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Es war der Titel einer ihm bekannten Streitschrift Ferdinand Lassalles; und das Bild der Versammlung, aus der er vorhin gekommen, stand wieder vor seiner Seele. Lassalle ein Nietzschescher Löwe im Marxschen Schaffell! Wie zutreffend das ihm däuchte! Nur für den genialen Agitator, in dessen Brust stets zwei Seelen wohnten: die eine in schöner Frauen Dienst sich verzehrend, die andere in dem der Partei? Und die schönen Frauen hatten es über die Partei davongetragen! Durfte er die eigene Seele ungeteilt nennen? Der Brief, da in der Tasche auf seiner Brust! Was war ihm die sociale Frage und der Staatsanwalt und alles, was daran und darum hing, gegen den Brief! Was hätte er gegeben für die Erlaubnis, ihn lesen zu dürfen! Aber hatte er die denn nicht? Von ihrem Bruder, dem Klugen, kalt Überlegenden, der doch, wenn einer wußte, was er that? Und war es denn Neugier, was ihn trieb? Hatte er nicht gehört, es handle sich da um Fragen, die nur er beantworten könne? Fragen, bei denen es sich um Wohl und Wehe der Familie; vielleicht, so schien es doch, um ihr besonderes Wohl und Wehe handle? Durfte er da auch nur einen Augenblick schwanken?
Aber er schwankte noch immer, als er bereits seit 249 geraumer Zeit bei Hiller in einer einsamen Ecke des großen Saales hinter einer Flasche Sekt saß, die er bereits bis zur Hälfte geleert hatte. Dann hatte er, als ob es sich von selbst verstehe, gar nicht anders sein könne, den Brief aus der Tasche genommen. Er steckte nicht mehr in einem Couvert. Das war eine große Erleichterung; er durfte sich einbilden, er sei der Adressat. Selbst die Anrede: lieber Hermann! paßte halb auf ihn. War Hermann doch einer seiner Vornamen, und hatte er doch eine Zeitlang geschwankt, ob er sich nicht lieber so nennen solle, als Wilfried – ein Name, der ihm immer geziert und romanhaft erschienen war!
Noch immer hielt er den Brief, ohne weiter zu lesen, unschlüssig in der Hand. Wie nun, wenn da etwas stand, was ihm auf ihr reines Bild einen Flecken warf? Eine vulgäre Redensart? ein häßliches Wort? Sie war doch schließlich keine Dame der Gesellschaft; ein Mädchen aus dem Volk. Er kannte sich zu gut, um nicht zu wissen, daß er über Unfeines, Unästhetisches nicht wegkam. Wie empfindlich hatte ihn vorhin in seiner ehrlichen Bewunderung der Rede des Socialdemokraten ein gelegentliches falsches Mir oder Mich gestört! wie hatte er die Augen schließen müssen, die unsaubere Wäsche, die plumpen Hände mit den schwarzen Nägeln, die ungepflegten gelben Zähne nicht zu sehen! Ach!
Er hatte es halblaut gestöhnt. Ein Kellner, der müßig am Büffet lehnte, kam eilig heran:
Herr Graf haben gerufen?
Könnten Sie es hier nicht etwas heller machen?
Gewiß, Herr Graf. Glaubte es würde den Herrn Grafen stören.
Der Kellner hatte auf den Knopf gedrückt: die elektrischen Flammen hinter ihm leuchteten auf. Als habe er nur darauf gewartet, beugte sich Wilfried über den Brief und las:
250 Lieber Hermann!
Seit Wochen habe ich vergeblich auf dem Postbureau nach Deinen Briefen gefragt, auch heute! Und ich hatte Dich gestern so herzlich gebeten, mir umgehend zu antworten! Dir geschrieben, daß ich mich entscheiden muß – heute noch, spätestens morgen – und nicht entscheiden mag und kann, ohne Deinen Rat gehört zu haben. Du weißt, wie viel ich auf Dein Urteil gebe, wie unbedingt ich ihm vertraue, und – Du schweigst! Du hast mich so oft versichert, ich sei das einzige Wesen auf Erden, das Du Deiner Liebe für wert hieltest. Wodurch habe ich sie verscherzt?
