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Emil Zola (1840-1902)

Nahezu 23 Jahre hat mich mit Zola eine freundliche Bekanntschaft verbunden, von der ich bei der erschütternden Nachricht von seinem jähen Tode erst recht bedauerte, daß ich sie nicht besser gepflegt hatte. Er selbst hatte den ersten Schritt zu dieser Bekanntschaft gemacht, indem er mir im Herbst 1879 die Aushängebogen zu seinem Roman ›Nana‹ schickte, der damals im Beiblatt der neubegründeten Pariser Tageszeitung ›Le Voltaire‹ zu erscheinen begonnen hatte. Ich war der Herausgeber des ›Magazins für Literatur‹ geworden, und meine schriftstellerischen Neigungen wandten sich entschieden der ansteigenden Richtung des echten Lebensromans, des ›realistischen‹ zu, aber dessen, der von Könnern, nicht von Nachstümpern herrührte. Mich empörte das durch einen großen Teil der europäischen, zumal der Deutschen, Presse ertönende Indianergeheul wegen der angeblich durch Zola, besonders durch seine ›Nana‹, bedrohten und beleidigten ›Moral‹. Mir erschien dieser Roman Zolas als das Sittlichste im höheren Sinne, was er bis dahin geschrieben, denn ich sagte mir: angesichts der allbeherrschenden, sich in keinem andern Lande der Welt wiederholenden Rolle der Dirne im Leben Frankreichs oder doch seiner Hauptstadt, muß es als eine sittliche Tat anerkannt werden, eine Modedirne in ihrer ganzen unverhüllten ruchlosen Gemeinheit zu schildern, ohne den kleinsten Schimmer beschönigenden Glanzes, ohne die Spur einer Liebesromantik, wie sie sonst bei den französischen Dichtern von Stoffen aus dem Dirnenleben, bei Prévost d'Exiles, Dumas Sohn, Victor Hugo und Andern die Regel gewesen. So hatte einst Hogarth in einer Reihe berühmter Bilder den Lebensgang der Buhlerin gemalt, und nie ist es einem vernünftigen Menschen eingefallen, dem Maler daraus einen sittlichen Vorwurf zu machen. Ich war einer der Ersten, die zu jener Zeit auf diese einfache Wahrheit hinwiesen, indem ich Zolas Vorwort zu ›Nana‹ abdruckte, und ich bin seitdem nicht andern Sinnes geworden. Durch meinen Abdruck im ›Magazin‹ zog ich mir den sittlichen Zorn des in Leipzig regierenden Literaturpabstes Rudolf Gottschall zu, der in seiner blumenreichen Sprache den Blumenkohl gegen mich verfertigte, daß ›von der schmutzigen Brühe der Seine einige Tropfen bis zu den Ufern der Spree gesprützt seien‹. So, nie anders, nie ohne Blümelein, drückte sich Rudolf Gottschall aus und hielt sich für ›einen der größten Stilisten Deutschlands‹, wie sie bekanntlich in jedem Zeitalter zu Dutzenden bei uns ›blühen‹. Ich ließ ihm durch einen Mittelsmann sagen, ich wohnte gar nicht an den Ufern der Spree, sondern an einem der zwei Ufer des ›Schiffahrtbaukanales‹. Darnach werde ich ihm wohl nicht bloß unsittlich, sondern ungeistreich erschienen sein.

Aus jenem Abdruck und meiner folgenden Besprechung von ›Nana‹ im ›Magazin‹ entspann sich ein Briefwechsel, der durch die langen Jahre ging und nach großen Unterbrechungen immer wieder angeknüpft wurde.

