grundauffassung Scherers und seiner Schüler von der Hauptaufgabe der Literaturwissenschaft war ja das schroffe Gegenspiel alles dessen, was Goethe von der frühen Jugend bis ins höchste Alter gepredigt hatte.

Wohl von der Arbeit am Salander eingegeben war Kellers knurrige Erwiderung auf meine Freude über einen von fröhlicher Musik eingeleiteten Festzug – Schützen, Turner, Sänger? ich weiß es nicht mehr –, der auf der Straße vorüberschritt. Ich hatte gesagt: Was für ein lustiges öffentliches Leben führt man doch in Ihrer Schweiz, überall ist so etwas los. – Darauf sagte er: ›Ja ja, aber es ist doch viel Gelumpe dabei.‹

Ich erhob mich nach einer guten Stunde, er wollte mich noch dabehalten, lud mich auf den Abend in die ›Meise‹ ein, – ich mußte ablehnen. Mußte ich? Damals glaubte ich an ein Muß es wird keins gewesen sein; jedenfalls keins, das sich an zwingender Gewalt mit Kellers Einladung messen konnte. Von meinen vielen Unterlassungssünden war wohl die ärgste, die dümmste, daß ich an jenem Abend der ›Meise‹ fernbleiben ›mußte‹.

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