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Ein auf den ersten Blick für die meisten Leser halbsinnloses Wort; ›Kritiker‹ ist sofort verständlich. Siehst du, sagt der begeisterte Verteidiger des Urrechts jedes gebildeten Deutschen auf undeutsche Sprache, siehst du, daß das Fremdwort besser, daß es unentbehrlich, das Deutsche Wort unverständlich ist! – Als ob ich nicht wüßte, daß ein ausschließlich gebrauchtes fremdes Wort mit der Zeit das beste Deutsche Wort überwuchert, vernichtet, tottritt. In meiner ›Deutschen Stilkunst‹ spreche ich sehr ausführlich von dieser furchtbaren Gefahr für unsre Sprache. Zum Glück steht es so: sowie man das gute Deutsche Wort zu gebrauchen den Mut hat, sowie man es standhaft gebraucht, stellen sich Ohr und Verständnis des Deutschen Lesers überraschend schnell aufs Deutsche um; ja nach einiger Zeit klingt das fremde Wort fremd, seltsam, lächerlich. Dieser Gesundungsvorgang konnte schon in Hunderten von Fällen beobachtet werden: so oft ein gutes Deutsches Wort ein fremdes verdrängte. Man denke nur an: Rad für Veloziped, einschreiben für rekommandieren, Sternwarte für Observatorium, verantwortlich für responsabel (ja, so, nur so hieß es ehemals).
Besprecher nenne ich in meinem Falle die ›Bücherkritiker‹, also die Verfasser von Anzeigen neuer Bücher in Zeitungen und Zeitschriften. Wie ein guter, d. h. ein ehrlicher und gescheiter Besprecher vorgehen soll, das haben Lessing, Goethe, Schiller durch Ermahnungen und Beispiele gelehrt. Die guten, d. h. die ehrlichen und gescheiten Besprecher haben von ihnen gelernt, die andern – machen es anders. Die Ermahnungen unsrer Meister, die zugleich ausgezeichnete Besprecher waren, lauteten etwa so, in der musterhaften Zusammenfassung Goethes: ›Die produktive Kritik fragt: Was hat sich der Autor vorgesetzt?, ist dieser Vorsatz vernünftig und verständig?, und inwiefern ist es gelungen, ihn auszuführen?‹ (in einer Besprechung von Manzonis Drama ›Carmagnola‹). Es gibt viele Deutsche Besprecher, denen diese Sätze Goethes unbekannt sind, die aber dennoch in ihrem Sinne handeln. Es gibt aber Besprecher, deren einziges Ziel nicht die Wahrheit über ein Buch, sondern das Zurschaustellen ihrer vermeintlichen Überlegenheit über den Verfasser ist. Sie untersuchen nicht, was sich der Verfasser vorgesetzt hat, denn dazu müßten sie sein Buch lesen. Das Lesen eines Buches kostet Geduld, Mühe, Zeit, Nachdenken –: diese Opfer wollen gewisse Besprecher nicht bringen, weil ihnen das Buch, gleichviel ob gut, mittel, schlecht, ganz gleichgültig ist. Sie selbst sind sich die Hauptsache, sich selbst nur besprechen sie, von ihnen selbst soll der Leser erfahren, sie selbst soll er bewundern.
Der unbedarfte Leser fragt: Gibt es denn Besprecher, berufsmäßige, die so gewissenlos sind, über ein Buch zu schreiben, das sie nicht gelesen haben?, ist solche bodenlose 6emeinheit bei gebildeten, gelehrten Menschen möglich?, und wenn es ausnahmsweise solchen Burschen geben sollte, kann man ihm nicht sein verbrecherisches Handwerk legen? – Der Leser rege sich nicht auf! Er hat jedenfalls weniger Grund als die zahlreichen Schriftsteller, die mit solchen Besprechern zu tun haben. Ich glaube, es gibt in Deutschland nicht einen einzigen Schriftsteller, der nicht die Namen von bekannten Besprechern nennen könnte, die nachweislich, vor jedem Gerichtshof beweisbar, das besprochene Buch nicht gelesen hatten. Wobei zu bemerken: ein nur angeblättertes, ein noch nicht zu einem Zwanzigstel gelesenes Buch muß als ungelesen gelten. Mit einer Ausnahme: wenn ich ein Buch aufschlage, Roman, Wissenschaft, Literaturgeschichte, und finde auf den ersten Seiten grobe Sprachfehler, kitschige Fremdwörter, unverständliche Satzbildung, so kann ich aufhören zu lesen, darf aber doch besprechen, nämlich sagen: ich habe aus dem und dem Grunde nur die ersten Seiten gelesen. Ein so ehrenhafter Mann wie Paul Heyse hat dieses Verfahren für gewisse Fälle gerechtfertigt, ja empfohlen –:
›All seine Werke mußt du kennen,
Gerecht zu schätzen des Mannes Wert.‹
Darf ich den Wein nicht sauer nennen,
Eh ich das ganze Faß geleert?
