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Gegen Ende des 19. Jahrhunderts gab es in England ein Wandertheater, das alljährlich im Shakespeare-Monat April eine Reihe der Stücke des Meisters im Festspieltheater zu Stratford am Avon aufführte. Die Gesellschaft stand unter der Leitung eines sehr bedeutenden Bühnenkünstlers, Benson, und leistete durchweg Gutes. Dort habe ich an einem Tage Heinrich 5. und Romeo und Julia, das Königsstück am Nachmittag, das Trauerspiel der Liebe am Abend gesehen. Jede Vorstellung war vollständig ausverkauft: aus ganz Mittelengland waren Hunderte von Zuschauern herbeigeeilt. Die gesamten Veranstaltungen machten einen überaus wohltuenden, festlichen Eindruck. Niedrige Eintrittspreise, keine Protzerei, nichts von dem himmelnden Getue, das in Bayreuth gar manchen stört; alle Begeisterung war echt, völkisch, kunstfroh.
Die Kunstwerke, die man im Stratforder Shakespeare-Theater genießt, haben sich seit 300 Jahren als bleibend erwiesen; es gibt drumherum keine verzückten oder verzückttuenden ›Aner‹ wie die Wagnerianer in Bayreuth; es gibt nur Menschen der verschiedensten Bildungsstufen, die sich von den Schauern der ewigen Kunst erschüttern lassen wollen. Ich sage euch: ich war in Bayreuth und in Stratford –: Stratford war bei weitem mehr Kunstweihestätte als Bayreuth, auf der Bühne, im Zuschauerraum, in den Straßen. Es ließe sich über die Unterschiede ein Langes und Breites sagen, aber – man muß es fühlen; ich habe es gefühlt.
Zu meiner Seite saßen in der Vorstellung von Romeo und Julia eine Mutter aus Birmingham mit ihrer sehr jungen Tochter, den wohlhabenden Ständen zugehörig, beide mit den besten englischen Umgangsformen, beide ohne Kenntnis eines einzigen Stückes von Shakespeare. So etwas gibt es in England, nicht als Seltenheit. Wie das zu erklären ist, weiß ich nicht. Shakespeare ist der größte englische Dichter, mithin der größte der Welt, das wußten sie, aber sie kannten keins seiner Stücke. Sie hatten gehört, daß Romeo und Julia ein besonders schönes Stück sei, aber sie kannten es nicht. Ich glaube, es kommt in Deutschland vor, daß wohlhabende Mütter und Töchter Goethes Iphigenie und Tasso nicht kennen. ›Gehabt‹ haben sie beide einmal, aber sie wissen nichts davon. Ob vielleicht die Schulen, die in England und die in Deutschland, etwas mit solcher Unwissenheit zu tun haben?
Es war ein wundervoller Abend; nie habe ich eine bessere Aufführung von Romeo und Julia gesehen, besonders keine, die mir einen so deutlichen Begriff vom Theaterdichter Shakespeare gegeben. Man bedenke: diese Wandergesellschaft, zusammengesetzt aus sehr guten Schauspielern, die fast nur Shakespeare spielten, hing ja nicht wurzellos in der Luft; sie stellte eine unmittelbare Überlieferung dar: zwischen der Zeit des Globe-Theaters Shakespeares und dem Jahr 1897 waren doch nur zehn bis zwölf Schauspielergeschlechter aufeinander gefolgt, jedes von seinem Vorgänger lernend, jedes ein Etwas von der ältesten Darstellungsweise bewahrend. Nur die Comédie Française in Paris zeigt uns etwas Ähnliches. Mehr als ein Auftritt erschien mir wie aus einer andern Kunstwelt, aus einem andern Jahrhundert, und bei jedem sagte ich mir: das stammt aus dem Globe-Theater. Die ganze Vortragsweise war durchaus unwirklich, die Sprache leise singend, ohne ängstliches Streben nach sogenannter Naturtreue, alles in Poesie getaucht. Goethe, der Verfasser der ›Regeln für Schauspieler‹, würde seine Freude daran gehabt haben.
