Friedrich Spielhagen
Opfer
Friedrich Spielhagen

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Mit wachsender Angst sah Lotte, wie die Wolke auf der Stirn des Geliebten mit jedem Tage schwerer wurde, sein Auge sich verdüsterte. Die tiefste Not seiner Seelenkämpfe konnte sie freilich nur ahnen, da er sie ihr niemals geklagt hatte, weniger aus Furcht, daß sie ihn doch nicht verstehen werde, als aus großmütiger Zärtlichkeit, sie nicht zu allen anderen Sorgen mit einer neuen zu belasten, die sie ihm auf keine Weise abnehmen konnte. So mußte sie denn die Ursache seiner Verstimmung in Dingen suchen, die ihr näher und ihrem Verständnis nur allzu offen lagen.

Seit dem Tage, daß die Zeitungen die Verlobungsanzeige gebracht, hatte sich das Benehmen des Vaters gegen den Geliebten verändert. Nicht mit einem Schlage, allmählich nur, deutlich genug und nur zu erschreckend für sie, der kein Blick, keine Geste, kein Wort, keine leiseste Nuance des angeschlagenen Tones entging. Nicht, daß sich der Vater in seinem Benehmen, seinen Reden mehr als sonst hätte gehen lassen! Es wäre das gewiß schlimm für sie gewesen, aber nicht annähernd so peinlich, als sein gewaltsames Bemühen, den feinen Mann herauszukehren, sich mit Wilfried auf die gleiche Stufe zu stellen. Während dieser die einfachsten Anzüge aus seiner Garderobe heraussuchte, hatte der Vater sich deren mehrere neu machen lassen, die sich für seinen Stand schlechterdings nicht 425 eigneten, und in denen er stundenlang auf der Straße paradierte. Wozu es ihm an Zeit jetzt nicht gebrach. Bestellungen zu Gesellschaften kamen nicht mehr – Gott sei Dank, sagte er; so brauche ich sie doch nicht zurückzuweisen; – den ihm angebotenen Oberkellnerposten in dem Weinrestaurant hatte er abgelehnt: so was schicke sich nicht für den Schwiegervater eines Grafen!

Für den aber schickte es sich, daß er Wilfried vertraulich die Hand auf den Arm legte; ihn »lieber Schwiegersohn« einmal über das andere anredete; ihm den Rauch seiner Cigarre ins Gesicht blies; ihn aufforderte, eine Flasche Wein mit ihm in dem »Landgrafen« zu trinken: »Meinetwegen auch bei Hiller oder Dressel. Ich kenne da alle Marken. Und mir werden sie keine schlechte vorsetzen; das kann ich Sie versichern!«

Wenn sie dann sah, wie es bei solchen Gelegenheiten in Wilfrieds Augen zuckte, und er doch in keinem Moment die vornehme Höflichkeit verleugnete – sie hätte vor ihm niederfallen und ihm die Hände küssen mögen. Er würde sie dann aufgehoben, an sein Herz gedrückt und in seiner gütigen Weise gesagt haben: Liebste, was sorgst Du Dich so um mich! Das alles trifft mich gar nicht. Und thäte es das und träfe mich schmerzlich, ich trüge es gern um Deinethalben!

Sie wußte es wohl, ihr verwundeter Stolz litt darum nicht minder Qualen.

Die sich bis zum Unerträglichen steigerten, wenn der Vater, sobald sie nach seiner Lieblingsredensart »unter sich« waren, in höhnender Weise fragte: Was nun eigentlich aus der Geschichte werden solle? Hätte er gewußt, die Sache werde sich so in die Länge ziehen, und es eine Ewigkeit dauern, bis der Herr Graf sich mit seiner Frau Tante aussöhne, und seine verlobte Braut bei ihr einführe, wie es sich gehöre – nie würde er seine Einwilligung zu der Verlobung gegeben haben! Oder glaube der Herr Graf etwa, es sei ihm mit einem Schwiegersohn gedient, 426 der für den »Vorwärts« schreibe und in socialdemokratischen Versammlungen Mumpitz rede, über den alle Welt lache, da kenne er Hermann Schulz doch nur flach. Das hätte er billiger haben können. Und ob Lotte sich nicht schäme, ihm so etwas zuzumuten? Seine schöne Lotte, sein Goldkind, für die kein König zu gut sei! Und die nun mit einem Grafen vorlieb nahm, der seine Röcke selber bürste! Aber er habe die Geschichte satt. Und wenn der Herr Graf nicht bald andere Seiten aufziehe, werde er etwas erleben, was er sich schwerlich habe träumen lassen.

