Friedrich Spielhagen
Opfer
Friedrich Spielhagen

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Wilfried war bereits durch eine Reihe von Stationen gefahren, ohne es zu merken; unbeweglich in seiner Ecke sitzend, nur von Zeit zu Zeit den Strauß von roten Rosen emporhebend, als müsse aus seinem Duft ihm die Deutung des holden Wunders aufsteigen, das er eben erlebt.

Aber gab es da eine zweite Deutung?

Das süße Geschöpf liebte ihn; hatte ihm ihr Herz geschenkt, taufrisch wie die Rosen, die eben den Kelch entfalteten. Ein köstliches, ein königliches Geschenk! Durfte er es nehmen? Wußte das Kind, was es schenkte? Aber sie war kein Kind mehr, mit ihren beinahe vierzehn Jahren 468 und den herrlichen Augen, aus denen eine Seele blickte, die zum sonnigen Leben erwacht war, wie da draußen der junge Tag. Und es war nicht über sie gekommen von einer Sekunde zur andern. Wie oft hatte er diese Augen auf sich gerichtet gesehen mit einem Ausdruck, der ihn immer seltsam gefesselt und für den er keine Erklärung gehabt hatte – Thor, der er war. Und ebenso oft mußten doch seine Augen die ihren gesucht haben! Das war einfache Logik. Nicht wegzuleugnen, so wenig, wie der wonnige Schauder, der ihn durchrieselt hatte, als ihre zarten jungfräulichen Lippen sich auf die seinen preßten. Und jetzt in der Erinnerung wieder und wieder durchrieselte. Und als damals in Berlin ihr Vater, den elfenfeinen Leib umfassend, sie aus dem Speisezimmer führte, hatte er nicht gewünscht: wärst Du an seiner Stelle? sie nicht damals schon geliebt?

Wie denn? was denn? Geliebt? Er sie? Unsinn! Er mit seinen einunddreißig Jahren das vierzehnjährige Kind!

Aber sie ist kein Kind. Das hast Du ja bei Dir ausgemacht. Und in ein paar Jahren – sagen wir drei – Du wärst dann vierunddreißig – eine Differenz von siebzehn Jahren – das ist nichts besonderes – das kommt alle Tage vor –

Mein Gott! alle diese Tage habe ich gemeint, ich müsse verrückt werden. Bin ich es jetzt? Heil verrückt? Sie, die holde keusche Mädchenblume, und Du mit Deinem zertretenen Herzen! Ja, zertreten! Wie ein Wurm im Staub des Weges! Zu dem Du Dich erniedrigt; in dem Du gewühlt, als Du Demütigungen über Demütigungen auf Dich nahmst, unerhört. An die zu denken, Dir die Schamröte in die Stirn treibt. Um zu erfahren, daß sie mich aufgeben konnte, weil – es ist ja zum Lachen! Verflucht will ich sein, wenn ich noch eine Thräne darum weine! – Das schöne große Gut da hinten am Harz – wie hieß es nur gleich! – mit dem prächtigen Wald und 469 dem reizenden Herrenhause – für einen Spottpreis zu haben – eine Stunde höchstens von Falkenburg zu Wagen, zu Pferde eine halbe, wenn man den Gaul in scharfem Trab hielt – zu Dir – mit Dir, Du einzig Holde! die Du mir keine Eltern zuführst, die mich anwidern; keinen Bruder, der ins Zuchthaus gehört –

Wieder eine Station, eine größere diesmal. Zunz trat an den Wagen: ob der Herr Graf Befehle habe?

Eine Zeitung, Zunz, Berliner, wo möglich!

Zunz erschien nach einer Minute abermals am Fenster.

Ich konnte nur das Tageblatt bringen, Herr Graf.

Gleichviel! Machen Sie, daß Sie in Ihr Coupé kommen! Es hat schon zweimal geläutet.

Der Zug hatte sich wieder in Bewegung gesetzt. Wilfried hatte das Blatt aufgeschlagen; es war ihm gleichgültig, was er las. Er wollte nur den Gedanken entfliehen, deren wilde Jagd nicht länger so durch seine Seele rasen durfte.

Telegraphische Depeschen – »Cadiz: Vor einer Stunde wurde hier der bekannte Millionendieb Hermann Schulz ergriffen in dem Augenblick, als er sich auf dem Dampfer S. Salvador nach Cuba einschiffen wollte, jedenfalls, um von dort nach den Vereinigten Staaten zu gehen. Die Verhaftung geschah auf Veranlassung des deutschen Konsuls durch die spanischen Behörden. Ein deutscher Anarchist, offenbar gelockt durch den großen, auf seine Ergreifung gesetzten Preis, hatte ihn verraten. Als S. sah, daß kein Entrinnen möglich, riß er einen Revolver aus der Brusttasche und jagte sich eine Kugel durch den Kopf. Er war auf der Stelle tot. Von dem Gelde hatte er nicht mehr bei sich, als Passagiere auf solchen Reisen für die Überfahrt zu führen pflegen. Wo er mit dem übrigen geblieben, ist vorläufig völlig in Dunkel gehüllt.«

Wieder saß Wilfried uubeweglich in seiner Ecke, vor sich hinstarrend. Ihm zu Füßen, seinen Händen entfallen, das Blatt, das ihm den Tod von Lottes Bruder gekündet; 470 auf dem Sitz neben ihm die roten Rosen, die ihm Gisela geschenkt.

* * *


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