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Georg von Hertling (1843-1919)

Als am 2. November 1917 bekannt wurde, daß Wilhelm der Zweite an die Stelle des unmöglichen Herrn Michaelis den bayrischen Grafen von Hertling zum Kanzler des Deutschen Reichs in seinem Kampfe gegen die Welt berufen hatte, entstand bei allen Denkenden dieselbe Verzweiflung wie bei der Ernennung seines Vorgängers. Wir standen im Weltkrieg ums Deutsche Dasein –: dies hatte der Kaiser noch immer nicht begriffen. Die neuen Reichskanzler wurden ernannt, wie sie im Frieden ernannt worden waren: Wird Der oder Der wohl im Stande sein, die laufenden Geschäfte ordnungsmäßig zu führen, die landesüblichen Kuhhandelschaften mit den Parteien um die Wehrheit geschickt zu führen, wird er vor allem dem Kaiser keine Schwierigkeiten bereiten? Der Kaiser sah sich gegenüber im Lager der Feinde nur starke Männer, Männer mit unbeugsamer Willenskraft, zum Äußersten entschlossen, Männer mit dem zündenden Wort, das ihre Völker zum Ausharren ohne Wank, zum Kampf ohn Unterlaß, zu Opfern ohn Ende aufpeitschte; Männer, die jeden Widerspruch in den Volksvertretungen zum Schweigen brachten. Und angesichts dieser Feindesführer stellte er an die Spitze der Leitung des Reichs in der Stunde, die den allerstärksten Mann forderte, einen 74jährigen schwächlichen, müden, ganz in seiner Partei, dem Zentrum, verstrickten Greis, den kein Mensch je zuvor für eine Größe, eine Kraft gehalten hatte, der nie eine Tat getan, der höchstens die Geschäfte eines Deutschen Bundesstaats im Frieden schlecht und recht geführt, nie Weltblick, Kenntnis fremder Völker bewiesen hatte. Es war furchtbar: das Schicksal Deutschlands wurde betrachtet wie irgendeine Geschäftsnummer in einer Friedenskanzlei.

Und Hertling nahm an! So, wie wenn er im Frieden zum Gesandten beim Papst ernannt worden wäre. So wie ein Geheimrat Michaelis von der Getreideversorgung angenommen hatte, das Deutsche Reich zum Siege gegen die Welt zu führen; denn nur so lautete in Wahrheit die Aufgabe. Der alte Graf Hertling nahm zuversichtlich und gottesfürchtig an, so wie Bethmann 3 Jahre auf seinem Posten geblieben war, obgleich er wußte, daß seine Fähigkeiten nicht hinreichten, jene Aufgabe zu erfüllen. Ja wohl wußte: er hat auf die vertrauliche Frage eines ihm – und mir – befreundeten Abgeordneten, ob er sich zutraue, den Krieg zu gewinnen, mit einem tiefen Seufzer und einem hilflosen Blick gen Himmel geantwortet: Ich nicht, aber ich vertraue auf Gottes Beistand. Der Abgeordnete hat Bethmann leider nicht gefragt: Haben Sie den schriftlich? Ich hätte ihn gefragt, aber ich war mit Bethmann nicht befreundet.

