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Karl May (1842-1912)

Unsre ›Epochanten‹ sprechen seinen Namen garnicht oder, wenn dazu gezwungen, mit äußerster Geringschätzung aus. Wägen wir die unbestreitbaren Tatsachen! May galt vor etwas mehr als 20 Jahren, nicht nur als ein bloßer Schmierer, sondern einige damals sehr groß dastehende und sich noch viel größer dünkende Führer der öffentlichen Meinung hatten Karl May als einen Rinaldo Rinaldini unsrer Zeit hingestellt. Ferdinand Avenarius, einer von Denen, die sich in kurzen Zwischenräumen bei uns als Praeceptores Germaniae auftun, der Nachfolger des Rembrandtischen Erziehers Langbehn, hatte einen Vernichtungsfeldzug gegen den Jugendverderber und einstigen Verbrecher Karl May eröffnet und hetzte den armen alten Mann in die Verzweiflung. Avenarius ist erst fünf Jahre tot und ist schon versunken; May ist 1912 gestorben und lebt, ist sogar, wie die Auflagen seiner Bücher beweisen, noch im Aufsteigen.

Ich habe Karl May nie gesehen, aber eine briefliche Begegnung mit ihm gehabt, die aufbewahrt zu werden verdient. Es war im Herbst 1906, meine Deutsche Literaturgeschichte war erschienen, worin May nicht erwähnt war, da bekam ich an einem trüben Novembermorgen zwei Briefe. Einen von meinem Verleger, worin er mir kurz, ohne ein Wort der Freude mitteilte, daß die erste Auflage vergriffen sei, die zweite gedruckt werde. Er hatte die erste Auflage eigenmächtig durch einen scheußlichen Einband verschandelt, und wir waren verkracht. Die Nachricht des schnellen Erfolges hätte mich hoch erfreuen sollen, die Hundeschnäuzigkeit des Verlegers verdroß mich. – Der zweite Brief, in einem dicken Umschlag von feinstem Papier, zeigte auf der Rückseite als Absender: Karl May in Radebeul. Ich öffnete ihn und las: ›Hochzuverehrender Herr!‹ oder ›… Meister!‹, was ich besonders liebe, und dann folgte ein Schwall gemischt aus Lobgesang und Weihrauch über mein ›unvergleichliches Werk‹, und ganze Sätze, Absätze überspringend las ich von Mays ›gleichgerichtetem Streben zum Idealen‹, von der ›Macht des Guten, Schönen, Wahren‹ – wahrhaftig ich weiß nicht mehr, was weiter, was auf der zweiten Seite der vier enggeschriebenen Großbogenseiten gestanden. In einem Anfall von tiefer Abneigung gegen solchen Schwatz nahm ich den Bogen prächtigen Papiers mit seiner liebevollen Schönschrift, zerriß ihn in der Höhe, in der Breite, noch einmal und zweimal, und warf die Brieffetzen in den Papierkorb. Dann sagte ich mir inwendig den Spruch her, den ich ein Menschenalter zuvor von Oskar Blumenthal vernommen, ein russisches Sprichwort: Was zu gut riecht, das stinkt.

Ja, so tat ich vor 23 Jahren und schreibe es heute mit bewegtem Herzen nieder. Warum ich so gehandelt habe? Es ist schwer, sich nach so langer Zeit seiner Beweggründe genau zu erinnern, Selbsttäuschungen laufen allzu leicht unter. Ich glaube jedoch, ich treffe das Richtige, wenn ich vornehmlich zwei Regungen für bestimmend halte: meinen Widerwillen gegen schwärmende, unsachliche Belobigung, und meine durch keinerlei Kenntnis, sondern nur durch Hörensagen hervorgerufene Ablehnung des Schriftstellers Karl May.

Ich hatte damals noch nie ein Buch von ihm gesehen, geschweige gelesen; ja ich hatte, ganz von meiner Arbeit hingenommen, nur sehr selten seinen Namen gehört. Die jungen Söhne eines meiner ältesten Freunde, damals wohl Tertianer und Quintaner, antworteten mir auf meine Frage nach ihrem häuslichen Lesen: Karl May! und schilderten mir die Begeisterung ihrer Mitschüler für Karl May. Meine jungen Freunde, Erich und Werner, schwärmten auch für ihn, aber Erich, der ältere, mit einer Beimischung von beschämtem Widerspruch: sein Vater, ein bedeutender Schulmann, hatte Karl May für Unsinn erklärt, aber seine Jungen gewähren lassen; jedenfalls hatte er keinen Schaden an ihren Seelen aus dem Lesen Karl Mays befürchtet. Erich und Werner blieben meine Gewährsmänner für den künstlerischen Wert Karl Mays; ihre halb begeisterten, halb verulkenden Urteile waren meine Quelle. Für meine Deutsche Literaturgeschichte war ich ausnahmelos dem Grundsatze gefolgt: über kein Werk irgendwelcher Zeit ein Wort zu sagen, ohne das Buch in der Hand, und nicht bloß in der Hand gehabt zu haben. Zwar geurteilt hatte ich, selbstverständlich, in meiner Literaturgeschichte nicht über Karl May; ohne eigne Prüfung, auf Grund von Erichs und Werners ernsten oder lachenden Urteilen, stand bei mir fest: über eine Erscheinung wie Karl May spricht man nicht in einer Geschichte Deutschen Schriftentums. Wie groß schon damals die Verbreitung seiner Bücher war, wußte ich nicht, versuchte ich auch nicht festzustellen.