Ein seltsames Ereignis, das vor acht Tagen stattgefunden, war nach Lottes Ansicht der Hauptgrund, weshalb der Vater alles Maß in seinen Ansprüchen verlor.

Es war ein Polizeibeamter in der Wohnung erschienen, um Erkundigungen darüber einzuziehen, ob ein älterer Bruder von Herrn Schulz mit dem Vornamen Philipp als junger Mann vor vierzig Jahren nach Amerika ausgewandert sei? Die Recherche finde auf Anregung der amerikanischen Botschaft statt und sei infolge der vielen in Berlin existierenden Leute desselben Namens äußerst mühselig gewesen; ja, wäre voraussichtlich resultatlos verlaufen, hätte nicht Frau Rehbein gegen einen Kollegen ihres verstorbenen Mannes gelegentlich geäußert, sie wohne mit einem Schulz in demselben Hause, der einmal zu ihr von einem in Amerika verschollenen Bruder gesprochen. Wenn die Sache, wie es doch scheine, ihre Richtigkeit habe, möge sich Herr Schulz auf die amerikanische Botschaft begeben, wo er das weitere erfahren werde.

Er hatte dort nicht viel in Erfahrung gebracht. Der, auf dessen Wunsch die Requisition stattfinde, sei ein Mr. Philipp Schulz in oder bei Chicago. Weiter wisse man nichts. Es scheine ein wohlhabender Mann zu sein, da er sich die Sache so viel kosten lasse. Man werde das Resultat auf seinen Wunsch hinüberkabeln, und Mr. Philipp Schulz dann wohl ausführlich schreiben.

Bei der Kürze der inzwischen verflossenen Zeit hatte 427 das natürlich noch nicht geschehen können. Der Vater sagte: es werde überhaupt nicht geschehen und alles auf einen Schwindel hinauslaufen. Daß er das gerade Gegenteil erhoffte, sah Lotte aus der Aufregung, die sich seiner seitdem bemächtigt hatte. Warum er ihr aufs strengste verboten, ein Wort über die Angelegenheit gegen Wilfried verlauten zu lassen, war ihr nicht wohl erklärlich. Sie vermutete, daß er in seiner phantastischen Weise auf die Erfüllung seines Traumes einer Millionenerbschaft warte, um mit Wilfried, an dessen Versöhnung mit seiner Tante er bereits nicht mehr glaubte, entschieden zu brechen.

Bei diesen Kümmernissen, die sie still in sich verwinden mußte, war es ein Trost für sie, daß Fritz jetzt endlich aus Doktor Brandts Klinik entlassen war, trotzdem das so schwer verletzt gewesene Bein noch immer geschont sein wollte. Die Schmerzen, die er durchlitten und die so lang geatmete Krankenzimmerluft hatten sein feines, bleiches Gesicht noch mehr vergeistigt. Wilfried sagte: er gleicht einem der Engelknaben auf einem präraphaelitischen Bilde. Eine Erklärung des ihr fremden Wortes hatte er nicht hinzugefügt. Es sollte gewiß etwas besonders Schönes bedeuten, da er auch sonst so lieb und gut gegen den Fritz war. In den schlimmen Zeiten der Familie, als sich zuletzt jedes Band der Ordnung löste, hatte es mit dem Schulbesuch des armen Jungen übel ausgesehen. Und war er – oft nur auf Requisition der Polizei – in der Schule, was konnte man von ihm erwarten, der noch die schwere Müdigkeit von einer Nacht her, die er zur Hälfte, frierend und hungernd, auf der Straße zugebracht, in den zarten Gliedern hatte? Nun saß Wilfried stundenlang bei ihm, sein Lehrer, sein Spielgenoß, der ihm Bücher, hübsche Schreibsachen zutrug; ihm auf einem kleinen Theater Scenen aus Wilhelm Tell und Wallenstein vorführte. Und so den Scheuen, Schweigsamen zu fröhlichem Leben zu erwecken verstand; sich sein zärtliches Herz im Sturm eroberte.

Zu Lottes innigster Lust. Hätte sie Wilfried noch mehr 428 lieben können, er würde es jetzt durch seine große Güte erreicht haben. Wenn sie die beiden so nebeneinander sah; Wilfrieds schlanke, weiße Hand auf der Schulter des Knaben ruhte; der Knabe, zärtliche Liebe, anbetende Bewunderung in den großen, glänzenden Augen zu ihm aufblickte, da kamen ihr Momente, wo sie meinte, es könne doch noch alles gut werden.

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