Friedrich Spielhagen
Opfer
Friedrich Spielhagen

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Durchlaucht sind bereits vor einer Stunde gekommen. Sie sind jetzt bei Tisch mit der Frau Fürstin und den gnädigen Kindern; aber haben befohlen, den Herrn Grafen, wenn er käme, sofort hereinzuführen. Darf ich bitten, Herr Graf, die nächste Thür! Ohne anzumelden! Ausdrücklicher Befehl von Durchlaucht!

Der Kellner, welcher Wilfried auf dem unteren Flur in Empfang genommen und in dem Lift hinaufbegleitet hatte, öffnete ihm die Thür zu einem großen Salon, in dessen Mitte unter dem elektrischen Kronleuchter an einem elegant gedeckten Tisch die Familie bei dem Abendbrot 342 saß: der Fürst, die Fürstin, die drei älteren Kinder. Gisela, Irmtraut, Carol und deren englische Governeß, Miß Lionel, bedient von einem Kellner und dem Jäger Roßwald, dem alten Factotum des Hauses.

Der Bruder hatte ihn herzlich umarmt, die Schwägerin ihm warm die Hand gedrückt; bei den Kindern war Onkel Wilfried seit seinem letzten Besuch auf Schloß Falkenburg vor zwei Jahren augenscheinlich in freundlichster Erinnerung; Happy, you remember me, sagte Miß Lionel mit einer so gnädigen Herablassung, als ob sie die Fürstin selbst sei; der würdige Roßwald lächelte vergnügt in seinen grauen Vollbart – Wilfried schämte sich, daß er sich den Empfang so ganz anders vorgestellt hatte. An der Seite der Fürstin war ein Platz für ihn leer gelassen.

Wir haben eine Viertelstunde auf Dich gewartet, sagte sie, und sind dann doch zu Tisch gegangen der Kinder wegen, die nach der Reise früher zu Bett müssen. Nun sind wir so gut wie fertig.

Seine Schuld, sagte der Fürst; weshalb hat er meiner Bitte, uns nicht vom Bahnhof abzuholen, eine so breite Auslegung gegeben!

Wilfried entschuldigte sich: er habe nicht stören wollen. Übrigens bitte er dringend, mit ihm keine Umstände zu machen. Er habe seiner Gewohnheit gemäß spät zu Mittag gegessen: und wenn Miß Lionel die Güte hätte, ihm eine Tasse Thee zu geben –

Miß Lionel deutete durch eine kaum merkliche Neigung des wohlfrisierten Hauptes an, daß sie die Güte haben werde. Wilfried erkundigte sich nach dem Jüngsten, Odo, den seine französische Bonne bereits zu Bett gebracht hatte; nach den Ereignissen der Reise, welche der heiße Tag doch zu einer recht beschwerlichen gemacht haben müsse. Eine harmlose Unterhaltung griff Platz, an der die Kinder bescheiden lebhaften Anteil nahmen. Wilfried fand sie in den zwei Jahren noch zu ihrem Vorteil verändert: die angeborene Anmut, Schönheit und Liebenswürdigkeit hatten ein 343 deutlicheres Gepräge gewonnen. Zumal die älteste, Gisela, die immer sein besonderer Liebling gewesen war, entzückte ihn völlig. Mit ihren beinah vierzehn Jahren stand sie auf der lieblichen Grenze zwischen Backfischtum und Jungfräulichkeit, der letzteren, meinte Wilfried, näher als dem ersteren, besonders, wenn er ihre großen, dunkelklaren Augen mit dem eigentümlich schwermutsvollen Blick auf sich gerichtet sah. Entsetzlich zu denken, daß dies entzückende Geschöpf vom Schicksal zur Krüppelhaftigkeit für das Leben verurteilt sein sollte! Nach ihrem Zustand fragen mochte er nicht, nachdem sie vorhin bei seinem Eintritt sitzen geblieben war, während alle andern sich erhoben hatten. Sollte ihre Zukunft eine des Schmerzes und der Entsagung sein? Welcher Grausamkeit war denn die Natur nicht fähig? Auch die Dulderin in der Tiergartenstraße war einst jung und schön gewesen! Eines freilich, ein Großes, würde sie immer vor jener voraus haben: nie würde sie in ihrem Krankenzimmer die Gegenwart der Ihren, nie deren treue Liebe und Fürsorge vermissen. Rührend war die Weise, wie die beiden jüngeren Geschwister, Irmtraut, der die Lebenslust aus den glänzenden Augen sprühte, Carol, dem so oft ein schelmisches Lächeln um den hübschen Mund zuckte, mit ihr verkehrten; wie so mancher zärtliche Blick der Eltern sie streifte; wie ihr gegenüber Miß Lionel die heilig gehaltene Tradition ihrer direkten Abstammung von irgend einem sagenhaften Plantagenet vergaß und nur die zärtliche ältere Freundin war.

