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Versuchen will ich's, sagte Frau Brandt, nachdem Wilfried ihr in leidenschaftlicher Erregung sein Anliegen vorgetragen. Daß sie bei mir vor polizeilichen Chicanen sicherer wäre, als bei ihren Eltern, liegt auf der Hand; aber ich sage Ihnen im Voraus: es wird vergeblich sein; sie wird nicht wieder zu mir kommen wollen. Jetzt erst recht nicht. Schon daß Sie Hermann nach der Versammlung getroffen und gesprochen, gefiel ihr gar nicht, wie ihr denn bereits Ihre Rede große Sorge gemacht hatte. Er soll uns Arme sich selbst überlassen, sagte sie. Und Hermann mit seinen überspannten Ansichten! Das ist Gift für ihn. Das kann seine freundliche Seele nur verdüstern. Dann kam gestern abend die Schreckensnachricht von Hermanns That. Sie war noch einmal zu mir gekommen, mich nach verschiedenem zu fragen. Ich hatte gerade die Zeitung in der Hand – was hätte es geholfen, es ihr zu verbergen? Sie mögen sich ihr Entsetzen vorstellen! Aber ihr zweiter Gedanke waren wieder Sie: wenn es 331 herauskäme, daß Sie mit ihm nach der Versammlung zusammen gewesen seien – unmittelbar jedenfalls vor seiner Flucht – ob Sie da nicht in die schreckliche Sache verwickelt werden könnten? Es ist nun mal ihre fixe hypochondrische Idee, daß jede Berührung mit ihrer Familie Unheil bringt, wie ansteckende Krankheiten. Mit mir nimmt sie es nicht so genau. Wahrscheinlich sagt sie sich, daß mir das Gift nichts anhaben kann. Ihnen gegenüber fühlt sie anders. Wie Sie alles Unheil von ihr wehren möchten, so möchte sie das Gute, daß Sie an ihr und den ihren gethan, nicht mit Schlimmem vergolten sehen. Können Sie es ihr verdenken?
Ich wollte, sie rechnete weniger scharf zwischen uns ab, murmelte Wilfried.
Das thut man nur in einem Falle nicht, mein Freund. Und wir haben uns ja wohl darüber verständigt, was an uns ist, darüber zu wachen, daß dieser Fall nicht eintrete.
Sie sind sehr grausam, sagte Wilfried tonlos.
Weil ich Euch beide lieb habe.
Da möchte ich fast beten: Gott bewahre mich vor meinen Freunden.
Es hatte scherzhaft klingen sollen; aber die bebenden Lippen brachten es nicht fertig.
Er war aufgestanden, Frau Brandt mit ihm.
Ich habe Ihnen wieder einmal wehe thun müssen, sagte sie. Das bringt nun mein Beruf leider so mit sich. Nehmen Sie an: ich hätte eben auch jetzt in meinem Beruf gehandelt. Und nun: ich wollte es Ihnen erst verschweigen, aber es wird Sie beruhigen, wenn ich es Ihnen sage: was Sie für Lotte so sehr fürchten, ist insoweit bereits eingetroffen, als die Polizei bei ihren Eltern in der neuen Wohnung Nachfrage gehalten hat. Da Lotte von jeher die Vorsicht hatte, ihres Bruders Briefe zu vernichten, damit sie nicht etwa doch dem Vater in die Hände gerieten, hat man natürlich nichts Verdächtiges gefunden. Der Mann – ein älterer, verständiger Kriminalbeamter – 332 ist dann vorhin auch bei mir gewesen und mit der Versicherung gegangen: er habe sich überzeugt, daß nach dieser Richtung nichts zu machen sei und weitere Recherchen kaum stattfinden würden. Ich wiederhole: das einzig wahrhaft Schreckliche, was Lotten droht, ist die Möglichkeit und, nach Menschengedenken, Wahrscheinlichkeit, daß sie den Flüchtling ergreifen. Hier aber sind wir machtlos.
Ich wollte, ich könnte ihm die Wege ebnen, sagte Wilfried.
Und wo bliebe die Gerechtigkeit, die Sie vorgestern abend als das rettende Prinzip der leidenden Menschheit anriefen? Wissen Sie, lieber Freund, daß Sie auf dem besten Wege zum Anarchismus sind? Glücklicherweise ist es ganz etwas anderes, als Mißachtung des Rechtes und der Gerechtigkeit, was Sie so sprechen läßt. Noch eines: man hat sicher auch bei Pfarrer Römer nachgefragt. Er ist verreist. Es wäre wohl gut, wenn einer von uns vorspräche und hörte, wie die Sachen da stehen. Würden Sie es übernehmen? Ich habe vor abend schlechterdings keine Zeit, und es ist wünschenswert, daß es bald geschieht.
Ich hatte so wie so die Absicht, hinzugehen.
Desto besser. Bei Lotte spreche ich selbst heute abend noch einmal vor. Und bringe ihr einen Gruß von Ihnen.
Ich bitte darum.
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