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Als ich noch im Flügelkleide
In die Mädchenschule ging,
Und in der Geschichte meinen
Ersten Unterricht empfing,
Konnt' von den Geschichten allen
Keine so mein Herz gewinnen,
Als die Sage von dem römschen
Raube der Sabinerinnen.
Aus dem ganzen Weltgetriebe
Wurde nichts so sehr studiert,
Tausendmal ward die Beschreibung
Unersättlich repetiert,
Wie leichtgläubig die Sabiner
Hin nach Rom zum Kampfspiel kamen
Und die tapfern Römer ihnen
Mit Gewalt die Weiber nahmen.
Wie die Fraun um die Arena
Sich geschart im bunten Kreis,
Nimmer ahnend, daß sie selber
Heut des blutgen Kampfes Preis;
Wie mit Löwengrimm die Römer
Die sabinschen Männer schlugen
Und des Kampfes süße Beute
Heim in ihren Armen trugen.
Täglich sehnt ich, nächtlich träumt ich
Mich zur alten Roma hin,
Träumend dünkt ich oft mich eine
Glückliche Sabinerin;
Sah in jedem blöden Jüngling
Einen ritterlichen Römer,
Glaubte, mich in jedem Falle
Mit Gewalt zu nehmen käm er!
Und ich harrt' in banger Sehnsucht
Zwanzig – dreißig – vierzig Jahr,
Und ich staunte, daß mein Römer
Nimmer noch gekommen war.
Monde kamen, Jahre gingen,
Und ich ward mit jedem älter,
Und mit jedem ward mein Glaube
An die Römer – immer kälter.
Und die Welt lernt' ich erkennen
Und sie schien mir öd und leer:
Unter heutigem Geschlechte
Gibt es keine Römer mehr!
Nur mattherzige Sabiner
Sind die Männer all auf Erden,
Denn fast jeder denkt: Es kann ihm
Seine Frau – gestohlen werden!