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Bismarck (1815-1898)

Über ihn dürfen hier nur solche Dinge gesagt werden, die von Andern noch nicht gesagt worden; nur solche, die ich allein weiß, weil ich sie genauer habe beobachten können als alle Andre, die über ihn berichtet haben.

Soll ich hier sagen, wie er mir erschien? Ich denke, für die Geschichte hat der Beitrag eines noch so unbedeutenden Beobachters aus der Nähe seinen Wert. Ich war nicht Bismarcks Kammerdiener, einer von der Art, für die es keine menschliche Größe gibt; ich war überhaupt nicht sein Untergebener, er hatte mir in aller seiner Machtfülle ›nix tau seggen‹, denn ich hatte nur einen Vorgesetzten: den Präsidenten des Reichstags. Aber ich war in der für einen Beobachter besonders günstigen Stellung: ich sah und hörte und fühlte aus einer Nähe, die keine Abhängigkeit darstellte, und er sprach die sachlichen Worte zu mir in dem Ton des hocherhabenen, aber höflichen Mannes, der mir nichts zu befehlen hatte, doch sicher war, daß ich ohne Befehl alles tat, was ihm zweckdienlich und zugleich angenehm war. So hing es z. B. von meiner Opferbereitschaft ab, daß er schon wenige Minuten nach einer seiner langen Reden die ersten übertragenen Blätter, von mir mit meiner stenographischen Aufnahme verglichen, zur Durchsicht bekam, und daß dann die Ablieferung der ferneren Blätter nicht stockte. Das war nur dadurch möglich, daß ich trotz meiner Erschöpfung mir sogleich die Übertragung, die besonders weitläufig geschrieben wurde, vorlesen ließ, verglich, verbesserte und seinem Abgesandten, entweder dem Grafen Herbert oder dem Reichskanzleileiter Rottenburg, übergab. Bismarck wußte, daß ich das ihm zuliebe tat, und wenn er gleich nicht der Mann der liebenswürdigen Danksagungen war, – sein Verhalten gegen mich bewies, Vielen zum Erstaunen, daß er anzuerkennen wußte.

Hatte ich ihn, was oft geschah, um die Herausgabe eines von ihm verlesenen Schriftstücks, gar eines aus einem Aktenheft mit ›Geheim‹, zu ersuchen, so machte er keine Umstände. Anfangs sagte er wohl bei zwei, drei Gelegenheiten: ›Es ist geheim!‹, worauf ich erwiderte: ›Wir sind Beamte, Durchlaucht‹; dann aber gab er bereitwillig, fast freundlich, um den Dienst nicht aufzuhalten. Er hatte begriffen, was viele Abgeordnete nicht begreifen konnten, daß nur Freigesprochenes, Lebendiges wortgetreu stenographiert werden kann, nicht Geschriebenes, Gedrucktes, Totes. Um dies zu begreifen, mußte man Verständnis für das Wesen menschlicher Rede haben, – Bismarck hatte es, neben manchem andern.

Einmal, ein einziges Mal hat er mir eine bewußte Freundlichkeit erwiesen, eine Anerkennung ausgesprochen. Man weiß, wie karg er damit war, wie er das völlige Sichausgeben im Dienst für selbstverständlich ansah, nicht bloß bei seinen Untergebenen. Herbert Bismarck hat ihm dies nachgetan, an sich und an seinen Beamten, mit Schroffheit, die bei seinem Vater selten war. – Also: als ich nach seiner 2½stündigen Rede, die ich, neben ihm sitzend, ohne Ablösung aufgenommen hatte, mich erhob und an ihm vorbei über das Treppchen in den Saal schreiten wollte, hielt er mich an: ›Heute habe ich Sie wohl überangestrengt?‹ Ich sagte nur: ›Dienst, Eure Durchlaucht.‹ Er lächelte ein wenig und nickte. Er war doch eben ein Mensch. – Rottenburg sagte mir nachher: Der Fürst ist sehr gut auf die zu sprechen. – Ist das nicht eine angenehme Erinnerung?