Als ich im Spätsommer 1882 in der Pariser Staatsbücherei an den letzten Abschnitten meiner Geschichte der französischen Literatur arbeitete, lud mich Zola, der damals, wie regelmäßig im Sommer, auf seinem Landsitz in Medan lebte, zum Besuch ein. Ich folgte seiner Einladung gern, denn wer hätte mich Zuverlässigeres über ihn selbst und seine ›realistischen‹ Freunde lehren können? Für wissenschaftlich gilt solch unmittelbares Schöpfen aus den Lebensquellen in Deutschland nicht: hier enthalten nur die gedruckten Werke – ›die Texte und die Kommentare‹ – die eigentliche Wissenschaft, denn nur aus Texten und Kommentaren kann man ›zitieren‹ und Anmerkungen machen. Dennoch habe ich für meinen Abschnitt über Zola und seine Zeitgenossen, z. B. Daudet, meine menschlichen Kenntnisse mitverwertet, weil ich grade sie, die wahres Wissen sind, für wahre Wissenschaft halte. Mit den Jüngstdeutschen von 1885, mit Liliencron, Heyse, Raabe, Keller und manchen Andern habe ich es nachmals für meine Geschichte der Deutschen Literatur ebenso gehalten. Eckermann hat von Goethe mehr gewußt als Düntzer, ja sogar als Gundolf, der alles weiß. – Dies nebenbei; doch warum soll man beim Rückblick auf ein Leben nicht auch zuweilen aufs Nebenbei gucken?

An einem Sonntagnachmittag – die große Staatsbücherei war ja geschlossen – machte ich mich auf den Weg. Ein wütendes Gewitter hatte die zum Teil ungepflasterten Dorfstraßen von Medan aufgeweicht, und ich langte bei Zola mit einem beträchtlichen Teil französischer Erde an meinen Stiefeln an. Zolas Landhaus erinnerte an feine englische Häuser dieser Art. Ein sehr schmales Treppchen führte aus der mäßig großen Eintrittshalle zu seinem im Obergeschoß liegenden Arbeitszimmer oder vielmehr Arbeitssaal. Englischer Bau mit chinesisch-japanischer Ausschmückung – das war damals der Stil seines Landhauses, und gemeinsame Bekannte haben mir später berichtet, daß die Freude Zolas am bunten Krimskrams in seinen Wohnungen mit den Jahren nur noch gestiegen war.

Der Arbeitssaal mit seinen ungewöhnlich großen Fenstern ließ den Blick über das herrliche Tal der Seine schweifen; man sah und hörte, in ziemlicher Entfernung, die Züge der Westbahn dahinbrausen, und als ich zu Zola bemerkte, daß hier doch von ländlicher Einsamkeit und Arbeitsstille nicht die Rede sein könne, erwiderte er mir: ›Im Gegenteil, völlige Stille wünsche ich nicht; ich muß irgendwo das große Leben der Außenwelt sich rühren sehen, denn meine Romane leben ja in dieser Welt.‹

Zola war damals noch schwarzhaarig, in der Blüte der Mannesjahre, erst 42 alt. Er war stärker als in späteren Jahren und machte auf den ersten Anblick, mittelgroß wie er war, den Eindruck eines derb vierschrötigen Mannes, zugleich den großer Kraft des Willens und der Tat.

Den halben Tag, den ich mit ihm zubrachte, füllten wir fast ausschließlich mit Gesprächen über die Bewegung in der französischen und Deutschen Literatur jener Zeitspanne. Es ging dem großen Zola wie den allermeisten französischen Schriftstellern: über die Grenzen Frankreichs hinaus reichte sein literarisches Wissen nicht, wie er denn auch kein Wort Deutsch oder Englisch wußte. Seine Unwissenheit erstreckte sich nicht bloß auf die fremden Literaturen der Gegenwart, sondern er wußte auch von der Weltliteratur vergangener Zeiten sehr wenig.

Das Erste, was er beim Empfange mir Gutes antat, war die Einladung, meine lehmigen Stiefel auszuziehen, sie dem Diener zur Reinigung zu übergeben und ein paar molliger japanischer Hausschuhe anzuziehen. Alsdann lud er mich ein, mich auf einem Ruhebett auszustrecken, er tat desgleichen auf einem benachbarten, und so haben wir liegend einen seiner berühmten literarischen ›Nachmittage von Medan‹ zugebracht.