Warum ist Bethmann 3 Jahre auf einem Posten geblieben, für den er sich sogleich beim Ausbruch des Krieges als völlig untauglich erwiesen hatte, auch vor sich selbst, wie er mit seinem geschichtlichen Wort über das Kartenhaus seiner Politik gegenüber England selbst bekundet hat? – Warum hat ein Geheimrat Michaelis die Berufung in ein Amt angenommen, dem er, wie er wußte, nicht gewachsen war? Auch von ihm, der ein frommer Mann war, wissen wir, daß er auf Gottes Beistand rechnete. Und ebenso der Graf Hertling, der seine eigne Unzulänglichkeit wußte und es dennoch übernahm, das Deutsche Reich zum Siege gegen die Welt zu führen. Woher alle diese Ungeheuerlichkeiten, die doch schon zu ihrer Zeit von jedem Denkenden so und nicht anders beurteilt wurden? Gräbt man bis auf den tiefsten Grund, so stößt man auf den Seelenzustand, der alles erklärt, aber nicht entschuldigt: der Begriff der Verantwortung war zum leeren Wortschall geworden. Man sagte geschwollen: Verantwortung! und dachte nichts, sah nichts, fühlte nichts dabei. Wen der Kaiser berief, der dachte nicht entfernt an die furchtbare Verantwortung, sondern nahm an in dem Gefühl: Ich trage keine Verantwortung, die trägt der Kaiser, der mich ja berufen und ernannt hat, und im Notfall vertraue ich auf den Beistand Gottes, wenn ich ihn auch nicht schriftlich habe. Man sagte es nicht, aber man dachte: Gott ist ja verpflichtet, mir beizustehen. Viele Menschen nennen das Frömmigkeit, Andre nennen es Gotteslästerung, – ich gehöre zu diesen Andern.

Kein Einziger von Denen, die von 1914 bis 1918 am Steuer des Reiches standen, hat sich je ohne Umschweife die Frage gestellt: Bin ich der geeignete, der geeignetste Mann? Gibt es keinen Geeigneteren? Reichen meine seelischen, reichen auch nur meine körperlichen Kräfte für die ungeheure Aufgabe hin? Habe ich die Einsicht in die Seelen der Feinde? Habe ich die Wundergabe, durch mein Wort das Deutsche Volk emporzureißen und aufrecht zu halten, die Feinde zu schrecken, unsre Kämpfer zu immer neuer Aufopferung zu entflammen? Bin ich aus dem Stoff, aus dem die Natur und das Schicksal die Sieger bilden? Nie hat Graf von Hertling sich eine dieser Fragen gestellt. Nie hat der Reichstag solche Frage an ihn gerichtet. In den Feindesländern standen die Männer an der Spitze, von denen die Volksvertreter durch ihre Abstimmungen zu Hunderten bekundet hatten: Ja ihr seid die Männer, von denen wir glauben, daß sie die Eigenschaften des Siegers besitzen. Nie hätte der Reichstag, um sein Urteil befragt, den Kanzlern Bethmann, Michaelis, Hertling bezeugt, daß sie die Männer des Sieges seien. Sie waren nur die Männer, die die Unterschriften zur Fortführung der Geschäfte gaben.

Als ich Hertlings Namen als den des Leiters der Deutschen Geschicke zuerst las, sagte ich zu meiner Frau entsetzt: Wir sind verloren. Ich hatte den Mann Jahrzehnte hindurch im Reichstag beobachtet: ein angenehmer, verbindlicher, bei seinen Parteigenossen, auch bei den andern Parteien beliebter, geachteter Herr; aber einer von überragender, ja nur von bemerkenswerter Bedeutung? Man wußte, er war früher irgendwo Professor der Philosophie gewesen, aber niemand wußte von einer nennenswerten Leistung, einer schriftstellerischen Arbeit von Wert. Als Reichstagsredner mittelmäßig, geduldig angehört, aber wirkungslos. Hätte man im Reichstag Umfrage gehalten, hätte der Kaiser die Parteiführer befragt, niemand wäre auf Hertling verfallen, er selbst auf sich als den Retter in der Not nicht einen Augenblick.

Ein Eindruck war mir aus der vieljährigen Kenntnis Hertlings untilgbar geblieben: der ist unfähig zu heißem Manneszorn, der sich in kraftvolle Tat entlädt. Verärgert, mit rotem Kopf hatte ich ihn oft gesehen; zornig, leidenschaftlich nie. Nichts hatte er von dem Teufel im Leibe, ohne den nach Kellers scharfem Wort kein großes Werk gelingt. Wir brauchten einen Harten, den Härtesten, der zu haben war, und wir bekamen einen – Hertling.