*

Bismarcks berühmteste Rede, die vom 6. Februar 1888. – Ich habe irgendwo gelesen, Bismarck habe die Worte ›Wir Deutsche fürchten Gott, aber sonst nichts auf der Welt‹ wohlvorbereitet gesprochen. Der Schreiber dieser Behauptung kann nicht dabeigewesen sein, er war damals erst 11 Jahre alt, ist einer der vielen Geschichtschreiber, die ich Geschichtenschreiber nenne: die Tiefe ihres Gemütes ist unergründlich, und aus ihr schöpfen sie. Ich erinnere mich aufs deutlichste nicht nur jener Worte, sondern der Haltung, der Stimmung, des Zusammenhangs, woraus sie hervorgebraust sind. Ich habe schon an den nächsten Tagen über jene Augenblicke so gesprochen, wie ich es heute noch empfinde. – Ich halte hier im Schreiben inne und blicke geschlossenen Auges zurück in die Vergangenheitsferne von 41 Jahren, in den längst verschwundenen traulich schönen Saal des alten Reichstags; sehe und höre den hochaufgereckten 73jährigen Schöpfer und Träger der neuen Geschichte Deutschlands und bezeuge: jene Stelle, die noch heute nicht verhallt ist, war ja keineswegs der Abschluß der Rede, nicht ein vorher ausgearbeiteter höchster Trumpf, mit dem das politische Spiel – besonders gegen Rußland – gewonnen werden sollte, sondern, wie ich bestimmt weiß, ganz frei gesprochen, unvorbereitet, aus der Eingebung des Augenblicks. Bismarck hatte, wie zu jeder längeren Rede, so auch zu jener ein Blatt in Bogengröße mit einem losen Gerippe, nur einem Faden für die Gedankenreihe, vor sich liegen. Wie sehr oft in seinen Reden, so damals ließ er den Bogen fallen, als ihn der Blitz durchzuckt hatte, und donnerte los, wahrhaft zornig, als ob er zu einem anmaßenden russischen Botschafter spräche, auf kein Blatt blickend, nach der Mitte des Saales, aber wie ins Leere, gerichtet: ›Wir können durch Liebe und Wohlwollen bestochen werden – vielleicht zu leicht –, aber durch Drohungen ganz gewiß nicht. Wir Deutsche fürchten Gott, aber sonst nichts auf der Welt – (der Beifall unterbricht fast übermächtig, aber Bismarck will nicht unterbrochen werden, auch nicht durch Beifall, er spricht weiter, und sofort herrscht Schweigen) –: und die Gottesfurcht ist es schon, die uns den Frieden lieben und pflegen läßt.‹ Und nun erst folgt das krachende Einschlagen des Redegewitters: ›Wer ihn aber trotzdem bricht, der wird sich überzeugen –‹ usw.

Wer weiß übrigens noch, daß nach jener Rede der 88jährige Moltke sich die Stufen hinauf zu Bismarck begab und ihm strahlend vor Genugtuung die Hand schüttelte? Ich saß keinen vollen Schritt von jener Gruppe und sehe sie noch.

Bei starker Erregung, die immer über den Unvorbereiteten kam, sprach Bismarck, sonst ein mittelschneller, manchmal langsamer, ja stockender Redner – von etwa 200 Silben in der Minute –, mit einer von dem besten Stenographen das Äußerste fordernden Geschwindigkeit. Jene Gipfelstelle hat er mit der höchsten je von mir erlebten Sturzbachbewegung gesprochen, mindestens 450 Silben in der Minute. Aber die geübten, an Bismarck gewöhnten Stenographen beflügelte und trug die Welle: solche fast über die Kraft gehende Anforderungen wurden am besten erfüllt; da streifte die Stenographie die Grenzen der unbewußten Kunst, da gelangen die tollkühnsten Augenblickskürzungen, die nachher glatt entziffert wurden.