Sieh, Hermann, da ist mir in der vergangenen schlaflosen Nacht ein fürchterlicher Gedanke gekommen. Hermann – mein Gott, wie soll ich es nur sagen! – ich gebe ja zu: wenn ein anderer hört: da ist eine unglückselige Familie, verkommen in ihrer Kellerwohnung so ganz, daß die jüngeren Kinder abends auf der Straße sich umtreiben, ihr bißchen Brot zu erbetteln. Doch giebt's da auch eine Schwester, die man schön findet. Und da kommt ein vornehmer, reicher, junger Herr, sorgt für die Eltern, läßt die Toten begraben, schickt die Kranken ins Spital, giebt ein Vermögen aus für diese Familie, gegen die er nicht die geringste Verbindlichkeit hat – nun ja! die schöne, große Schwester wird ihn schon entschädigen! – Ein anderer, der das hörte, möchte so sprechen. Aber Du! aber Du!
Und wenn ich nun sage: er, der uns retten will, ist ein edler Mensch, dessen Seele auch nicht der Schatten eines unlautern Gedanken trübt –
Und wenn ich weiter sage: ja, ich würde ihn lieben mit aller Glut meiner Seele, und würde mich ihm zu eigen geben um ein Liebeswort, käme er mit leeren Händen; und zwischen dem und mir jetzt, da er mit vollen kommt, eine Schranke aufgerichtet ist, die nie, nie fallen 251 kann – wirst Du, wenn ich Dich so in den tiefsten Grund meiner Seele blicken lasse, noch die Achseln zucken?
Hermann, ich lege es in Deine Hand. Die Adern an meinen Schläfen pochen schmerzlich und meine Hand zittert. Du brauchst Deinen Brief nicht poste restante zu schreiben – schicke ihn mir durch die Adresse der Frau Doktor Brandt – aber umgehend, Hermann! ich bitte Dich so sehr!
Heute abend ist ein Vortrag des Pfarrer Römer im Saale des Handwerkervereins. Frau Doktor wird wahrscheinlich hingehen und mich dann mitnehmen. Wäre es eine socialdemokratische Versammlung, hätte ich Hoffnung Dich zu sehen, vielleicht reden zu hören. So aber – schreib mir! ich flehe Dich an!
Deine Lotte.
Wilfried blickte auf. Zwei Herren, die in der Nähe saßen, hatten ihn entschieden, während er las, beobachtet. Er fingierte ein leises Gähnen und schob, während ihm das Herz hämmerte, den Brief in die Tasche, als habe es sich um die gleichgültigste Sache gehandelt.
Kellner!
Herr Graf!
Können Sie mir ein frankiertes Couvert und einen Briefbogen verschaffen?
Gewiß, Herr Graf! Feder und Tinte?
Nicht nötig. Schreibe mit meinem Stift.
Sehr wohl.
Sie erwartete eine Antwort, mußte eine Antwort haben. Ihr Bruder würde nicht schreiben; sie sich das in ihrer Weise auslegen, das heißt: sich von dem schrecklichen Verdacht, dessen sie den Bruder für fähig hielt, zu reinigen suchen, in die alten entsetzlichen Verhältnisse zurückkehren. Er durfte es nicht zugeben. Ihm war die Antwort übertragen. Er mußte schreiben. An sie selbst? Aber er hatte ja mit Frau Brandt ausgemacht, daß er so viel wie 252 möglich hinter den Coulissen bleiben solle. Also an Frau Brandt. Und ihren Brief durfte er natürlich nicht gelesen haben – um alles nicht! so mochte es gehen.
Der Kellner hatte das Gewünschte gebracht. Er schrieb:
Verehrte, liebe Freundin!
Heute abend nach der Versammlung – ich hätte Sie so gern begrüßt; aber Sie waren dann verschwunden – kein Wunder in dem Gedränge! – traf ich auf der Straße den Bruder von Fräulein Lotte, der mich ein großes Stück auf dem Heimweg begleitete. Fräulein Lotte hatte ihn von unserer Angelegenheit unterrichtet. Er sagte mir, daß ihm aus ihrem Briefe ein gewisses Schwanken hervorzugehen scheine, ob sie die neue Ordnung der Dinge acceptieren solle, oder nicht. Natürlich sei er für das erstere; und er bat mich, Fräulein Lotte zu benachrichtigen, da es ihm gerade jetzt zu einem ausführlichen Briefe durchaus an der nötigen Zeit gebreche. Daß ich nun Sie, liebe Freundin, bitte, dies Mandat anstatt meiner übernehmen zu wollen, werden Sie nur im Sinne unsrer Unterredung von heute morgen finden.
Mit herzlichem Gruß!
Ihr dankbar ergebener Wilfried Falkenburg.
P. S. Ich schreibe dies auf dem Heimweg in einem Restaurant, um keine Zeit zu verlieren. Verzeihen Sie die Kritzelei!
Der Kellner war wieder herangetreten.
Befehlen der Herr Graf, daß ich den Portier nach dem Briefkasten schicke?
Wilfried dankte; er werde es selbst besorgen.
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