Zunächst hatte er Glück, unverdientes: die besiegten Russen boten Waffenstillstand und Frieden an. Unter dem Eindruck unsers Sieges über Rußland schwang sich Hertling in seiner Antrittsrede vor dem Reichstag zu dem Satz an die Feinde auf: ›Der Geist, aus dem die Antwort auf die Note des Papstes hervorgegangen, ist auch heute noch lebendig [es war ein überaus schwacher Geist gewesen]; aber das mögen sich die Feinde gesagt sein lassen, diese Antwort bedeutet keinen Freibrief für die freventliche Verlängerung des Krieges.‹ Das klang sehr selbstbewußt, so zu sagen drohend; die Feinde aber, Männer wie Wilson, Lloyd George, Clemenceau, hielten sich nicht an den Schall und Rauch solcher Worte, sondern schauten unverwandt auf Hertlings Taten und Unterlassungen. Er war nicht der Mann dazu, der Zermürbung des Deutschen Siegeswillens entgegenzutreten, die damals schon im vollen Gange war. Er stand nicht über den Parteien des Reichstags, er führte sie nicht hinter sich her, sondern er war ihr Knecht –: Ich bin euer Führer, daher folge ich euch. Er war nur ein zweiter Herr Michaelis, aber 20 Jahre älter als der. Er wagte keinen Finger zu rühren gegen Philipp Scheidemann, der in einer Rede außerhalb des Reichstags, also ohne den Schutz der Redefreiheit, gesagt hatte: ›In Deutschland glauben nur noch Narren an den Sieg‹, was den Feinden gegenüber besagte: Wir sind besiegt und wissen es; dem Deutschen Heer gegenüber: Wozu kämpft und blutet ihr noch? – es ist doch ganz nutzlos. – Und wie hätte Hertling sich unterstehen dürfen, seinen Parteifreund Erzberger anzupacken, der fortgesetzt die Feinde wissen ließ, der Tauchbootkrieg könne uns nicht retten, das wisse er ganz genau, und der den Feinden auf dem kleinen Umweg über den Hauptausschuß des Reichstags, dem auch polnische Abgeordnete angehörten, stolz auf sein Wissen und seine Wissensquelle mitteilte, er habe von der Kaiserin Zita erfahren, daß Österreich vor dem Zusammenbruch stehe und nicht weiter kämpfen wolle.

Dies ist keine Weisheit von der Treppe, sondern dies wußte jeder denkende Deutsche, der das Entscheidungsjahr 1917 aufmerksam beobachtend durchlebt hatte. Aber Hertling war ja auch der Reichskanzler, unter dem der Staatssekretär des Äußern Herr von Kühlmann im Reichstag den Feinden offenbarte, daß er und mit ihm das amtliche Deutschland nicht mehr an den Sieg der Deutschen Waffen glaube. Er kleidete diesen Landesverrat in die Worte: ›Bei der ungeheuern Größe dieses Koalitionskrieges [d. h. bei der Übermacht unsrer Feinde] und bei der Zahl der in ihm begriffenen Mächte kann durch rein militärische Entscheidungen allein ein absolutes Ende kaum erwartet werden.‹ Die Feinde sagten sich und der Welt: Du irrst, wir werden Deutschland durch rein militärische Entscheidungen besiegen, und du selbst bist davon überzeugt, darfst es nur nicht sagen, weil dich sonst die Parteien des Reichstags, die davon ebenso überzeugt sind wie du, davonjagen.

Wenige Tage vor der Rede Kühlmanns hatte der Kaiser das Gegenteil gesagt; aber in Deutschland gab es dazumal schon längst keine wirkliche Regierung mehr, sondern Schriftstückunterzeichner: erst Bethmann, dann Michaelis und Hertling, und dann kam der Prinz Max von Baden.

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