Es gibt einen bekannten Streit unter den ›Germanisten‹, ob es besser, schöner, richtiger heiße: ›Wir Deutsche‹ oder ›Wir Deutschen‹. Die Sprachwissenschaft, die echte, lehrt darüber: maßgebend sind unsre besten Schreiber. In meinem Buche ›Gutes Deutsch‹ (S. 106) sage ich darüber, was zu sagen ist. Ich schließe dort: »Daß Bismarck unzweifelhaft ›Wir Deutsche‹ gesprochen hat, dessen bin ich selbst einer der letzten lebenden Zeugen und wohl der beste: ich habe es neben ihm sitzend in amtlicher Pflicht des genauesten Aufmerkens und Vergleichens so gehört, sogleich niedergeschrieben, und Bismarck hat es nach seiner Durchsicht so in den Druck gehen lassen. Mir ist es damals als das Bessere und Natürlichere erklungen, und ich war erstaunt, als es bemängelt wurde. Der Sprachgebrauch schwankt noch, neigt sich aber, wesentlich bestimmt durch Bismarcks weithallendes Beispiel, jetzt mehr zu ›Wir Deutsche‹. Wer den Zweifel loswerden will, tut wohl, mit Luther, Lessing, Goethe, Bismarck ›Wir Deutsche‹ zu sagen, mag auch der Sprachbüttel Wustmann das ›einfach lächerlich‹ nennen. Wir finden seine Rüge doppelt ungehörig – gegenüber der Deutschen Sprache und gegenüber ihren größten Söhnen.«

*

Bismarck und der Zuruf des Abgeordneten Struve. – Der denkwürdige, für Bismarck überaus kennzeichnende Vorgang hatte sich so zugetragen. Am 4.3.1881 griff Bismarck im Reichstag, nicht etwa im preußischen Abgeordnetenhaus, die städtischen Behörden Berlins, vornehmlich den Magistrat mit seiner Steuerabteilung, heftig in breiter Ausführung an: man habe ihn, natürlich aus politischer Gegnerschaft, mit einer zu hohen Mietsteuer belegt. Die Beschwerde gehörte gar nicht vor den Reichstag, sondern allenfalls vor das Abgeordnetenhaus; aber was focht das Bismarck an?

Jeder Zuhörende, im Saal' und auf den Emporen, wußte, Bismarck war im Unrecht. Man wußte dies auch auf der Rechten, schwieg aber aus Parteihaß dazu: sie gönnten der von Bismarck angegriffenen Fortschrittspartei – auf sie war es gemünzt – jede Unbill.

Auf der Linken herrschte begreifliche Entrüstung, und aus den Reihen der Fortschrittler erschollen empörte Zwischenrufe. Kein Zwischenruf war ein Wort des Abgeordneten Struve aus einer halblauten Bemerkung zu einem Nachbarn. Dieses eine, nicht an ihn gerichtete Wort, ›unverschämt‹, hatte Bismarcks leises Ohr zufällig aufgefangen, und nun legte er los. Emporgestrafft wie ein wütend angreifender Bär ging er mit schnellen Schritten – nie hatte ich ihn so gehen sehen – an mir und der Rednerbühne vorbei hinüber bis zu der kleinen Treppe, die zur Linken hinunterführte, und sprach mit scharfbellender Stimme: ›Es hat da eben ein Herr eine unverschämte Bemerkung gemacht, der wahrscheinlich selbst keine Scham kennt. Er wird so viel Ehrgefühl haben, sich zu melden.‹ Struve rief ihm ebenso scharf zu: ›Jawohl, ich war's!‹ Der Präsident von Goßler rief Struve zur Ordnung. Er hatte das Wort gar nicht gehört und bei genauer Prüfung hätte er finden müssen, daß er kein Recht zu seinem Ordnungsrufe gehabt. Wäre die Aufregung nicht so groß gewesen, so hätte Struve der Wahrheit gemäß erklären können: Ich habe überhaupt keinen Zwischenruf für das Ohr des Redners gemacht, sondern habe ein Wort halblaut zu meinem Nachbarn gesprochen, das nur für diesen bestimmt war, nur für uns beide, nicht für die Öffentlichkeit. Wenn der Reichskanzler dank seinem scharfen Ohr zufällig dieses Wort gehört hat, so gibt ihm das kein Recht, mich zu beleidigen. – Aber wer konnte in jenem Augenblick daran denken, solche feine Unterscheidungen zu machen?

