Friedrich Spielhagen
Opfer
Friedrich Spielhagen

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Wilfried hatte sich nach dem Lützowplatz gewandt. An der Lützowstraßenecke bestieg er einen Pferdebahnwagen, der in die Stadt fuhr. Es war ihm eingefallen, daß bei Schulte eine Gesellschaft jüngerer Maler ihre Bilder ausgestellt hatte, von denen in den Zeitungen gesprochen wurde, und die er sehen müsse. Dabei sagte er sich, daß das nur ein Vorwand sei; ihn die Bilder in diesem Augenblick gar nicht interessierten; er nur unter Menschen wolle; nicht zurück in die Einsamkeit seines Zimmers, oder, wie gestern, des Tiergartens. Nur sich selbst entfliehen wollen, den widerstreitenden Gefühlen, die seine Seele bis auf den tiefsten Grund durchwühlten.

Wenn er bis zu dieser Stunde noch hatte zweifeln können, jetzt wußte er es: er liebte das Mädchen, die 173 Lotte. Und hatte, bis er sie sah, nicht gewußt, was Liebe war: leidenschaftliche Asra-Liebe[Beni-Asra: südarab. Volksstamm, dessen Angehörigen man die heftigste und zugleich keuscheste Liebe nachsagte (s. Heinrich Heines Gedicht »Der Asra«)], in der es sich um Tod und Leben handelt. Als sie, dicht vor ihm stehend, ihm die Hand reichte, er fast ihren Atem zu spüren glaubte in der sanften Bewegung des anmutigen Busens; den Blick tauchte in die dunklen Glanzaugen, die so schwermutsvoll, so schmerzensreich zu ihm aufschauten, und in denen doch noch etwas schimmerte, was nicht Schmerz und Schwermut war – wie das erste Aufleuchten einer Morgensonne war – da hätte er alles, alles darum gegeben, die süße, holde Gestalt in seine Arme schließen, auf die weichen Lippen seinen Mund pressen zu dürfen, und müßte er im nächsten Moment sterben –

Und da hatte ihn eine Macht gebändigt, vor der die wahnsinnige Leidenschaft sich ohnmächtig fühlte: die Scheu vor ihrer Schutzlosigkeit, die er, gerade er heilig halten mußte –

Gott sei Dank, daß er es vermocht! Hätte er es nicht, die Reue würde ihn jetzt zerfleischen; als ein Elender würde er sich erscheinen. Da, dem jungen Menschen ihm gegenüber, der mit den hündischen Augen so frech in die Welt hineinglotzte, würde er nicht in das brutale Gesicht zu sehen wagen.

Nein, tausendmal lieber der verlegene Schüler, der etwas hingestottert hatte, er wußte hinterher selbst nicht mehr recht, was; und über den sie, die Kluge, in sich so Gefestete, vielleicht innerlich gelächelt. Tausendmal lieber!

»Lassen Sie es jetzt genug sein! Thun Sie nichts mehr für uns!« Wenn er sie beim Wort nahm! Keinen Schritt weiter wagte in ein Labyrinth, das sicher mit Schrecknissen angefüllt war, wie dämonisch es ihn auch lockte! Jetzt hielt er wohl den Faden, der ihn zur Freiheit zurückführte, noch in der Hand. Wenn er aber riß, dieser rettende Faden! Um ihn mochte es ja sein. Aber war es so ganz unmöglich, daß er sie mit in das Verderben zog?

174 Und doch das wahnsinnige, unausdenkbare Glück, von diesem Mädchen wieder geliebt zu werden!

Und er träumte sich in ein solches Glück hinein, in seiner Ecke vor sich hinbrütend, achtlos der Menschen, die kamen und gingen, und der verwunderten Blicke, die manch einer auf den eleganten Herrn richtete, der unverwandt auf den goldenen Knopf seines Spazierstocks starrte, welchen er regungslos zwischen den Knieen in den Händen mit den rehfarbenen neuen Handschuhen hielt.

Zum so und so vielten Male hielt der Wagen. Wilfried hob den Kopf: Französische und Friedrichstraßenecke. Er wußte nicht, wie er dahin gekommen war. Gleichviel. Immer konnte er doch nicht hier sitzen bleiben. Und er hatte ja wohl zu Schulte gewollt.