Seine Wißbegier, über neuste Deutsche Literatur, über das, was sich in ihr an neuen Gedanken und Formen etwa regte, Näheres zu erfahren, war gradezu auffallend. Mit manchem Deutschen Besucher, z. B. Nordau, M. G. Conrad, hatte er ähnliche Gespräche geführt. Nordau hatte ihn gut, Conrad schlecht unterrichtet; dieser hatte die ganze große Literatur des Silbernen Zeitalters in Deutschland als nicht in Betracht kommend dargestellt. Ich spreche über jene Kurzsichtigkeit in meiner Deutschen Literaturgeschichte (Band 2, S. 291). ›Sie sehen, so begann Zola zu mir, un gros ignorant (wörtlich) gegenüber Ihrer Literatur, aber so sind wir Franzosen fast alle. Man hat mir viel Merkwürdiges und Schönes davon berichtet, besonders mein Freund Turgeniew, aber aus eigner Kenntnis weiß ich nichts davon und Übersetzungen mag ich nicht lesen, sie sind meist schlecht.‹ Er kannte die Namen Spielhagen und Oërback (Auerbach), aber nur die Namen, und daß der Erste Stadtromane, der Zweite Dorfgeschichten geschrieben habe. Von Storm, von Keller – nie etwas gehört. Er gestand mir offen ein, daß ihn manchmal der Gedanke überfalle, wie lächerlich eigentlich das französische Literaturleben sei mit der chinesischen Unwissenheit in zeitgenössischer fremder Dichtung, und wie es wohl möglich sei, daß, während man sich in Frankreich einbilde, der Nabel der literarischen Welt zu sein, irgendwo draußen – › là-bas‹ – Männer lebten und schrieben, deren Werke nach einiger Zeit selbst von den Franzosen hoch über die eigne gleichzeitige Literatur gestellt werden würden. Er selbst führte als Beispiel an: Goethes und Schillers Wirken um die Wende des 18. Jahrhunderts zum 19ten, wo man in Frankreich bis zu dem Buche der Frau von Staël – er hatte es kürzlich zum ersten Mal staunend gelesen – kaum eine Ahnung gehabt hätte von der großen Literaturbewegung in Deutschland.

So nahm ich denn diesem klarblickenden Franzosen gegenüber kein Blatt vor den Mund mit meiner schon damals gehegten, immer neu bestärkten Überzeugung, daß Deutschland das erste Literaturland der Welt grade in der Erzählung sei, und daß die andern Völker dereinst mit Beschämung zu dieser Erkenntnis kommen würden. Ich sagte ihm im Jahre 1882, daß vor allem Deutschland in der Novelle, oder wenn er wolle im Kurzroman, alle Völker der Erde übertreffe, und da ich die Novelle für die schwierigste aller Kunstformen hielte, so wäre das ein feiner Ruhm. Ich fügte hinzu: Die Deutschen in ihrer krankhaften Bescheidenheit in Kunstfragen wüßten garnichts von ihrer Vorrangstellung in der Novelle. Zola hörte meine Verwegenheiten mit einem nachsichtigen Lächeln höflich an. Nach manchem Jahr erfuhr ich von Deutschen Besuchern Zolas, daß er mein Urteil nicht vergessen hatte. Nordau sagte mir im Anfang der 90er, als der Ruhm der großen Deutschen Novellendichter bis nach Frankreich und zu Zola gedrungen war, daß dieser ihm von dem Monsieur Angèle gesprochen, der ihm schon vor zehn Jahren die Deutsche Novelle als die erste der Welt gepriesen habe. Er war ebenso belehrbar wie unwissend.