Erleuchtend, überzeugend, hinreißend wirkte der entscheidende Auftritt im ersten Akt: Romeo und Julia begegnen einander zum ersten Mal, und der Blitz der Liebe auf den ersten Blick zuckt mit zündender Flamme durch die zwei Menschenherzen. Die Neunmalklugen, die alles Dichterische besser verstehen als der große Dichter – die Gattung blüht besonders reich in Deutschland –, haben schweren Anstoß genommen an der Kürze der Zeit und der Wechselreden in jenem Auftritt. Wie kann aus solcher Begegnung mit den paar zierlichen Redensarten die Leidenschaft entstehen, die der Herzmuskel dieses Trauerspiels ist? Ja wie? Im Shakespeare-Theater zu Stratford, einzig dort, ist mir das klar geworden, und ich bin fest davon durchdrungen, daß eine lückenlose Überlieferung aus Shakespeares Zeit zugrunde lag. Der Festsaal der Capulet hat sich langsam geleert, die Gäste haben sich in einen Saal im Hintergrunde zurückgezogen, man sieht sie dort wandeln, scherzen, tanzen, Erfrischungen nehmen, – Romeo und Julia sind in dem Saal ganz allein geblieben. Und nun fallen die, halb spielerischen, Worte von ihren Lippen:
Romeo:
Entweihet meine Hand verwegen dich,
O Heil'genbild, so will ich's lieblich büßen.
Zwei Pilger, neigen meine Lippen sich,
Den faden Druck im Kusse zu versüßen.
Julia:
Nein, Pilger, lege nichts der Hand zu Schulden
Für ihren sittsam-andachtsvollen Gruß.
Der Heil'gen Rechte darf Berührung dulden,
Und Hand in Hand ist frommer Waller Kuß.
Dann folgt eine große Stille. Wie lange hat sie gewährt? Ich weiß es nicht, schwerlich über eine Achtelminute. Die beiden vom Schicksal gezeichneten, den Sternen verfallenden Menschen, ein Mann, ein Weib noch halb Kind, stehen einander gegenüber, jetzt schweigend, blicken sich in die Augen, – man fühlt, selber bebend: jetzt geschieht's, jetzt geschah's, jetzt lodern ihre Seelen ineinander. Fortan werden sie nichts mehr vom Leben verlangen als: den Andern oder den Tod! Und wenn bald darauf Julia der Amme aufträgt:
Geh, frage, wie er heißt. – Ist er vermählt,
So ist das Grab zum Brautbett mir erwählt –
so ist alles besiegelt, alles klar. Nie hat ein Dichter die Kunst der kühnen Verkürzung meisterlicher geübt als Shakespeare, schon in Romeo und Julia, nicht viel später in Richard 3. (Akt. 1, 2). Auch diesen Auftritt haben einige der Shakespeare-Weisen ›unnatürlich‹ gefunden: ›So schnell wandelt sich das Gefühl einer Frau nicht.‹ Der dichtende Schauspieler Shakespeare wußte dies und vieles andre besser; er hatte mit dem Spiel gerechnet, hatte alles Geschriebene gleichzeitig gespielt gesehen ›in seines Geistes Auge‹, hatte es von seinen Kameraden im Globe-Theater erwartet, hatte gewußt, daß sie solche Entscheidungsstellen so, in seinem Sinne, spielen würden, daß Sekunden wie Minuten, Minuten wie Viertelstunden wirken, bei solchem Spiel.
Dergleichen weiß man noch in England, weil die Schauspieler des 19. Jahrhunderts es von denen des 17. und 18. überkommen haben. In England ist jener Auftritt in Romeo und Julia zu allen Zeiten so gespielt worden. Nie ist er einem englischen Erklärer unnatürlich erschienen. Man spiele ihn so, wie Shakespeare sich ihn gedacht hat: mit äußerster Verdichtung aller sinnlicher Eindrücke, und die Shakespeare-Weisen werden mit ihrem Gemäkel an Shakespeare aufhören.
Meine Nachbarin zur Linken, die blutjunge Tochter – ich sehe noch das liebliche Kind, etwa ein Jahr älter als Julia –, fieberte bei jenem Auftritt, in jenen Sekunden, in denen vor ihren Augen das Wunderbare im Leben einer Jungfrau geschah. Sie fühlte: jetzt, wo die Beiden schweigen, spricht das Schicksal seinen Spruch. Tiefes Schweigen im ganzen Hause, alle Zuschauer waren gebannt, alle überwältigt von der Macht des großen Dichters, deren Anhauch sie alle in demselben Augenblick sich umwittern fühlten.
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