Die Beispiele, die ich anführe, sind aus der Erfahrung an eignen Büchern gesammelt. Ich denke nicht daran, sie zu verallgemeinern, beklage mich auch nicht über sie, denn –
Übers Niederträchtige
Niemand sich beklage,
Denn es ist das Mächtige,
Was man dir auch sage.
Erstaunlich aber ist jedes Beispiel, und wenn der Leser dergleichen für unmöglich hält, weil er den Literaturbetrieb für eine ehrliche menschliche Angelegenheit hält, so macht sein Glauben ihm Ehre, aber zu helfen ist ihm nicht.
Ich habe ein Buch geschrieben mit dem Titel ›Was bleibt?‹ – nämlich von den Werken der Literatur. Darin spreche ich von allen Hauptschöpfungen der Völker durch drei Jahrtausende, untersuche die Gründe ihres Bleibens oder Vergehens. Jeder Leser, jeder Besprecher hat das Recht, anders zu urteilen als ich, und selbst den schärfsten Widerspruch gegen jedes meiner Urteile muß ich hinnehmen. Nie ist es mir in den Sinn gekommen, das Recht solches Widerspruches anzutasten. Was aber sagt der Leser zu einem Besprecher, der mich für einen so unwissenden Menschen erklärt, daß ich nicht einmal J. P. Hebel kenne und nenne? Ich spreche von J. P. Hebel an 5 Stellen, zum Teil sehr eingehend, rühme ihn nach Gebühr, wie sollte ich anders? –, nenne im Namenverzeichnis die 5 Seitenzahlen; – aber mein Besprecher, der das Buch selbst nicht gelesen, hat nicht einmal im Namenverzeichnis J. P. Hebel gefunden. Er fand Hebbel, dachte – so vermute ich –, Hebel, mit nur einem b, müsse voranstehen, fand ihn oberhalb ›Hebbel‹ nicht, blickte nicht den halben Zentimeter weiter unterhalb und schrieb in einer großen Zeitung: ›E. E. kennt nicht einmal J. P. Hebel, den Meister der Erzählung.‹ Der Mann führt einen gar gelehrten Titel.
Ein andrer Besprecher berichtet seinen Lesern: ›E. E. stellt Äschylos und Sophokles hoch, verwirft aber Aristophanes.‹ Ein Schreiber, der Aristophanes ›verwirft‹, ist ein Mensch ohne Bildung, ohne Geschmack, ein sanfter Trottel, und als solchen will mich der Herr Besprecher erscheinen lassen. Ich widme dem größten Lustspieldichter der Weltliteratur, Aristophanes, nahezu 6 Riesenseiten, sage nicht ein einziges verwerfendes Wort, rühme ihn, wie ich Homer, Shakespeare, Goethe rühme, sage von ihm unter anderm, unter sehr viel ähnlichem: ›Aristophanes selbst ist einer der großen Maßstäbe der Kunst, von denen dieses Buch (meins) handelt: er ist der schöpferische Erfinder, vielleicht der fruchtbarste unter allen führenden Geistern der Weltliteratur des Dramas.‹ Der Besprecher läßt mich Aristophanes verwerfen, erzeugt also bei seinen Lesern den Glauben, daß ich ein zur Beurteilung von Kunstwerken völlig untauglicher Dummkopf sei. Er kann keinen Blick in meinen Abschnitt über Aristophanes getan haben, er hat seine Lüge frei erfunden, zweifellos um mir zu schaden, warum sonst?
