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Ich war dabei, mittendrin, und vergleiche: des Deutschen Botschafters Grafen Münster Drahtungen aus Paris über seine Eindrücke – und meine Aufzeichnungen über die meinigen. Münsters Berichte stehen im 11. Bande der Riesensammlung ›Die große Politik‹ usw. Am 9. 10. 1896 schreibt er an den Reichskanzler Hohenlohe: ›Die Bevölkerung von Paris hat sich während der ganzen Feste (6.-8. 10.) musterhaft benommen, und alle chauvinistischen Kundgebungen sind ängstlich vermieden … Die Hochrufe galten vor allem der Republik, in zweiter Linie der Kaiserin [der russischen], in dritter dem Zaren und la Russie. Rufe, die bei solchen Gelegenheiten früher gehört wurden, wie › A bas la Prusse!‹, › Vive l'Alsace-Lorraine!‹ hörte man dieses Mal nicht. Es war zu befürchten, daß der Chauvinismus durch diese Feste neu belebt würde; es ist nicht der Fall gewesen. Die Regierung hat alles getan, um solche Demonstrationen zu vermeiden. – Wenn auch das Wort › alliance‹ fehlt [in den amtlichen Reden des Zaren und des Präsidenten Faure] und umschrieben wurde, so existiert sie dadurch [darum?] doch, und müssen wir damit rechnen.‹
Graf Münster war einer unsrer guten Botschafter und über alles Amtliche berichtet er vortrefflich. Aber er hielt sich beim Einzuge des Zarenpaares und bei den vielen Volksversammlungen der drei Festtage in der Deutschen Botschaft auf, nicht auf den Pariser Straßen, und von dem, was hier vorgegangen war, konnte er nicht aus eigner Kenntnis berichten. Ich war inmitten des dicksten Volksgewühls, habe anders berichtet und andres im Gedächtnis bewahrt.
Ich stand am 6. Oktober auf dem Eintrachtsplatz, als das Zarenpaar vorüberfuhr. Es war für einen Deutschen ein furchtbarer Augenblick: rundum Menschen, Zehntausende, mit glühenden Gesichtern, funkelnden Blicken, keuchendem Atem, in Weißglutbegeisterung: Hosiana, da zieht er ein, da fährt er vorüber, der Heiland der Franzosen, der Gott, der Held, der Befreier von Elsaß-Lothringen! Da bringt er, in diesem Wagen, uns die geraubten Provinzen zurück; da schwebt neben ihm die französische Gloire herein, – Vive le Zar! Nur Vive le Zar! habe ich donnernd rufen hören; nichts da von Vive la Republique!, nichts von der Kaiserin, nur Vive le Zar!, der Freund, der Beschützer, der Verbündete Frankreichs. Das konnte Graf Münster in der Rue de Lille weder hören noch sehen. Ich hatte in jenen Augenblicken das Gefühl: Dies ist die Besiegelung des Krieges Frankreichs und Rußlands gegen Deutschland. Die Franzosen sind ein kluges und, wenn es sein muß, gelehriges Volk: die französische Regierung hatte – dies erfuhr ich am Abend zuvor – die Weisung gegeben: Alle Begeisterung für den Zaren, keine feindselige Kundgebung gegen Deutschland!
Ich sah Nikolaus den Zweiten vorbeifahren: strahlend, glücklich, dummen Gesichts. Ja eines sehr dummen, leeren, seelenlosen. Hätte Bismarck noch an der Spitze der Deutschen Regierung gestanden, Nikolaus wäre nicht in Paris eingezogen, denn Bismarck hätte schon Jahr und Tag zuvor – nicht erklärt, aber gewußt: Dies ist der Krieg!, und hätte Jahr und Tag zuvor darnach gehandelt. Rußlands Bündnis mit Frankreich war der Krieg gegen Deutschland; durch dieses Bündnis erklärte sich das Zarentum offen als kriegsbereiten Feind Deutschlands –: dies fühlte jeder gradlinig denkende Deutsche. Ein Zar, der als Verbündeter Frankreichs unter dem Jubel aller Franzosen in Paris einzieht, ist nicht der Freund Deutschlands, sondern dessen erklärter Feind; der ist nicht der Freund, der ›liebe Nicki‹, des Deutschen Kaisers, sondern dessen Feind, und einen Feind macht man nicht dadurch zum Freunde, daß man ihn – samt der › sweet Alix‹ – brieflich als einen Busenfreund behandelt, der gegen seinen Willen, nur so zum Spaß, nur weil die Panslawisten es wollen, ein Bündnis mit Frankreich geschlossen hat – doch einzig gegen Deutschland, einzig zum gemeinsamen Angriff auf Deutschland. Nie hätte sich Bismarck solche offenkundige Bedrohung, ja Herausforderung bieten lassen. Er war nicht der Wann, der bei solchem Bündnis rosa gesehen hätte. Als Schwarzseher, der er als wahrer Staatsmann immer gewesen, hätte er das gesagt, was war, es nicht mit brieflicher Scheinfreundschaft rosa überfirnißt, nicht den klaren Kopf vor der Wirklichkeit des heraufziehenden Zweifrontenkrieges in den Sand der Selbsttäuschung gesteckt. Wie er 1878 bei der Unzufriedenheit des eitlen Gortschakoff und 1879 bei dem drohenden Wankelmut Alexanders 2. gezeigt hatte, daß der kluge Schiffer bei heraufziehendem Sturm das Steuer herumlegen müsse: durch das – damals gewaltig wirkende – Bündnis mit Österreich, so hätte er schon vor dem Abschluß des Bündnisses Frankreichs mit Rußland den festen Anschluß an England gesucht und, selbst mit Opfern, gefunden. Er war der Mann, an dem Tage, wo ein mit Frankreich gegen Deutschland verbündeter Zar in Paris einzog, der Welt zu verkünden: Gestern ist der Bündnisvertrag zwischen Deutschland und England unterzeichnet worden.
Auf die Umarmung des Zaren Nikolaus mit dem Präsidenten Faure am 8. Oktober und auf die Rede des Zaren: ›… daß die beiden Länder durch unwandelbare Freundschaft verbunden sind, und daß zwischen unsern beiden Heeren ein tiefes Gefühl der Waffenbrüderschaft besteht‹, folgt am 10. Oktober die Umarmung des Zaren mit Wilhelm 2. in Darmstadt, am 20. Oktober eine abermalige Umarmung der Beiden in Wiesbaden. Diese Umarmungen hielt Wilhelm 2. für die sichre Gewähr, daß der ›liebe Nicki‹ sein aufrichtiger Freund, und daß ein Besuch wie der des Zaren in Paris ganz harmlos sei, eine kleine ›Extratour‹, in der rosafarbenen Sprache Bülows, die nichts zu bedeuten habe. Freilich im Oktober 1896 war es für einen Anschluß an England zu spät, denn im Januar jenes Jahres hatte Wilhelm 2. an den Präsidenten Krüger seine England aufreizende Depesche gesandt.
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