Bismarck war viel zu beherrscht, zu geistesgegenwärtig, um nicht sogleich auf die ihm dargebotene Brücke zu treten. Als Struve von dem Präsidenten mit Recht forderte, er solle nun den Reichskanzler zur Ordnung rufen, und der Präsident – man denke: Herr von Goßler! – zögerte, was er tun, was er erwidern sollte, da sagte Bismarck mit bewundernswerter Ruhe: ›Nachdem Herr Struve sich genannt hat, nehme ich natürlich meine Äußerung zurück; ich bin überzeugt, der Herr hat Scham.‹

In einer Sekunde hatte Bismarck begriffen, daß er den von ihm verschuldeten widerwärtigen Auftritt nicht weitertreiben dürfe, denn bis wohin –? Auch stand er unter dem Eindruck, daß die Stimmung des ganzen Reichstags aus sachlichen Gründen gegen ihn flutete.

Daß Bismarck in der Sache schreiendes Unrecht hatte, daß er streng nach dem Mietsteuergesetz eingeschätzt worden war, eher ein wenig zu niedrig als zu hoch, hat der Magistrat nach peinlicher Untersuchung gleich darauf mit zwingender Wahrheitskraft bewiesen, und Bismarck hat nie wieder ein Wort über seine ungerechte – und wie kleinliche! – Anklage gesagt. Der Vorfall selbst ist von keinem vergessen worden, der ihn miterlebt hat, und er darf aus keiner wahrheitsgetreuen Darstellung Bismarcks verschwinden; er war kennzeichnend für den Mann und sein Zeitalter. Sudermann hatte ihn genau beobachtet, als junger Berichterstatter für das von ihm geschriebene Parteiblättchen, von der Zeitungsempore aus; in seinem ›Jugendbilderbuch‹ widmet er jenem Miterlebnis einen großen Abschnitt, einen viel größeren als ich. Wir beide haben einst, ein Menschenalter darnach, unsre Erinnerungen verglichen; jeder hatte einiges anders gesehen als der andre, ich genauer aus der unmittelbaren Nähe, er schauspielartiger aus entfernter Höhe. Auf Sudermann hatte jener Auftritt einen unauslöschlichen Eindruck gemacht.

Ich habe Bismarck in jenen Augenblicken genau beobachtet. Ich war vielleicht der einzige Nichtaufgeregte im ganzen Hause, denn ich hatte im Kulturkampf noch ganz andre Dinge erlebt, z. B. das ›Pfui!‹ des Grafen Ballestrem gegen Bismarck im Jahre 1874. Mein Eindruck war: als Bismarck gegen die Linke losging, als ob er dreinhauen wollte, war er selbst keineswegs unbeherrscht, sondern überlegt, und hätte sich der anständige Struve etwa nicht gemeldet, was freilich undenkbar war, so hätte Bismarck noch im letzten Augenblick einen guten Abgang gefunden. Ihn hatte das Gefühl, Unrecht zu haben, schon während seiner Rede überkommen; er hatte das aus der Haltung der Rechten noch stärker gespürt als aus dem Lärm auf der Linken. Er war unsicher geworden und bereitete den Rückzug vor.

Das aber ist gewiß: wer jenen Auftritt nicht miterlebt hat, kennt nicht den ganzen Bismarck. Und wie viele solche Augenblicke enthält das Leben jedes geschichtlichen Menschen, von denen die nachgeborenen Geschichtschreiber nichts aus eignem Erleben wissen, über die sie nach Berichten Andrer schreiben müssen, und von welcher Art sind die Berichte der Wahrheitliebendsten! Weder der meine noch der Sudermanns spiegelt die unwiederbringliche Wirklichkeit haargenau. Was ist alle Geschichte? Selbst wenn sie etwas Besseres ist als Voltaires › fable convenue‹?

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9. März 1888, Vormittag, Reichstagssitzung am Todestage Wilhelms des Ersten. – Bismarck sprach seine Gedenkrede frei, ohne Hilfsblatt, aber sicher vorher genau durchdacht. Brauche ich zu sagen, daß seine Bewegung ganz echt war? So hatte ihn noch keiner gesehen oder reden hören. Er kämpfte mit den Tränen, es schluchzte in ihm, aber er wollte Herr über seine tiefe Erschütterung bleiben. Kam sie zu stark über ihn, so hielt er inne, sekundenlang, atmete schwer, fuhr fort, und so gelang es ihm, ungebrochen bis ans Ende zu kommen. Bismarck war keiner von Denen, die der alte Grieche und Goethe gute Männer nennen, weil sie Tränen haben; doch glaube ich, damals hatte er geweint, bevor er den Reichstag betrat.

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