Ich will absichtlich nicht viele Beispiele aus meiner Sammlung anführen, will mich nicht als Martyr, als Kohlhas hinstellen und um Mitleid flehen. Nur noch eins muß ich hersetzen, das tollste, das unglaublichste. Ein Besprecher, der noch lebt, hat meine ›Deutsche Stilkunst‹ bald nach dem Erscheinen (1911) süßsauer und gallenbitter angezeigt. Das war seine Sache, und dagegen war nichts zu sagen. Er schloß mit dem Trumpf: ›Herr Engel maßt sich an, die Deutsche Schriftstellerwelt über guten und schlechten Stil zu belehren; er sollte doch erst die Anfangsgründe des Stils erlernen und nicht Sätze hinschreiben wie diesen –‹ folgte ein Satz, den ich nicht so geschrieben, den der Besprecher absichtlich gefälscht hatte, nicht etwa durch ein Verlesen, sondern er hatte meine Wortstellung und meinen Ausdruck so geändert, daß in der Tat ein Unsinn in sehr übler Fassung entstand. Er hatte gefälscht, wie ein Verbrecher eine Urkunde fälscht. Der Mensch lebt, ist Doctor philosophiae, Leiter des Fölljetongs einer sehr großen Zeitung in einer sehr großen Deutschen Stadt.
O ich weiß, das Gesetz über die Presse gewährt gegen solche Verbrechen Schutz: der Schriftsteller, dem so etwas widerfährt, kann den Abdruck einer ›Berichtigung‹ verlangen. Man verlange sie nur, – man wird erleben, was aus der Berichtigung wird. Aber selbst wenn es nach schweren Kämpfen gelingt, die Berichtigung – an unsichtbarer Stelle, nach Wochen – durchzusetzen, ist dadurch der dem Buche, dem Verfasser zugefügte Schaden wettgemacht? Lesen alle, die jene verbrecherische Verleumdung gelesen haben, die Berichtigung? Kann durch die Berichtigung die festgewurzelte Meinung über Buch und Verfasser ausgerottet werden? Ich habe mit kundigen Rechtlern gesprochen; sie haben mir übereinstimmend versichert: eine Klage gegen solche Büberei ist zulässig, führt aber zu nichts als zu Kosten: die Deutschen Gerichte schützen den Schriftsteller nicht gegen die Mißachtung und den Schaden, die durch solche bewußte oder grobfahrlässige Entstellungen der Wahrheit, ja durch schurkische Fälschungen entstehen. Im besten Falle verlangen sie von dem geschädigten Schriftsteller, er solle die Höhe des erlittenen Geldschadens – auch den an der schriftstellerischen Ehre? – genau angeben und beweisen. Sagt der Schriftsteller: Ich erwarte von dem Gericht, daß es nach freiem rechtlichem Ermessen eine Entschädigung festsetze, die mir wenigstens jeden erdenkbaren Geldschaden ersetzt und zugleich dem fälschenden Verleumder die ihm gebührende harte Buße auferlegt, so erklärt sich das Gericht dazu nicht für zuständig. Das Äußerste, was allenfalls ein Deutsches Gericht über einen Fälscher wie den im letzten Beispiel verhängen würde, könnte sich bis auf die Riesenbuße von 100 Mark versteigen. Der Deutsche Schriftsteller ist gegen Besprecher der geschilderten Art schutzlos.
Gnade Gott einem englischen Besprecher, der in einer englischen Zeitung solch Verbrechen beginge! Keiner jedoch begeht es dort, denn er weiß, daß es ihm eine vernichtende Geldbuße kosten würde. Nicht 100 Mark, auch nicht 100 Pfund, sondern je nach den Umständen eine Buße, die ihn wirtschaftlich ›erledigte‹ und im Falle der Nichtzahlungsfähigkeit mehrjähriges Gefängnis eintrüge. Ähnlich urteilen die französischen Gerichte. – Als einst die Times den Irenführer Parnell der Beteiligung an einem Verbrechen bezichtigt hatte – sie war durch einen gefälschten Brief dazu verleitet worden –, da verurteilte der gegen Parnell garnicht freundlich gesinnte Londoner Gerichtshof, nachdem sich die Bezichtigung als unwahr herausgestellt hatte, die Times zu einer Geldbuße, die selbst dem reichen Blatte den Zusammenbruch drohte.
Was ist aus solchen Gegenüberstellungen zu schließen? Wie wenn ein Deutscher Schriftsteller daraus schlösse, daß in gewissen Fällen die Deutschen Richter ein gröberes Rechtsgefühl haben als die in andern Ländern? Wäre ein solcher Schluß falsch? Wäre er nicht gar nach der Ansicht Deutscher Gerichtshöfe strafbar? Ich werde mich hüten, solchen Schluß zu ziehen.
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