Während er so im Kreise von Menschen, die er liebte, von denen er sich geliebt wußte, heiter plaudernd saß, kam ihm der Gedanke, es werde sich zwischen ihm und ihnen eine Scheidemauer auftürmen, geradezu ungeheuerlich vor. War die Atmosphäre, in der sie atmeten, doch die seine gewesen, so lange er denken konnte! Dieses hohe, weite Gemach in der fast tageshellen und doch diskreten Beleuchtung der elektrischen Lampen; diese Tafel mit dem blinkenden Geschirr; diese geräuschlose Bedienung; diese 344 feinen aristokratischen, um den Tisch gruppierten Menschen; ihre anmutigen Manieren; ihre leisen, wohllautenden Stimmen; ihre bei allem Freimut so rücksichtsvolle Rede – wie sympathisch ihm das alles war, wie traulich heimatlich es ihn berührte! Und dann sah er sich, wie er vor wenigen Stunden an dem Tisch der Frau Pfarrer Römer gesessen; hörte die resolute Dame in hervorgesprudelten, überlauten Worten auf ihn einsprechen, während die derben Kinder die Reste ihrer Kartoffelsuppe aus den Tellern kratzten, und den Platz, auf dem hier die »letzte der Plantagenet« würdevoll thronte, ein Mädchen einnahm, das »mit der Polizei schon so viel Berührung gehabt hatte! das arme Ding!«

Er konnte die Erinnerung und den peinlichen Vergleich, den sie ihm aufdrängte, nicht los werden und wurde still und stiller. Der Fürst machte seiner Gattin ein Zeichen mit den Augen, diese dem englischen Fräulein. Man stand vom Tisch auf, sich gesegnete Mahlzeit wünschend. An Gisela, die wieder sitzen geblieben war, trat Miß Lionel heran, mit deren Hilfe sie sich nun emporrichtete: eine schlanke Gestalt, in ihrer sylphenhaften Zartheit der anmutigste Gegensatz zu der derbknochigen, robusten Engländerin. Wilfried wollte seine Unterstützung anbieten; der Bruder kam ihm zuvor.

Ich verstehe mich wohl besser darauf, sagte er, sie um die Hüfte fassend, während Miß Lionel ihr die Schulter bot, damit sie ihre freie Hand darauf lege.

Du sollst morgen das fragliche Vergnügen haben, Onkel Wilfried, sagte das schöne Mädchen, ihm mit den seelenvollen Augen gute Nacht winkend.

So bewegte sich die Gruppe, gefolgt von den beiden jüngeren Kindern, langsam nach der Thür zum Nebenzimmer, die der alte Roßwald für sie offen hielt.

Mein Gott, rief Wilfried ergriffen; ich habe ja keine Ahnung davon gehabt, daß es mit Gisela so schlecht steht!

345 Es ist auch erst seit den letzten Tagen, erwiderte die Fürstin. Leider ist es nicht die einzige traurige Veranlassung, die uns nach Berlin geführt hat.

Ihre Augen füllten sich mit Thränen und der Kummerzug, den Wilfried während der ganzen Zeit auf ihrem zarten Gesicht beobachtet hatte, trat schärfer hervor.

Du, liebe Margarete? fragte Wilfried teilnahmvoll.

Sie schüttelte traurig den Kopf im Begriff zu antworten; kam aber nicht dazu, da jetzt der Fürst wieder ins Zimmer trat, und wandte sich ab, offenbar, ihre Erregung vor ihm zu verbergen.

Liebe Margarete, sagte der Fürst, Miß Lionel möchte über das Arrangement für die Nacht noch etwas genauer instruiert sein.

Also verzeihe für jetzt, lieber Wilfried, sagte die Fürstin; ich sehe Dich jedenfalls noch nachher.

Sie war an ihren Gatten herangetreten, ein paar leise, wie es schien, bittende Worte zu ihm sagend, die Wilfried nicht verstand, und jener nur mit einem freundlichen Nicken erwiderte. Dann war sie gegangen. Ein paar Kellner hatten inzwischen geräuschlos die Tafel abgeräumt, den Tisch zusammengeschoben und mit einer Decke verhüllt; Roßwald auf einem kleineren Tisch, der an der Schmalseite des weiten Gemaches im Licht der elektrischen Birnen des Wandleuchters vor einem Sofa stand, eine Flasche Rheinwein, Gläser und Rauchsachen gestellt und sich mit den Kellnern entfernt.

Die Brüder waren allein.

* * *


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