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Kaiser Friedrich

Was ich hier erzählen will, haben etwa dreißig Männer mitangesehen. Da keiner unter 45-50 Jahren war, so lebt schwerlich noch einer. Auf sie hatte das kleine Vorkommnis wohl einen gewissen Eindruck gemacht, doch am nächsten Tage hatte jeder es vergessen, denn es war wirklich nur eine Kleinigkeit. Mich hat es damals stark bewegt; auch die paar Menschen, denen ich es berichtete. Da ich in diesem Buche nichts Allbekanntes aufwärmen will, so erzähle ich nur jenes an sich unbedeutende Erlebnis, das man sich nach Belieben ausdeuten mag.

Es gab früher in Preußen eine Behörde, die neben dem Landwirtschaftsministerium herging, zu dessen Beratung in wichtigen Fragen, etwa so wie heute der Reichswirtschaftsrat (stimmt's?) neben dem Reichstag: ›preußisches Landesökonomie-Kollegium‹ hieß sie und stammte ihrem Namen nach gewiß noch aus Friedrich Wilhelms des Ersten Zeit. Dieses Kollegium trat alljährlich einmal zu zweitägigen Beratungen zusammen, und seit meinen sehr jungen Jahren war ich im Nebenamt der Stenograf obigen Kollegii (oder … ums?). Ich nahm die Verhandlungen allein auf, es war eine sehr anstrengende Arbeit.

Seit grauen Zeiten bestand der Brauch, daß an einer der zwei Sitzungen der jeweilige Kronprinz teilnahm, zuhörte, nicht sprach. Als der Kronprinz Wilhelm während der kurzen Regierungszeit des Kaisers Friedrich dem Brauche folgend in einer Sitzung erschien, hielt er sogleich den Mitgliedern, den angesehensten Landwirtschaftskundigen, einen Vortrag.

Den Kronprinzen Friedrich Wilhelm, nachmals Kaiser Friedrich, habe ich wohl zehnmal in jenem Kollegium aufmerksam lauschen sehen. Da ich immer ihm gegenüber saß – an dem Innenbrennpunkt einer Hufeisentafel –, so kannte er mich mit der Zeit und nickte mir beim Niedersitzen einen leichten Erkennungsgruß zu. Stundenlang habe ich jedesmal ihm gegenüber gesessen, mich natürlich wohl gehütet, ihn merkbar zu beobachten. Aber wie hat sich sein Wuchs, sein Kopf, sein Ausdruck mir eingegraben!

Da geschah einmal etwas Außergewöhnliches. Ich war ein Mensch mit rückständlerischen Gewohnheiten, machte keine Neuerungen im Handwerk mit, war bei Bleistiften geblieben, als die meisten Stenografen längst zur Füllfeder übergegangen waren, – weil ich deren plötzliches Versagen in einem wichtigen Augenblick befürchtete. Ich arbeitete mit etwa sechs wohlgespitzten Stiften, die für gute zwei Stunden hinreichten, und im Notfalle gab es wohl einmal eine einminütige Pause zum Abschneiden des Holzes, denn man kann auch leidlich mit einem stumpfen Bleistift schreiben. Von mir ging die Kunde, ich könnte selbst mit einem Besenstiel stenografieren; aber das war erfunden. – Diesmal ging es hart her: die Sitzung nahm kein Ende, es war eine fabelhaft fesselnde Frage: über Stroh- oder Torfstreu.

Die Redner redeten, der Kronprinz hielt aus, ich mußte aushalten, und dabei hatte ich alle meine Stifte stumpf, ja bis aufs Holz abgeschrieben. Ich wechselte alle paar Minuten, obwohl ich wußte, daß sie alle tief heruntergeschrieben waren, und war wirklich in einer unangenehmen Lage. Dem Kronprinzen hatte der Vorsitzende – eine Exzellenz Schuhmann aus dem Ministerium – wie immer einen Bogen weißes Papier hingelegt, dazu Federmesser, Federhalter und Bleistifte. Ich äugte hinüber, aber ich durfte ja nicht wagen, mir einen der unbenutzten Stifte herüberzulangen.

Der Kronprinz, der mir in langweiligen Augenblicken früher und diesmal zugesehen hatte, mußte meine Verlegenheit bemerkt haben. Er griff nach einem der vor ihm liegenden Stifte, legte ihn wieder hin. Ich schrieb, aber ich sah es. Er will doch nicht etwa –? Ja er wollte, denn er griff wieder nach einem Stift, sah zu mir hin, – o weh, er legte den Stift wieder weg. Was wäre geschehen, wenn ich geflüstert hätte: Bitte, Kaiserliche Hoheit!, oder wenn ich nur ein kaum merkliches Zeichen mit dem Kopf gemacht hätte? Wäre der Himmel eingestürzt? Wäre ich in Ketten abgeführt worden? Ich hatte leider nie an einem Hofe verkehrt, aber das wußte ich: ein Kronprinz war kein Mensch, den durfte man nicht um Rettung bitten, selbst wenn man vorm Ertrinken stand, – so tat ich nicht muck, sondern wechselte Holz mit Holz. Es ging schwer, aber es ging, denn es mußte gehen. Und da – da –, ist es Wirklichkeit, Traum, Wunder? geschieht ›ganz was Ungeheures‹? Der Kronprinz hatte überlegt: Die Bleistifte, mit denen solch Zauberschreiber schreibt, sind nicht wie andre Stifte – meine waren gelbe ›Kohinor‹ –, dem ist nicht geholfen, wenn ich ihm einen dieser amtlichen gemeinen Stifte hinüberschiebe. Also greift Friedrich Wilhelm, Kronprinz von Preußen und des Deutschen Reichs, nach meinen stumpfen Stiften, nimmt einige, schneidet mit dem scharfen Federmesser das Holz ab, schiebt sie zu mir herüber, nimmt die übrigen, macht es ebenso und legt das Federmesser nieder.

Exzellenz Schuhmann lächelte; Schmoller zu meiner Rechten, der meine Verlegenheit auch bemerkt haben mußte, lächelte; Herr von Hammerstein-Loxten, der spätere Minister, lächelte beinah, – und ich? Ich war gerettet, aber freudig verwirrt. Was tun? Ein Zeichen meiner Dankbarkeit? Ich muß doch wohl ein geborener, nur nicht zur Entwicklung gediehener Hofmann gewesen sein, denn ich tat das Einzigrichtige: ich hatte garnicht bemerkt, was der Kronprinz getan hatte, durfte es nicht bemerkt haben, denn der Kronprinz wußte, wie dankbar ich ihm für seinen reizenden Einfall war. – Und plötzlich war die Sitzung aus, Exzellenz Schumann war berühmt wegen seiner schnellen ›Aktschlüsse‹; der Kronprinz erhob sich, wir alle erhoben uns, verneigten uns, er grüßte huldreich, liebreich, als wäre er der freundwillige Bruder eines jeden, und verließ, von dem Vorsitzenden geleitet, den kleinen Saal im Obergeschoß des alten Reichstags.

Soll ich noch etwas hinzufügen? Ich denke, nein.

*


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