Er stieg aus. Das Gewimmel der Menschen in der Friedrichstraße empfing ihn. Es hatte ihn auf andere Gedanken bringen sollen. Das that es nicht. Die ihm begegnenden Männer sah er kaum; sein Blick streifte nach rechts und links die Gestalten, die Gesichter der Frauen und Mädchen. Suchend nach der Einen, von der er doch wußte, daß er sie hier unmöglich finden konnte. Wie häßlich ihm alle diese Personen heute erschienen! Selten, ganz selten kam eine, die eine flüchtige Ähnlichkeit mit ihr hatte: in der mittelgroßen, schlanken Gestalt; der freien, elastischen Bewegung; hin und wieder in den Zügen sogar: einem dunkleren Auge, einem gewissen Zug um den Mund. Aber eigentlich waren es nur Zerrbilder von ihr. Er mochte sie nicht mehr sehen. Es kam ihm wie eine Profanation der Einzigen vor. Er schritt weiter, auf nichts bedacht, als den Begegnenden auszuweichen.

So gelangte er, die Linden hinab, zu Schultes Salon. Die Räume waren heute nur von wenigen besucht. Unter den wenigen glücklicherweise kein Bekannter. Er ging sogleich in den großen Oberlichtsaal, wo er die Ausstellung der Neuen finden mußte. Jüngere Leute, für die er sich interessierte, derer einem und dem anderen er schon ein 175 Bild abgekauft hatte. Nur heute konnte er sich nicht in ihre Weise finden; wußte nicht, was sie mit diesen Landschaften, die man erst zu verstehen anfing, wenn man zehn Schritt zurückgetreten war, sagen wollten; diesen Porträts von hysterischen Weibern, jungen, verzweifelt dreinblickenden Männern; älteren und alten, die augenscheinlich nur gemalt waren, damit der Künstler zeigen konnte, welche kolossale Wirkung er mit blauen, roten, grauen Farbenklexen hervorzubringen vermöge.

Du thust ihnen unrecht, sagte Wilfried bei sich. Vas, nisi sincerum est, – eine zerrissene Seele ist auch kein reines Gefäß.

Das Porträt einer Dame, deren aufgelöstes Titian-Haar über das halbe Bild lief, hatte ihn jäh an Ebba gemahnt. »Wie steht von Gerson so schneidig der Hut« – das fatale Gedicht! Von wem konnte es nur sein? Hatte es doch die Wirkung gehabt, die der Verfasser sich versprochen? ihm den Gedanken der Verbindung mit ihr noch tiefer verleidet? Als ob es dessen bedurft hätte! Jetzt, da er zu wissen glaubte – nein! wußte, so gewiß, als er hier saß, der glücklich-unglücklichste Mensch von der Welt, – was Liebe war! Und mit dieser Liebe im Herzen, wie mochte er daran denken, eine Ebba zu seiner Frau zu machen? Es war ja der helle Wahnwitz! schlimmer: ein Verbrechen, in das er sich mit offenen Augen verstrickte –

Aber wie mit Ehren zurück?

Es gab keinen ehrenvollen Rückzug. Der andern gegenüber – das hatte er einzig mit sich auszumachen. In solchem Kampfe hat man Riesenkraft. Und unterliegt man doch – man nimmt die Schmach des Besiegten still mit sich in das Grab. Hier galt es die Auseinandersetzung mit der Welt, in der man lebte, an die man gefesselt war mit tausend Fäden, wie der an den Boden gepflockte Gulliver.

Er sprang auf, eilte dem Ausgang zu, nahm aus den Händen des Dieners seinen Stock, und war wieder auf 176 der Straße, erst nach einigen Minuten bemerkend, daß er, anstatt nach links, dem Brandenburger Thor zu, wie seine Absicht gewesen, nach rechts, abermals die Linden hinauf, abgebogen war. Gleichviel! Bettler und Müllersleute gehen keinen Weg um. Er hätte von einer, oder der andern Gilde sein mögen – irgend ein obskurer Mensch. Jetzt, wie eng er sich an die Häusermauern drückte, konnte er dem Gruß von Bekannten nicht ausweichen: eines Offiziers von der Garde hier, eines Attaché der rumänischen Gesandtschaft dort; einer shopping-fahrenden Dame, der ein Ladenjüngling das Paket auf den Rücksitz in den offnen Wagen legte, während der Kutscher, rückwärts gewandt, die Hand am Tressenhut, die weiteren Befehle der Gnädigen entgegennahm.

In einem Haufen vor einem der Schaufenster sah er einen alten, hochgewachsenen Herrn mit schneeweißem Haar und gekrümmtem Rücken stehen: Excellenz von Frötstedt. Heute wäre er an dem würdigen Freund gern unbemerkt vorübergekommen. Der aber wandte sich zufällig, sah ihn und kam mit ausgestreckter Hand auf ihn zu.

Morgen, Morgen, lieber Graf! Habe ich ein Glück! Wie Diogenes, nur ohne Laterne, suche ich seit einer Stunde nach einem Menschen!

