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Reichskanzler Michaelis (Geboren 1857)

Es gibt für den Durchschnittsbürger, selbst für den gebildeten und öffentlich bestrebten, gar zu viel, was er eigentlich wissen sollte, aber nicht weiß, nicht wissen kann, weil es eben für einen Menschen zu viel ist. Solches Nichtwissen und Nichtwissenkönnen rührt daher, daß die Quellen, aus denen das Wissen zu schöpfen wäre, gar zu reich fließen.

Über den erstaunlichen Reichskanzler im Weltkriege Michaelis herrscht beim Deutschen Volk, zumal bei den Gebildeten, den sich mit dem Staatsleben des Vaterlandes Beschäftigenden das Urteil: Unfähig bis zur Lächerlichkeit. Dieses Urteil stützt sich auf die Tatsache des gänzlichen Versagens, der Unmöglichkeit schon nach wenigen Tagen, der ›Erledigung‹ schon nach drei Monaten. Der dem Staatsbetrieb Fernstehende weiß aber nicht, nun gar heute nach zwölf Jahren, wer jener Herr Michaelis war, woran man dessen Unfähigkeit erkennen, ihren Grad abschätzen soll. Ist es da nicht ein wahrer Segen, daß der Mann, der ausersehen wurde, Bethmann Hollwegs Erbschaft zu übernehmen, sich selbst für Mit- und Nachwelt so geschildert hat, wie kein Andrer es vermöchte, sodaß wir ein auf granitnem Grund ruhendes Urteil gewinnen können? Georg Michaelis hat sein Leben und seine Taten beschrieben in einem Buche ›Für Staat und Volk. Eine Lebensgeschichte‹ (1922). Nun, er hat den in höchster Gefahr stehenden Deutschen Staat nicht gerettet, er hat das Deutsche Volk nur noch tiefer in den Abgrund stürzen helfen. Wodurch? Es ist unmöglich, aber auch überflüssig, seine Leistungen und Nichtleistungen im Einzelnen zu untersuchen, und es wird immer schwer fallen, den ursächlichen Zusammenhang zwischen diesem Fehler und jener verderblichen Folge überzeugend nachzuweisen. Das ist aber gar nicht nötig; es genügt, daß Michaelis, der nach seinem eignen Bekenntnis unfähig war, Deutschlands Schicksal im Weltkriege auf sich zu nehmen, es dennoch auf sich genommen hat. Dies ist der Vorwurf, den er in der Geschichte von Deutschlands ›Staat und Volk‹ für immer zu tragen hat.

Ja er hat gewußt, daß er für das Amt, das den fähigsten, den stärksten Mann verlangte, weder genügend fähig, noch genügend stark war, und er hat es trotzdem, ohne Widerspruch, übernommen, als ob es sich um das Amt eines Provinzpräsidenten im Frieden handelte. Hören wir ihn selbst, in wortgetreuer Wiedergabe: ›Irgendeine offizielle Fühlungnahme [vor dem Anerbieten der Kanzlerschaft] erfolgte nicht, und so glaubte ich schon, die Wolke (!) ginge an mir vorüber, und ich ließ meine Frau wieder nach Pinnow, dem Gut der Schwester, reisen. Da rief am Nachmittag des 13. Juli der Generaloberst von Plessen durch Fernsprecher an, ob ich zu Hause sei, und kündigte mir für eine Stunde später den Besuch des Chefs des Geheimen Zivilkabinets des Kaisers von Valentini an. Nun wußte ich, was kam (!). Das war die schwerste Stunde meines Lebens‹ (!). – Und nun kein Wort über das strenge innere Abwägen zwischen ungeheurer Aufgabe und eigner Fähigkeit, kein Wort über die messerscharfe Selbstfrage: Traust du dir zu, Deutschland zum Siege gegen die Welt zu führen? – denn um keine geringere Frage drehte es sich in jener schwersten Stunde seines Lebens; sondern dreist und gottesfürchtig, vielmehr angeblich gottesfürchtig und zweifellos furchtbar dreist dachte und handelte Herr Michaelis so: ›Kein Mensch war da [gab es nicht sehr viele Menschen in nächster Nähe, die zu befragen waren?], aber Gott war bei mir.‹ Dies wagt ein sterblicher Mensch, der den größten Mißerfolg gehabt und verschuldet hat, nach fünf Jahren niederzuschreiben! – ›In den Losungen der Brüdergemeinde, die mir, wie Tausenden, einen täglichen Geleitspruch auf der Lebensfahrt geben, stand für den Tag Vers neun aus dem ersten Kapitel des Buches Josua: ›Siehe, ich habe dir geboten, daß du getrost und freudig seiest. Laß dir nicht grauen und entsetze dich nicht; denn der Herr, dein Gott, ist mit dir in allem, was du tun wirst.‹ Also weil in einem Buche von Menschen, den ›Brüdern‹, zufällig für diesen Tag dieser Spruch verzeichnet steht, hält sich Herr Michaelis für berechtigt, das Amt zu übernehmen, für das er sich offenbar nicht befähigt fühlte. Dann kommt der kaum glaubliche Satz: ›Ich war auf den Abgesandten des Kaisers gerüstet.‹ Er war gerüstet, weil in einem gedruckten Buche von Menschen zufällig für den 13. Juli jener Satz aus dem Buch Josua verzeichnet stand! Jetzt konnte es ihm gar nicht fehlen, jener Spruch berechtigte ihn, das Amt zu übernehmen, dem er nicht gewachsen war, und er übernahm es, ›wie ich es verstehe‹.

