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Johann Geiler von Kaisersberg (1445-1510)

1. Das Kruzifix.

Zu einem Herrgottschnitzer trat
Hans Walk, ein Bauer vom Gemeinderat:
Der Meister solle für den Hochaltar
Ein neues Kruzifix ihm schnitzeln,
Weil arg verschandelt schon das alte war.

Der Herrgottschnitzer war ein Schalk
Und pflegte gern mit jedermann zu witzeln,
Drum fragt er: Sagt mir doch, mein lieber Walk,
Wollt Ihr den Gott lebendig oder tot?

Der Bauer sprach: Ei, schwere Not!
Und machte ein Gesicht, das recht verständig –
Indessen, Meister, macht ihn nur lebendig,
Sollt er den andern nicht behagen,
So können sie hernach ihn selbst totschlagen.

(Z.)

2. Die wohltätige Bäuerin.

Ein reicher Bauer lag im Sterben
Und sprach zu seiner Frau:
All meine Habe sollst du erben,
Nur eins beachte mir genau!
Wir hatten immer gut zu leben
Und haben doch, Gott seis geklagt,
Den Armen selten was gegeben.
Drum, weil mich nun die Reue plagt,
Versprich mir, daß – sobald ich eingesargt –
Du gleich zum Markt
Mit unserm besten Pferde ziehst
Und vorteilhaft es zu verkaufen siehst,
Um den Erlös mit christlichem Erbarmen
Zu spenden unsres Dorfes Armen!

Der Bauer starb. – Die Bäuerin, nicht faul,
Nimmt aus dem Stall den allerschönsten Gaul,
Legt ihm den ersten besten Sattel auf,
Trabt in die Stadt und bietet jedermann
Das Pferd zu Kauf
Mit wohlgesetzten Worten an.
Ein Käufer tritt bald vor sie hin,
Nachdem er sich das Tier genau besehen,
Und fragt: »Was kostet Euer Pferd?« –
Zwei Kreuzer, spricht die Bäuerin,
Allein: Ihr müßt den Sattel auch erstehen,
Und der ist fünfzig Gulden wert!

»Ihr seid ein närrisch Weib!« – der Käufer lacht –
»Daß Ihr so hoch den Sattel angesetzt
Und Euern Schimmel nur zwei Kreuzer schätzt!
Doch mir ists gleich, wie Ihr die Rechnung macht.
Nehmt fünfzig Gulden hier fürs Sattelzeug
Und für den Gaul zwei Kreuzer – Gott mit Euch!«

Der Käufer zog von dannen mit dem Pferd –
Und als die Bäuerin heimgekehrt,
Gab sie getreu nach des Verstorbnen Sinn
Zwei Kreuzer für die Armen hin.

(Z.)


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