Zola führte mich an seinen Arbeitsplatz, zeigte mir die letzten geschriebenen Blätter seines Romans › Au bonheur des dames‹ und erklärte mir seine Arbeitsweise. Auf einem Stehpult lag ein Stoß gleichförmig geschnittener Schreibeblätter in Viertelbogengröße. ›Sehen Sie, sagte Zola, ich bin von Natur eigentlich grundfaul, und meine Neigungen würden mich sicher nicht befähigen, irgendetwas fertigzubringen, wenn ich mir nicht Gewalt antäte und kleine Hilfsmittel für meinen Willen anwendete. Ich habe mir selbst ein bestimmtes Arbeitsziel, eine Leistung nach Seitenzahlen auferlegt und habe es dadurch erreicht, dieses › Pensum‹ unter allen Umständen, auch bei körperlichem Mißbehagen, auch bei ausgesprochener Arbeitsunlust fertigzubringen, wie der Sträfling im Zuchthaus eine bestimmte Menge Wolle zupfen muß. Mißlingt es mir, wegen eines unüberwindlichen Hindernisses, mein Pensum hinzuschreiben, so fühle ich mich kreuzunglücklich und hole das Fehlende am nächsten Tage ein. Ich schreibe nicht viel täglich, aber 6 dieser Seiten Tag für Tag geben in 5 Monaten einen gedruckten Band. Bis jetzt habe ich diese selbstauferlegte Strafarbeit pünktlich geleistet‹ – und er zeigte mir in einem Holzkasten mit der ungefähren Grundfläche der Blätter der Handschrift einen Stoß beschriebener Blätter, fast ohne jede Änderung, der sich damals etwa auf 400 belief.

Den Gegenstand seines Romans › Au bonheur des dames‹ hatte ich durch häufige Besuche in den großen Pariser Warenhäusern Louvre und Bon Marchê kennen gelernt; es leuchtete mir aber nicht sogleich ein, wie aus dem Leben in jenen Riesenbasaren ein Roman entstehen könne. Ich frug: ›Wer sind die Helden des Romans?‹ – ›Das ist sehr einfach, erwiderte Zola, man braucht mitten in dieses Leben der Lappen ( vie des chiffons) nur zwei Menschen zu setzen, ein Männchen und ein Weibchen (› un mâle et une femelle‹), so hat man den Roman.‹ Dabei lachte er so herzlich, wie ich ihn nicht wieder habe lachen hören. – Wer das Männchen und wer das Weibchen, verriet er nicht, und ich erriet es nicht. Als er mir im Spätherbst den gedruckten Band schickte und ich ihn las, fand ich schnell Männchen und Weibchen und war verblüfft durch die sehr einfache Lösung der Aufgabe. › Au bonheur des dames‹ ist mir stets als sein bestes Werk erschienen, vielleicht wegen der Erinnerung an jenen Besuch bei dem Verfasser.

Ja ich habe Zola lustig lachen hören; der Grundzug seines Wesens war tiefer Ernst, ja bei oberflächlicher Bekanntschaft erschien er beinah brummig. Er hatte nichts von der südfranzösischen Art, zu der er dem Blute nach gehörte. Welch tiefes, starkes Gefühl unter dieser gleichmäßig ernsten Oberfläche glühte, das erfuhr die ganze Welt durch den Dreyfus-Handel. Aus jener Zeit und nach dem Abschluß der fürchterlichen Begebenheit erhielt ich von ihm in weiten Zwischenräumen kurze Nachrichten, Grüße, Zurufe, meist nur auf Besuchskarten. Ich war einer der Wenigen, die die Richtung seiner Flucht aus Paris, oder Versailles, nach seiner Verurteilung wegen des offenen Briefes › J'accuse!‹ erfuhren, denn zu meiner Überraschung erhielt ich eines Tags einen Brief mit der unter Tausenden sofort zu erkennenden klobigen Handschrift auf dem Umschlag und mit einer englischen Marke, nicht aus London. Darin aber kein Wort über die Tagesfrage, sondern außer einem Grußwort nur noch der kurze Satz, der mich ungemein erfreute: ›Ich lese Taines Englische Literatur und gedenke des Nachmittags in Medan‹. So war ihm denn in der Aufregung der Tage und nach so vielen Jahren, mehr als 16, in Erinnerung geblieben die helle Wut, mit der ich Taines anmaßliche ›Erklärung‹ des Genies aus Ort, Zeit, Umgebung bekämpft und in die er damals eingestimmt hatte. Dabei bestand eine enge Verwandtschaft seiner eignen Auffassung mit der Taines, nur daß Zola mehr Gewicht auf die Erbschaft des Blutes legte.

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