Friedrich Spielhagen
Opfer
Friedrich Spielhagen

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Die nächsten Tage brachten Wilfried so viel Leid und Freud und so viel wechselvolle Stimmungen – wiederholt mußte er einer Wanderung gedenken, die er als Student, von Schloß Falkenburg aus, mit dem alten Roßwald als Diener und Begleiter, durch den Harz machte. Da hatte heute der hellste Sonnenhimmel über ihnen geblaut, und das Gebirge all seine geheimsten, wonnigsten Reize enthüllt; morgen war er mit schweren Wolken verhangen gewesen, aus denen unendlicher Regen goß, und graue Nebel, aus den Schluchten brauend, verbargen ihnen die nächste Nähe.

Er hatte sein Provisorium bei dem Justizrat angetreten. Daß es eine Sinekure sein würde, hatte er nicht erwartet, aber auch nicht, es werde ihm so viel Mühe, Sorge und Langeweile schaffen. Augenscheinlich hatte der Justizrat zur Zeit nur entweder sehr intricate, oder höchst uninteressante Fälle in seiner Praxis; jedenfalls bekam er keine anderen zu bearbeiten. Seiner geringen Übung in diesen Dingen sich wohl bewußt, war er darauf gefaßt gewesen, daß er, wenigstens im Anfang, bei dem besten Willen nur Mangelhaftes werde leisten können; hatte aber ebenso bestimmt auf die Nachsicht des alten Herrn gehofft, dem ja die Lücken und die Unsicherheit seiner advokatorischen Kenntnisse kein Geheimnis waren. Und nie war ihm bis dahin der alte Herr in einem andern Lichte 397 erschienen, als dem eines väterlichen Freundes, dessen Güte er mit einer Zuneigung erwiderte, die oft genug Tante Adeles Eifersucht zu hellen Flammen entfachte. Dies hergebrachte Verhältnis war mit einem Schlage verändert. Keine Spur von Nachsicht, freundlicher Belehrung, bereitwilliger Hilfe! Dagegen für jedes Versehen und Übersehen harter Tadel; oft – was für Wilfried das Empfindlichste war – unter Beiseitesetzen der höflichen Formen, in die sich auch der Tadel kleiden läßt.

So hatte er ihm denn auch rund abgeschlagen, sein Beistand in dem Prozesse zu sein, der ihm bevorstand, nachdem wegen seiner Rede in der Versammlung der Staatsanwalt Anklage erhoben und das Gericht ihm die Anklageschrift zugestellt hatte.

Ich übernehme prinzipiell nur Sachen, für die ich mit gutem Gewissen eintreten kann, sagte der alte Herr. Das ist hier nicht der Fall. Die Welt starrt von Unsinn, meinetwegen: ist Unsinn von A bis Z. Aber es giebt in dem Unsinn Grade: verzeihlichen, erträglichen, kaum noch erträglichen, unerträglichen. Die Socialdemokratie gehört unbedingt zu der letzten Kategorie. Sie ist durch und durch Phrase, deren Hohlheit evident ist, sobald man sich durch ihr Schillern nicht blenden läßt. Gleichheit! Lächerlich! Nicht zwei Blätter eines Baumes sind sich gleich, und bei den Menschen geht die Skala von den Schulze und Müller auf der Bierbank bis zu Bismarck. Die Bismarck – wenn man von ihm im Plural sprechen könnte – lassen sich von den Schulze und Müller nicht an die Wand drücken, wofür niemand dem Himmel dankbarer sein sollte als die Schulze und Müller, die sonst wieder von ihren Hausknechten Peter und Paul an die Wand gedrückt würden. Wissen Sie, wer Ihr Vierstundenarbeitsmensch der Zukunft ist? Ein Allerweltsschwätzer, ein Pfuscher, ein Dilettant und Ignorant der schlimmsten Sorte. Um es in irgend einer Wissenschaft und Kunst zu etwas Rechtem zu bringen, muß man sein Leben daran setzen. Fragen 398 Sie bei den Mommsen und Virchow, den Menzel und Begas, ja selbst bei Ihrem Schuhmacher nach, wenn anders der Mann gute Ware liefert, was ich vermute, da Sie bei ihm arbeiten lassen. Und so ist es mit jeder anderen Frage: der Frauen-, der Bevölkerungs-, der internationalen. So wie Sie ihn berühren, platzt der Bovist.