Von den Angriffen gegen Karl May habe ich mich nicht bestimmen lassen, weder damals noch später. Im Gegenteil: sein Hauptangreifer Ferdinand Avenarius war mir mit der Zeit dadurch auf die Nerven gegangen, daß er sich, nach guten Anläufen in seinem ›Kunstwart‹, immer mehr zu einem der mir tief zuwideren ›literarischen Weltregenten‹ aufwarf. Je schärfer ich seine Aufsätze nach Inhalt und Form prüfte, desto deutlicher wurde mir: hier werden auf künstlerischem Gebiet unter großem Getöse offne Türen eingestoßen, platte Selbstverständlichkeiten durch tiefsinnig tuende Satzschnörkel und überreichen Aufputz von Fremdbrocken – ›zertitudinal‹ war eine der Schöpfungen jenes Vorkämpfers der ›Ausdruckskultur‹ – als Kunstoffenbarungen verkündet. Sehr ähnlich dem Gebaren des Rembrandtdeutschen Langbehn, der gleichfalls lauter abgedroschene Wahrheiten wie unerhörte Entdeckungen vortrug. Auf sittlichem Gebiet wirkten Avenarius' anklagende und richtende Brusttöne überheblich, auf Kenner des Menschen Avenarius pharisäisch. Das große Wort ›Richtet nicht, auf daß ihr nicht gerichtet werdet', einmal nur ihm entgegengeschleudert, hätte ihm den eifernden Mund gar bald verschlossen.

Ich habe Karl Mays Brief kaum zu einem Viertel gelesen, habe ihm keine Bestätigung, keine Erwiderung gesandt. Brauche ich zu sagen, wie schmerzlich ich mein damaliges Tun und Unterlassen bereue, beklage? Nie wieder habe ich ähnlich lieblos gehandelt. Ich werde nie erfahren, was Karl May, außer den verhimmelnden Redensarten über unsern gemeinschaftlichen ›Idealismus‹, mir gesagt, um was er mich vielleicht in seinem langen Brief gebeten, was er von mir, dem ihm völlig Fremden, erhofft hat. Welch eine Mahnung für jeden, der zu wirken vermag, den Menschenbruder nicht zu mißachten, dem die Hand Ausstreckenden die Hand, lieber beide Hände zu reichen. Karl May war kein eitler Anfänger, er brauchte mich nicht als Helfer zu äußeren Erfolgen, der Gelesnere von uns beiden war er. Vielleicht hat er mich gefragt, ob ich gleich seinen Feinden und Verleumdern ihn für einen Jugendverderber hielte? Dann wäre ich gezwungen gewesen, ihn zu lesen und ein Urteil abzugeben. Ich hätte ihm gewiß bezeugt, daß in seinen harmlosen Abenteuergeschichten nichts enthalten sei, was irgendwem zu sittlichem Schaden werden könne.

Oder Karl May hat vielleicht meinen Beistand angerufen in seinem Kampf gegen die ihn hetzenden Peiniger, deren keinem er je etwas zuleide getan. Einem solchen Hilferuf hätte ich mich ganz gewiß nicht versagt. Ich hätte ihm geraten, mit rückhaltloser Offenheit vor die Welt zu treten und zu bekennen: Ja ich habe einst gesündigt; ja ich habe als unreifer Mensch schwere Verfehlungen begangen; ich schäme mich ihrer, aber ich habe furchtbar dafür gebüßt und leide in meinem Herzen noch immer um meine befleckte Jugend. Jetzt aber ist mein Leben rein; seit einem Menschenalter habe ich nichts getan, was mir zur Unehre, einem Nebenmenschen zum Schaden gereichte. Wenn Menschen mich vor allem Volk anklagen wollen ob meiner Sünden in einem längst überwundenen Leben, so darf ich zu ihnen sprechen: ›Wer unter euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein auf mich!‹ Tritt vor, Ferdinand Avenarius, hebe deinen Stein, du Sündenloser, wirf ihn und töte mich! –

Jener Brief Karl Mays war so schön und sorgfältig zu Papier gebracht, daß er wie die fast künstlerische Reinschrift einer Vorlage aussah. Ob seine Witwe nicht noch den Entwurf bewahrt? Ich gäbe viel drum, könnte ich ihn jetzt lesen. Aber der Selbstvorwurf, gegen einen Bruder in Seelennot unbrüderlich gehandelt oder unterlassen zu haben, würde dann noch schwerer auf mir lasten. Unwiderbringlich, unwiderruflich! ›Die Pein des unerfüllten Wunsches ist klein gegen die der Reue; denn jene steht vor der stets offenen unabsehbaren Zukunft, diese vor der unwiderruflich abgeschlossenen Vergangenheit‹ – sagt Schopenhauer, aber er tröstet mich nicht.

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