Friedrich Spielhagen
Opfer
Friedrich Spielhagen

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Wilfried hatte, als Falko kam, in die Stadt fahren wollen, sich von der Bielefelderschen Bank das Geld zu holen. Dazu war es jetzt zu spät geworden: man hielt dort die Kasse von zwölf bis drei Uhr geschlossen. Aber zu Hause hätte er es nicht ausgehalten. Das Herz hing ihm wie ein Stein in der Brust, und durch seinen Kopf jagten düstere, verworrene Gedanken, wie graues Gewölk vor einem heraufziehenden Gewittersturm.

Dann fand er sich im Tiergarten, ohne recht zu wissen, wie er dahin gekommen, auf den um diese Stunde menschenleeren Wegen ziellos umherirrend.

Es war ein Tag wie im Hochsommer. Die Sonne brannte; selbst wo das frische Laub der Bäume dichten 87 Schatten bot, spürte Wilfried kaum einige Abminderung der Hitze. Dennoch mußte er fortwährend des alten wahnsinnigen Lear denken, in der rauhen Winternacht auf der Haide. Und die gewaltigen Verse, die er als Sekundaner und Primaner so oft in der Stille seines Arbeitszimmers deklamiert, kamen ihm Wort für Wort wieder in Erinnerung:

Ihr armen Nackten, wo ihr immer seid,
Die ihr des tückschen Wetters Schläge duldet –

Und weiter:

                                  O daran dacht' ich
Zu wenig sonst! – Nimm Arznei, o Pomp!
Gib preis dich! fühl einmal, was Armut fühlt,
Daß du hinschüttst für sie dein Überflüss'ges
Und rettest die Gerechtigkeit des Himmels!

Jawohl! zu wenig sonst! Oder hätte er seine Zimmer mit all dem Luxus vollgepfropft, dessen er sich bis in den Grund der Seele geschämt, der ihn angewidert, während der Doktor das Elend der unglücklichen Menschen in der dumpfen Kellerwohnung schilderte? Unglücklich durch eigne Schuld? Die Eltern – wohl! Trotzdem doch auch erst zu ermitteln war, was schlechte Erziehung, frühes böses Beispiel, Gelegenheit, die Diebe macht, und welch' schlimme Verhältnisse sonst an ihnen gefehlt und gesündigt. Und an ihren Kindern, die wieder die Verderbtheit der Eltern an Leib und Seele büßen mußten: die Tochter, die zur Dirne geworden; die jüngere, die heute noch sterben sollte in dem vergifteten Kellerloch, aus dem man den Bruder von ihrem Sterbebette weg in das Krankenhaus fuhr, das er vielleicht als Krüppel wieder verließ, sein Elend so weiter durch das Leben zu schleppen.

Und wäre es noch ein einzelner Fall! Aber es war nur einer von tausenden und abertausenden, die sich alltäglich, allstündlich abspielten in Kellerwohnungen und Dachstuben, in Höfen, dahin nie ein Sonnenstrahl drang, und die er nur aus Romanschilderungen und Polizeiberichten 88 kannte. Leidige, aber notwendige Begleiterscheinungen jeder hohen Civilisation, sagten die Weisen; bei dem besten Willen, mit aller christlichen Nächstenliebe nicht aus der Welt zu schaffen. Was den Gutgesinnten freilich nicht hindern dürfe, Hand anzulegen, wo er immer könne. Tropfen freilich nur auf einen glühenden Stein. Aber, was wollen Sie, mein Bester: such is life!

Das stimmte ja mit dem Programm, wie er es vorhin dem Doktor formuliert; an dem er, solange er klar denken konnte, festgehalten; bei dem er sich beruhigt hatte: zu denken und zu sagen, was ist. Was war denn nur geschehen, daß es ihm auf einmal nicht mehr genügte? ihm als ein Faß erschien mit einem durchlöcherten Boden, aus welchem ihm das bißchen Freude, das er noch hier und da am Leben gehabt, das bißchen Selbstachtung und Selbstgerechtigkeit, die bis dahin sein schwacher Trost gewesen, bis auf den letzten jämmerlichen Rest wegzusickern drohten? Hatte ihn Ebbas Weigerung, auf seine Pläne und Absichten einzugehen, so tief verletzt? ihr Kokettieren mit dem ihm widerwärtigen Leßberg so schwer geärgert? Aber er kannte sie doch nicht erst seit gestern. Warum, warum auf einmal erschien ihm sein Verhältnis mit ihr eine Monstrosität? der Gedanke einer Verbindung für immer mit ihr ein Verbrechen? die Besiegelung einer solchen Zukunft nichtsnutzig, wie es bis heute seine Vergangenheit gewesen war, die ihm nichts gebracht hatte als tiefste Unzufriedenheit mit sich selbst, Überdruß und Ekel am Leben bis zu dem Wunsche, es möchte ein Ende haben; der bohrenden Versuchung sogar, ihm gewaltsam ein Ende zu machen?

