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Moltke (1800-1890)

An dem unvergeßlichen 16. Juni 1871 habe ich ihn, den 71jährigen, zuerst gesehen, am Tage des Einzugs des siegreichen Deutschen Heeres in Berlin. Wer von den Erlebenden jenes Tages noch lebt, der weiß, daß es der heißeste Tag des Jahres und vieler späterer Jahrzehnte gewesen. Von meinem behaglichen Studentenplatz auf der gewaltigen Bretterbühne im Vorhof der Universität hatte ich Stunden hindurch, von 11 vormittags bis gegen 3 nachmittags, den freien Blick über den Opernplatz, auf dessen Südseite Kaiser Wilhelm, Bismarck, Moltke, alle drei zu Pferde, den Vorbeimarsch der Truppen begrüßten. Unbewegt saß Moltke alle die heißen Mittagsstunden da, strack aufgerichtet, mit der Hand am Helm, so oft ein neuer Heerhaufen vorbeizog. Ich war ein Jüngling, gemüthaft vielleicht schon, geistig noch nicht ganz auf der Gipfelhöhe der Bedeutung der ungeheuren Geschehnisse, die mit jenem 16. Juni 1871 zu einem Abschluß, oder doch Einschnitt gekommen waren. Jedoch der sinnenhafte Eindruck ist mir durch mehr als ein Halbjahrhundert geblieben: der des lebendigen Erzbildes eines weltgeschichtlichen Helden. Ich fühlte: Der, kein Andrer so sehr wie der, hat's vollbracht, nicht der König, selbst nicht Bismarck, nein keiner so entscheidend wie der!

Und dann sah ich ihn wieder, nach wenigen Jahren, und hörte ihn, und stand ihm leiblich so nah, daß ich, der Kurzsichtige, das leiseste Muskelspiel seines Antlitzes gewahren, den gedämpften Ton seiner Stimme vernehmen konnte. Sätze aus Fels gehauen, Quader an Quader, druckreif ohne Änderung – Moltke hat kaum je ein Wort in den Übertragungen der Kurzschrift seiner Reden verbessert –, ohne die Spur des Redensartlichen, das sonst das Hauptstilkennzeichen jedes deutschen, aber auch jedes andern Parlamentes ist. Man würdige Sätze wie diese schon aus dem Norddeutschen Reichstage von 1867: ›Wir wollen nicht den Krieg. Wir wollen unsere Verhältnisse im Innern in Frieden ausbauen. Wir wollen unsere Deutschen Angelegenheiten in Deutschland regeln, und wenn man uns daran hindert, so wollen wir den Krieg.‹ Das ist der Stil eines behelmten Tacitus.

Moltkes sämtliche Reden füllen ein dünnes Bändchen; er hat nur bei großen Gelegenheiten gesprochen, jedesmal unter ehrerbietiger Lautlosigkeit – ganz anders als bei Bismarcks Reden –, auch in den Reihen der Sozialdemokraten. Ich sehe noch die gespannten Züge Bebels und Liebknechts beim Lauschen auf jedes Wort Moltkes, sehe noch ihr Selbstbeherrschen beim sich regenwollenden Widerspruch, ihre tiefinnere Mannesfreude über die Wucht eines solchen Gegners. Ja das war das Heldenzeitalter des Reichstags.

Moltke sprach stets ganz frei, selbst ohne einen Merkzettel, den doch Bismarck nicht entbehren konnte. Immer von seinem Platz auf der vordersten zweisitzigen Bank rechts von der Rednerbühne, ziemlich dicht unter der Bundesratsreihe, nur etwa zehn Fuß von Bismarcks Platz entfernt. Trat der Kanzler in den Saal – nur im alten Reichstag in der Leipziger Straße, er hat den neuen Reichstagsbau am Königsplatz nie betreten –, so stieg er jedes Mal, wenn Moltke zugegen war, die paar Stufen in den Saal hinunter und schüttelte dem um 15 Jahre älteren Marschall die Hand. Die sichtbare Herzlichkeit bei solchen Gelegenheiten war auf Bismarcks Seite.

Moltke wurde achtzigjährig, er näherte sich den Neunzig ›– es war, als schlichen die Jahrzehnte scheu an ihm vorbei, ohne ihn anzurühren.‹ Noch der Hochachtziger war an jedem wichtigen Sitzungstage ein ebenso regelmäßiger und aufmerksamer Anwesender wie der Siebziger. In den letzten Jahren, etwa seit 1883, hatte sein Gehör ein wenig gelitten, drum trat er bei einer anhörenswerten Rede, etwa Bebels von der Rednerbühne herunter, auf den etwas erhöhten Platz mitten im Saal, auf dem sich das zweiseitige Pult der Stenografen aufbaute, im alten Reichstag viel einfacher, ebenerdiger als im neuen. Regelmäßig geschah dann dies: Moltke wartete, bis die Ablösung eines Stenografenpaars durch das im »Turnus« nächste erfolgt war, und stellte sich auf den Standplatz des abgelösten Stenografen rechts von der Rednerbühne, legte die Hand ans linke Ohr und stand unbeweglich lauschend kerzengrade da. Jedesmal bot ich aufstehend ihm meinen Drehsessel an, jedesmal lehnte er mit dankender Handbewegung ab und zog es vor, stehend der ganzen Rede zu folgen, manchmal länger als eine Stunde. Fast immer waren es die Redner der Linken, Richter, Munckel, Bebel, Vollmar, die ihn von seinem Platze weg an den Stenografentisch, den besten Hörplatz, lockten. So konnte ich das Bild des erhabenen Helden der Weltgeschichte mehr als einmal eine Stunde hindurch oder länger aus unmittelbarer Nähe in mich aufsaugen, ohne ein aufdringlicher Beobachter zu sein. Reglosen Gesichtes stand Moltke da, nur die Augen lebten. Die Durchschnittswitzchen des Redners – jeder Redner macht Witzchen – gruben keine Furche in dieses Denkmalantlitz. Der feingeschnittene Mund blieb festgeschlossen, die Nasenflügel zuckten nicht. Es mußte schon ein wirklich geistreiches Wort, eine besonders schlagkräftige Erwiderung auf einen Zuruf, ein ins Schwarze treffender Dichterspruch, so recht ein zündender Redeblitz sein, um Moltkes Züge in einem dünnen, zarten Lächeln erzittern zu machen, wie wenn über eine unbewegte Wassertiefe ein leichtes Oberflächengekräusel weht, für einen Augenblick, und dann wieder Meeresstille. Es war wunderseltsam: solch spärliches Lächeln des greisen Völkergeschichtemachers glich rührend dem geheimnisvollen Daseinsfreudezittern, das über ein schlummerndes Säuglingsantlitz huscht und wie ein leiser Abendhauch im Nu verweht ist.

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