Versuchen wir Menschen, die wir unsre wichtigsten Entschlüsse nicht aus dem Buch Josua schöpfen, uns den Geisteszustand jenes Herrn Michaelis vorzustellen. Leicht ist das nicht, aber es ist notwendig, um eins der grausigsten Blätter im Buche Deutscher Geschichte zu verstehen. Etwa folgendes ist in jenem Gehirn vorgegangen: Ich bin ein sehr befähigter Verwaltungsbeamter, dies wird mir von allen Seiten versichert, und ich glaube, ich bin es wirklich. Die Aufgabe jedoch, als Reichskanzler Deutschland zum Siege über die Welt zu führen, geht über mein Wissen und Können, geht über alle meine Kraft. Hier klafft eine Lücke. Aber ist nicht Gott da? Ist er nicht dazu da, mir, der ich an ihn und seine Hilfe glaube, zu helfen? Muß er mir nicht helfen? Wird mir die Bestätigung nicht aus dem Vers neun im ersten Kapitel des Buches Josua? Ist heute nicht der 13. Juli, und steht dieser Spruch nicht grade für den 13. Juli da? Ist das nicht Beweis genug, daß Gott selbst die Worte dieses Verses zu mir spricht? Ich habe zwar noch nie teilgehabt an der Regierung eines großen Reiches; die Führer der Feinde: Clemenceau, Lloyd George, Wilson und die Andern – alle sind furchtbare Kerle, ihre vereinigte Macht ist der Deutschen überlegen; ich habe nie zu tun gehabt mit der Leitung des Auswärtigen, ich fühl's, ich bin nur ein tüchtiger Getreidekommissar; aber du mein Gott, der du schon der Gott des siegreichen Josua gewesen, wirst alle meine Mängel durch dein Eingreifen ausgleichen; du bist mein Verbündeter, auf keinen Fall der unsrer bösen Feinde, die keine Losungen der Brüder haben. Es kann mir nix gschehn!

Ob Michaelis diesen Gedankengang genau mit diesen Worten durchschritten hat, weiß er selber nicht, aber der Endpunkt seines Gedankenganges war der, den wir kennen: er fühlte sich befähigt, berufen und auserwählt, Deutschlands Schicksal, das Schicksal eines Staatsvolkes von 67 Millionen, das Schicksal des ganzen germanischen Astes am Baum der Menschheit, eine Gesamtheit von 100 Millionen, auf sich zu nehmen, weil ihm ein Vers im Buche Josua die Gewißheit – es muß Gewißheit gewesen sein – gegeben hatte, daß er, Georg Michaelis, das Deutsche Volk zum Siege über die Welt der Feinde führen werde. Um welcher besonderen Verdienste willen? Nun, das ist doch sehr einfach: weil ich, Georg Michaelis, sonst unfähig, an Gott glaube, auf seine Hilfe baue, und weil mir die Gewißheit dieser Hilfe aus dem Vers neun im ersten Kapitel des Buches Josua gegeben worden. Bedarf es darnach einer noch größeren Gewißheit? Es ging genau so zu wie in der Seele Bethmanns, der sich selbst auch unzulänglich fühlte, aber sich auf Gottes Beistand verließ.

Dem, der das Buch Josua zwar achtet, aber die Verantwortung für Schicksalsentscheidungen nicht darauf stützt, selbst wenn zufällig in dem Abreißkalender ein Vertrauen einflößender Spruch aus dem Buch Josua grade für diesen Tag abgedruckt steht, dem stellen sich bei des Herrn Georg Michaelis geschildertem Geisteszustand alle naheliegende Vergleichsbilder dar: die Wahrsagerin aus den Karten oder dem Kaffesatz, das Abzählen der Knöpfe, das Traumbuch für das Lotto der Italiener, die Medizinmänner der Fidschi u. s. w. Was Herr Michaelis in jener schwersten Stunde seines Lebens mit so verblüffender Leichtigkeit begangen hat, war in ungeschminkten Worten: Er hat mit dem Schicksal seines Vaterlands in der Lotterie des Abreißkalenders gespielt und er hat das Spiel verloren. Man kann aber noch strenger urteilen: Wer sich in solches Verhältnis zur Gottheit setzt, der lästert Gott, der zieht Gott in das Spiel der menschlichen Nichtigkeiten herab, der maßt sich in unerhörter Überhebung – die Alten sagten Hybris – an, den Willen Gottes aus einem zufälligen Papierschnitzel zu erkunden und daraufhin ein Weltenschicksal auf seine Zwergschultern zu laden.

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