Oder kam jedem Menschen, der auf ein verfehltes Leben zurückblickt und ein Gewissen hat, sein Tag von Damaskus, der ihm die Binde von den Augen reißt und ihm den Weg zeigt, den er fortan gehen muß? Aber an Wunder glaubte er doch nicht, hatte es nie gethan, selbst in seinen Kinderjahren. Und was dem Paulus begegnet 89 sein sollte, hatte er es sich nicht gut rationalistisch ausgelegt und gemeint: es hatte alles schon längst in dem heißblütigen, leidenschaftlichen Menschen gewühlt, ihm unbewußt, bis es sich ihm plötzlich zu einer Vision, einer Hallucination verdichtete, erregt durch Gott weiß welchen äußeren Umstand: eine wehende Staubsäule, ein seltsames Wolkengebilde, eine Spiegelung der Wüste – einen Bettler vielleicht nur am Wege, in dem er plötzlich den Auszug der ganzen leidenden Menschheit sah, für die Christus am Kreuz gestorben? Das war denn freilich kein Wunder mehr. Und doch ein Wunder, wenn man so nennen will, was uns in seiner Entstehung und seinem Zusammenhang mit den natürlichen Dingen geheimnisvoll und unbegreiflich ist –

Wie der Eindruck, den heute nacht die großen, dunklen Augen des armen Mädchens auf ihn gemacht hatten! Die im Licht des Mondes so wundersam aufleuchteten, während sie mit ihrer leisen resignierten Stimme die fürchterlichen Worte sagte: uns kann niemand helfen –

Und wenn nun doch jemand käme, der Dir helfen möchte und alles dran setzen wollte, daß er es könne? Und sich, gelänge es ihm, entsühnt wissen würde von allem, was er bis dahin verfehlt, gefehlt, gesündigt? Und Du so, während er Dich rettete, zu seiner Retterin würdest? Der zu danken, für das, was Du an ihm gethan, sein Leben nicht hinreichte? Wenn das wäre! das sein könnte!

Wilfried war von der Bank, auf der er im Schatten einer mächtigen Buche nahe dem schilfbekränzten Ufer einer der schmaleren Wasserläufe gesessen, jäh emporgesprungen und hatte ein paar hastige Schritte gemacht, um eben so plötzlich wieder stehen zu bleiben.

Oder war das auch nur eine der phantastischen Regungen, die ihm so kamen, und denen er folgen mußte, bis sie sich – und es pflegte bis dahin nicht weit zu sein – in ihrer wesenlosen Natur offenbarten; nichts 90 zurücklassend als das beschämende Gefühl, wieder einmal der Narr auf eigene Hand gewesen zu sein?

Nein! tausendmal nein! Dies war kein Irrlicht, keine Narretei, kein Gaukelspiel. Diesmal handelte es sich für ihn um Tod und Leben. Und sollte es sich herausstellen, daß die Erscheinung des schönen Mädchens nichts weiter gewesen war, als des Glöckleins Klang, der die Lawine zum Fallen bringt – er fühlte es zu tief: hier war etwas in sein Leben getreten, das nicht wieder daraus weichen – vielmehr: sein ganzes Denken, Empfinden von Grund aus umgestalten würde, es schon umgestaltet hatte. –

Ein wundersames Frohgefühl erfüllte ihn ganz, wie ein Nachklang aus der unschuldsvollen, seligen Knabenzeit, nur so viel tiefer, inniger, hoheitsvoller. Als wäre er selbst verwandelt, die Welt um ihn her. Als hätte der Himmel so köstlich nie geblaut, der Wind nie so feierlich leise durch die Wipfel gerauscht, das Lachen der Kinder nie so herzerquickend geklungen. Er war an einem der Spielplätze, die sich inzwischen zu füllen begonnen hatten, stehen geblieben, dem Treiben der Kleinen zuschauend mit einem Interesse, als handelte es sich da um die wichtigsten Dinge; an dem ungeschickten Krabbeln der Babies, den zierlichen Bewegungen der größeren sich innig ergötzend. Dann wanderte er wieder durch die Gänge, den ihm Begegnenden froh in die Gesichter sehend, daß sich ein und der andere verwundert nach dem seltsamen, feingekleideten Herrn umwandte. Es waren ihm die Alltagsgesichter nicht mehr, die ihn sonst, wenn sie sein gleichgültiger Blick streifte, so angeödet hatten. Es waren seine Brüder und Schwestern, nur daß man einander nicht kannte und so, grußlos, aneinander vorüberging. Und da brauchte nur ein Ereignis zu kommen: ein Unglücksfall, eine Überschwemmung, eine Feuersbrunst, und das Familiengefühl, das Bewußtsein der Zusammengehörigkeit war auf einmal da, regte sich in seiner vollen Kraft!

91 Um wieder zu erlöschen, sobald der Moment, der es hervorgerufen, verrauscht war!

Aber wenn man es nicht erlöschen ließ, es wach hielt – alle Zeit; und alle Zeit aus ihm heraus fühlte, handelte – mußte das nicht ein Leben sein, wahrhaft wert, gelebt zu werden?

Auf eine kleine, rings von Busch und Baum umgebene Lichtung gelangt, stand er still und blickte um sich her. Niemand in der Nähe.

Er hob die Arme zum wolkenlosen Himmel und sagte mit halblauter fester Stimme:

Ein solches Leben will ich fortan leben.

* * *


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