Wilfried gestand, wie jedem, so dem alten Herrn, das Recht seiner Meinung willig zu. Aber er erinnerte sich sehr wohl, ihn früher über dieselben Dinge ganz anders sprechen gehört zu haben. Hatte er wirklich seine Ansicht geändert? Oder gab er sich nur den Anschein? Dann aber zu welchem Zweck?

Kaum weniger unerfreulich hatte sich sein Verhältnis zu Frau Brandt gestaltet. Sie erklärte ihm rund heraus, daß sie sein Verhalten zu Lotte kopflos und im hohen Grade tadelnswert finde. Er hätte des Mädchens deutlich ausgesprochenen Wunsch erfüllen und ihm fernbleiben müssen.

Und wenn Sie mir nun gar sagen, daß Sie Lotte heiraten wollen, rief sie; – nun, an Ihrer Ehrenhaftigkeit habe ich nie gezweifelt; aber was soll ich da von Ihrer Lebensklugheit denken? Lotte ist ein hochherziges, edles Geschöpf und trotzdem keine Frau für Sie. Sie schwärmen für die Kunst, die Litteratur, von denen das arme Ding keinen Schimmer hat. Wovon wollt Ihr Euch unterhalten, wenn das Liebesthema erschöpft ist? Sie haben sich von frühester Jugend auf in den feinsten Umgangsformen bewegt; Lotte wird sich nie etwas Unschönes, Taktloses zu schulden kommen lassen – eine Dame der Gesellschaft ist sie darum noch lange nicht; wird es auch niemals werden. Sie sagen freilich: was geht mich die sogenannte Gesellschaft an; ich habe ihr für immer den Rücken gewandt. Wenn das eine Brücke wäre, ich ginge nicht darüber. All' Ihre schöne Liebe, Ihr edler Enthusiasmus, Ihre heroischen Anstrengungen werden nicht verhindern, daß Sie sich über kurz oder lang nach dem Milieu, aus dem Sie 399 hervorgegangen sind, zurücksehnen, und Ihnen das, in welches Sie sich hineinleben möchten, als ein Greuel erscheint. Dann ist das Unglück für Euch beide da. Und erträgt man es zur Not, selbst unglücklich zu sein – das Bewußtsein, jemand unglücklich gemacht zu haben, den man liebt und für sein Leben gern glücklich gemacht hätte, erträgt keiner. Zum wenigsten kein im besten Sinne vornehmer Mensch, wie Sie es sind.

Solche Vorhaltungen aus dem Munde einer Frau, deren Gradsinn und Klugheit Wilfried anerkennen mußte, wenn er auch jetzt geneigt war, ihr zartere Herzensempfindung abzusprechen, konnte ihn freilich in seinen Vorsätzen nicht wankend machen, verstimmten ihn aber mehr, als er sich eingestehen mochte.

Wie er denn auch die Unbehaglichkeit seiner neuen Häuslichkeit nicht gelten lassen wollte.

Und doch war sie groß genug.

Er hatte Zunz mit einem Empfehlungsbrief nach Falkenburg geschickt und Zunz zurückgeschrieben, daß Durchlaucht ihn sofort als Diener eingestellt hätte. So war er über die Zukunft des guten Menschen beruhigt; aber nun fehlte er ihm überall. Seine Garderobe, seine Wäsche – Zunz hatte alles stets in peinlichster, sauberster Ordnung gehalten; ihm hundert Handdienste geleistet, die er als etwas Selbstverständliches entgegengenommen, als etwas, das gar keinen Wert habe, gar nicht zähle; und von dem er jetzt erst spürte, wie viel empfindliche Reibungen mit dem Alltagskram es ihm erspart hatte. Jetzt, wenn ihm bald dies, bald das nicht zur Hand war; er auch nicht wußte, wie er es sich schaffen solle, stand er in ratloser Verzweiflung, die er komisch finden wollte, und die ihn manchmal fast zum Weinen gebracht hätte.