Wenn Sie ihn nur in mir gefunden haben, Excellenz!

Lassen Sie das meine Sorge sein! Wohin wollen Sie?

Nirgends hin, Excellenz!

Genau mein Weg. Also gehen wir zusammen. Bitte, geben Sie mir Ihren Arm! Den linken, s'il vous plait! Mein linkes Ohr – na! Aber mein rechtes – alle Achtung! Wie ist Ihnen der gestrige Abend bekommen? Oder waren Sie gar nicht da?

Doch. Excellenz waren bereits fort.

Jetzt aber eklipsiere ich mich, sagte der Kuckuck. Da hatte er der Grasmücke ein Ei ins Nest gelegt.

Der alte Herr kicherte so, daß er einen kleinen Hustenanfall bekam.

177 Da ist es freilich kein Wunder, daß das Brutgeschäft ins Stocken geriet.

Was Sie sagen! Wie denn?

Eine lange, tragikomische Geschichte.

Die Sie mir durchaus erzählen müssen! Aber nicht hier auf der Straße. Da ist das Café Bauer. Paßt Ihnen nicht?

Excellenz, mit Ihnen!

Na denn: mutig ins Leben hinein! Siehe Goethe!

Sie hatten im Hintergrunde des weiten Raumes schnell ein leeres Tischchen gefunden. Der Kellner hatte für jeden ein Fläschchen Wermutwein gebracht, den der alte Herr als hier ausnahmsweise gut und echt empfahl.

Und nun die Geschichte von dem gestörten Brutgeschäft! Ich brenne vor Begierde. Genieren Sie sich nicht mit Ihrer Cigarette! Im Ocean, was bedeutet eine Welle!

Wilfried erzählte, erstaunt, wieviel von den Reden gestern abend in seinem Gedächtnis geblieben war, trotzdem er kaum hingehört zu haben meinte. Nur, was er dann selbst gesagt, wollte ihm nicht recht wieder einfallen; auch glaubte er mit dem vielen Rühmlichen, das er dabei über den alten Herrn geäußert, ihm selbst gegenüber zurückhalten zu müssen.

Der General hatte mit gespannter Aufmerksamkeit zugehört; wenn Geräusch in der Nähe entstand, die Hand an das Ohr haltend, hin und wieder mit verhaltenem Lachen den weißen Kopf schüttelnd, ein andermal die hohe Stirn in noch tiefere Falten ziehend. Als Wilfried zu Ende war, reichte er ihm die Hand.

Das haben Sie brav gemacht, mein junger Freund. Echt kameradschaftlich haben Sie mich herausgehauen. Nun aber sagen Sie mal ehrlich: würden Sie es gethan haben, hätten Sie gewußt, daß meine Traumgeschichte garnicht so harmlos gemeint war, wie Sie Guter anzunehmen scheinen? ich meine Tröpfchen Fegefeuer vielmehr mit großem Gusto meinerseits verspritzt habe?

178 Wilfried blickte den alten Herrn erstaunt an.

Ja, ja, mein bester Graf, Sie wissen eben nicht, wie radikal ich bin. Der richtige Revolutionär, sage ich Ihnen.

Damit wird es wohl so arg nicht sein, Excellenz, sagte Wilfried lächelnd.

Au contraire! ganz erschrecklich arg. Ich weiß vor revolutionären Gelüsten gar nicht mehr wohin. Als ob alle Teufel meiner Jugend wieder losgelassen wären. Ist auch kein Wunder. Wenn ich jetzt sehe, wie das von unten drängt und treibt, und man von obenher alles unter einer Bleidecke ersticken möchte – das ist ja gerade, wie in den zwanziger und dreißiger Jahren. Ich kann Ihnen sagen, in den Offizieren von damals pulsierte ein rasches, frisches Blut. Die älteren unter ihnen hatten noch die Befreiungskriege mitgemacht; nicht wenige waren recta von der Universität, der Schulbank sogar in den Krieg gezogen und bei der Waffe geblieben. Sie hatten ihren Goethe und Schiller, ihren Homer und Horaz mit im Tornister gehabt, während die Kugeln um ihre Ohren pfiffen. Aus solcher Schule geht ein anderes Geschlecht hervor, als aus unsern Kadettenanstalten von heute. Und was wir jungen Dachse waren, wenn die älteren Kameraden erzählten, da bekamen wir von der Katzbach und dem Skamander, von Waterloo und Marathon zugleich zu hören. Und dann die Romantiker! Der herrliche Achim von Arnim! Der noch viel herrlichere Kleist! Das war mein Mann. Vor seinem Prinzen von Homburg, seiner Hermannsschlacht, ziehe ich den Hut. In dem war Feuer, Leben, Wahrheit. Der glaubte an seine Gestalten. Habe ich Ihnen je die Anekdote von der Penthesilea erzählt, die ich aus dem Munde von Pfuel habe?