In solchen Augenblicken starrten ihn die kahlen Wände seines Zimmers an wie Gefängnismauern. Und wären sie doch nur ganz kahl gewesen! Aber wie zum Hohn für den einstmaligen Besitzer einer kostbaren Sammlung 400 ausgesuchter Gemälde, hingen hier und da an möglichst unpassenden Stellen ganz abscheuliche Öldrucke fadester Originale von Künstlern vierten Ranges; über dem Sofa sogar ein wirkliches Original: das Ölporträt eines Herrn in mittleren Jahren mit haarbuschigem, viereckigem Kopf, schweren Augenbrauen unter einer wunderlich niedrigen Stirn, roten Hängebacken und einer gelben Medaille auf der linken Brust – vermutlich das Konterfei des heimgegangenen Magistratssekretärs. Wilfried hätte wenigstens dieses Grauenbild gern entfernt; aber er mußte fürchten, dadurch Frau Rehbein auf das tiefste zu kränken, und scheute das um so mehr, als bereits diese wenigen Tage hingereicht hatten, aus dem anfänglich idealen Verhältnis zwischen Wirtin und Mieter ein recht gespanntes, höchst unerquickliches zu machen.

Das sich von seiten der Dame nicht in Worten äußerte, wohl aber in kalten Blicken, mit denen sie, wenn man sich auf dem schmalen Flur begegnete, stumm den Kommenden oder Gehenden streifte; in der Ruhe, mit welcher der Staub sich auf den Möbeln ablagern durfte; vor allem auch in der niedrigen Temperatur und der hilflosen Schwäche des kontraktlich ausgedungenen Morgenkaffees.

Über den Grund dieser Feindseligkeit, bei welcher auch die schieläugige Tochter stille Teilnehmerin war, konnte Wilfried nicht im Zweifel sein.

Man konnte ihm diesseits seinen Verkehr mit der Schulzschen Familie nicht vergeben.

Frau Rehbein war vom ersten Moment an über die Nachbarschaft empört gewesen. Wie kam ein Tafeldecker dazu, mit der Magistratssekretärswitwe, wenn sie auch jetzt von ihrer gesellschaftlichen Höhe infolge mißlicher Verhältnisse ein wenig herabgestiegen war, in derselben Etage, auf demselben Treppenflur wohnen zu wollen? Hätte die Frau Tafeldecker ihr doch wenigstens, als sie einzog, einen Besuch gemacht und sie um ihre Protektion gebeten, 401 anstatt es mit Hilfe des Portiers durchzusetzen, daß ihr eine Bodenkammer zugesprochen wurde, die sie längst gewohnt gewesen war, als zu ihrer Domäne gehörig zu betrachten!

Und mit solchem Gesindel verkehrte ihr neuer Mieter, der sich Graf nannte, und so viel sie wußte, nennen durfte! Das würde ihr letzter Herr nie gethan haben, trotzdem er nur Baron und um einen Kopf kleiner war! Aber diesem Herrn Grafen hatte sie von Anfang an nicht getraut; und wäre sie nur ihrem alten Grundsatz: Trau, schau, wem! gefolgt, hätte er vor acht Tagen zum ersten- und letztenmal den Fuß über ihre Schwelle gesetzt. Sie könne vieles vertragen, nur keine Unsittlichkeit. Da sei ihre Geduld zu Ende. Die Schulz, die aufgeblasene Person, renommiere ja freilich damit, der Herr Graf werde ihre Puppe von Tochter mit den schwarzen Rattifalli-Mausifalliaugen heiraten. Wenn, wie sie prahle, der Herr Graf wirklich der Neffe und Erbe einer Millionärin in der Viktoriastraße sei, und diese Komödie eines verarmten Herrn nur aus Trotz gegen die alte Dame spiele, mit der er sich erzürnt habe – natürlich, um sich wieder mit ihr zu versöhnen, sobald er wolle – und dennoch an die Heirat glaube, so gehöre sie eben nach Dalldorf. Das wolle sie der dummen Person und ihrem Grasaffen von Tochter auf Wunsch schriftlich geben.

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