Nein, Excellenz.

Also: er und Pfuel waren zusammen in der Schweiz, in Zürich, glaube ich. In welchem Jahre weiß ich nicht mehr, auch nicht, was sie da zu suchen hatten. Thut auch 179 nichts zur Sache. Genug, sie waren da, lebten in demselben Hause, waren beisammen, so oft Kleist sich von seiner Arbeit losreißen konnte. Kommt er eines Tages Pfuel aufs Zimmer gestürzt, wirft sich in einen Stuhl und fängt jämmerlich an zu heulen. Vergebens lange Zeit, daß Pfuel in den Weinenden dringt, ihm doch wenigstens zu sagen, was ihm Schreckliches passiert sei. Endlich Kleist, die Hände ringend: ›Sie ist tot‹ – ›Mein Gott, wer denn?‹ – ›Penthesilea!‹ – Da könnte man ja lachen, bloß, daß man weinen möchte, wenn man die glaubenlosen Menschen von heute sieht. Das heißt: der Glaube ist nur in der Schicht der Gesellschaft abgestorben, in der er damals lebendig war: der der Gebildeten und Studierten, und hat sich tiefer gesenkt: in das arme, ungebildete Volk. Und es ist nicht mehr der Traum, den wir damals träumten, und der ja nun in glorreiche Erfüllung gegangen ist: ein einiges, machtvolles Deutschland. Das Reich, von dem sie träumen, an dessen Kommen sie festiglich glauben, ist ein anderes, noch mächtigeres, größeres, wenn es gleich auch von dieser Welt, erst recht von dieser Welt ist.

Der alte Herr schwieg und schenkte mit der runzligen, zitternden Hand die Neige aus dem Fläschchen in sein Glas. Er hatte zuletzt die Stimme so laut erhoben; ein und der andre Gast an den Nebentischen hatte sich umgewandt. Man konnte nicht wissen, zu wessen Ohren es kam. Wilfried machte leise den Erregten darauf aufmerksam.

Ach was! sagte der Alte ärgerlich. Was können sie mir anhaben? Ich habe meine Pflicht und Schuldigkeit als Offizier in Krieg und Frieden redlich gethan. Und wenn der Uralte es fertig bringt, die Ideale seiner Jugend umzumodeln, daß sie auf heute passen, so sollten sich andre Leute ein Beispiel daran nehmen. Aber da fällt mir ein: meine Kathrine, mein altes Hausmöbel, wartet mit dem Mittagsessen auf mich. Wollen Sie die Güte haben und den Kellner rufen!

Die Leidenschaft, in die er sich hineingeredet, hatte den 180 Greis doch stark angegriffen, er lehnte sich beim Hinausgehen schwerer auf Wilfrieds Arm. Glücklicherweise war seine Wohnung in der Behrenstraße bald zu erreichen.

So! sagte er, als sie vor seiner Thür standen. Ich danke Ihnen von Herzen, lieber junger Freund. Das war ein Hochgenuß für mich, so einmal frei von der Leber weg reden zu können. Darüber habe ich nach alter Leute Weise nur von mir gesprochen. Ihnen nicht einmal gesagt, wie leid es mir thut, daß Sie die Suppe, die ich alter Thunichtgut unserm biedern Goethekonventikel eingebrockt, haben ausessen müssen.

Ich hab' es gern gethan, Excellenz.

Glaub ich. Wenn's Ihnen nur gut bekommt! Die Leute lassen sich ja im allgemeinen viel gefallen. Nur an ihre Steckenpferde darf man nicht rühren. Da werden sie rabiat. Ihre Frau Tante ist eine liebe Dame. Aber mit den Sentimentalen ist es eine eigene Sache. Das fühlt sich wie Watte an, bis man plötzlich auf etwas Hartes stößt, das möglicherweise das steinerne Herz zu den schwimmenden Augen ist. Aber bange machen gilt nicht, riefen wir einander zu, wenn wir die erste Salve aus einem Carré bekamen, das wir attackierten. Also auf gutes Wiedersehen, lieber Freund! Und nochmals herzlichen Dank!

Die Hausthür hatte sich hinter der ehrwürdigen Gestalt geschlossen. Wilfried ging seines Weges, jetzt in der Richtung nach seiner Wohnung.

* * *


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