Friedrich Spielhagen
Opfer
Friedrich Spielhagen

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421 So hatte er von seinen beiden ältesten Freunden doch den einen behalten. Es war ihm ein Trost, für den er um so dankbarer war, je deutlicher er fühlte, wie sehr er dessen bedurfte.

Unerquicklich wie die Arbeit auf dem Bureau des Justizrats gewesen war, sie hatte ihn doch über so viele Stunden weggeholfen, die jetzt schwer auf ihm lasteten. Früher hatte er sie mit Kunst und litterarischen Studien behaglich ausgefüllt. Davon konnte jetzt nicht mehr die Rede sein. Er wollte ja für seine Person sein Kapital, das er auf der Reichsbank deponiert hatte, nicht angreifen; sich sein tägliches Brot verdienen, wie andre ehrliche Leute. Womit jetzt, nachdem sein erster Versuch dazu so kläglich gescheitert war?

Aus seiner Bibliothek hatte er eine kleine Anzahl Werke über Volkswirtschaft und Socialpolitik zurückbehalten, an deren ernstliches Studium er sich jetzt zum erstenmal machte. Mit dem warmen Gefühl für das notleidende Volk war es offenbar nicht gethan. Wollte er sein Streiter sein, mußte er sich die Waffen schmieden, mit denen die Partei im Kampfe siegen würde, welche sie am besten führte.

Und hier war ihm eine schlimme Entdeckung vorbehalten: daß die kapitalistische Wirtschaft die Mutter des Elends sei, in welchem die moderne Gesellschaft lebe; dies Elend mit jener ein Ende nehmen und dann eine Ära des Glückes und des Friedens für alle in sicherer Aussicht stehe – es wurde ihm immer mehr zu einer Behauptung, die sich wissenschaftlich nicht beweisen lasse.

Und ihm doch wieder bewiesen schien, wenn er, was er jetzt mit einer Leidenschaft that, die seine rebellischen Nerven momentan zum Schweigen brachte, am Tage die Volksküchen besuchte; des Abends durch die ärmsten Quartiere streifte; zur Nacht in die Asyle Obdachloser trat. Da war es ja doch mit Händen zu greifen, das Elend! da schrie es doch zum Himmel, daß all die Bemühungen der kapitalistischen Gesellschaft, ihm abzuhelfen, all jene 422 Wohlfahrtsveranstaltungen des Staates und der Gemeinden, der Liebesspenden der Privaten, wie immer gut gemeint, doch nur Tropfen waren auf einem heißen Stein!

Dann ließ er seine wissenschaftlichen Zweifel fahren. Gewiß gab es in der socialen Doktrin Fragen, auf welche noch keiner die Antwort gefunden hatte. Aber stand es mit dem Problem des lenkbaren Luftschiffes anders? Und waren nicht sehr kühle Köpfe davon überzeugt, seine Lösung werde trotz so vieler fehlgeschlagener Versuche über kurz oder lang gelingen?

So denn, was sich theoretisch nicht beweisen ließ, mußte praktisch versucht werden. Wo möglich im großen. Der Versuch im großen aber hieß: die sociale Revolution.

Diese Idee bemächtigte sich seiner ganz und gar. In einer Reihe von Aufsätzen suchte er ihr Ausdruck zu geben und sandte seine Arbeit an die Redaktion des Vorwärts.

Man ersuchte ihn, sich die Antwort persönlich zu holen.

Mit einem Widerstreben, dessen er sich schämte, und das er doch nur schwer überwinden konnte, machte er sich auf den Weg.

Der Chefredakteur empfing ihn artig; freute sich, seine persönliche Bekanntschaft zu machen; und daß er auf dem Umweg über die christlich Socialen, die im Halben stecken blieben, den Weg zu ihnen gefunden.

Daun kam er auf seine Aufsätze zu sprechen.

Sehen Sie, verehrter Graf, sagte er lächelnd, wenn wir das drucken wollten, so hätten Sie ein paar Jahre Plötzensee, womit Ihnen nicht gedient ist und der Partei auch nicht, der Sie noch gute Dienste leisten können und werden, wenn Sie die Kunst gelernt haben, das Schiff durch die Klippen hindurchzusteuern, mit denen das Strafgesetz es bedroht. Mit dem letzten Wort muß man selbst innerhalb der Partei zurückhalten. Sie erinnern sich des Goetheschen: das beste, was man wissen kann und so weiter. Aber es ist viel Treffliches in Ihrer Arbeit. Wenn Sie mir verstatten – Sie würden vorläufig nicht damit zu 423 stande kommen – aptiere ich sie für unsern Gebrauch.

Und dann noch eines, was Ihre Schreibweise betrifft. Sie müssen in Ihren Wein mehr Wasser gießen, wenn er unsern Leuten munden soll. Ich habe es auch lernen müssen. Es ist mir schwer genug geworden; aber es geht nicht anders. Der Handwerker, der Arbeiter wird kopfscheu, wenn man nicht in der Sprache zu ihm spricht, an die er gewöhnt ist. Sein Bildungsniveau muß und wird sich heben. Vorläufig aber ist noch zwischen ihm und dem unsern eine Kluft, die nur allmählich ausgefüllt werden kann. Man muß da eben Geduld haben.

Wilfried dankte für gütige Belehrung.

Ein paar Tage später konnte er seine Arbeit lesen, auf ein Drittel zusammengestrichen und ohne die Stellen, auf die er sich am meisten zu gute gethan hatte.

Eine von Tausenden besuchte socialdemokratische Versammlung brachte ihm ähnliche Erfahrungen. Er hatte mit Feuer gesprochen und, wie er meinte, durchaus zur Sache: aber der Beifall, mit dem andre Redner überschüttet wurden, blieb aus.

Es liegt nicht am Inhalt, sagte ihm sein Mentor; es ist die Form. Ich sagte es Ihnen neulich schon. Das darf Sie nicht Wunder nehmen und nicht stutzig machen. Sie sind in der Lage eines Mannes, der in ein fremdes Land unter eine fremde Nation kommt. Er hat den besten Willen und auch das Talent, sich mit all dem Neuen, was er da sieht und hört: den Gebräuchen, Sitten, Umgangsformen und so weiter zu befreunden, sich ihm anzupassen; aber so schnell geht es auch im günstigsten Falle nicht.

Wilfried fühlte sich nicht gekränkt; aber verstimmt und entmutigt war er doch. Ging das Wort des Bruders: man wird Dich freundlich aufnehmen; aber nie Dir ganz vertrauen, nie den Renegaten in Dir vergessen, nicht in buchstäbliche Erfüllung? Dann aber: wozu der Lärm? Wozu die Opfer, die er gebracht, wenn der Preis 424 ausblieb! es ihm doch nicht gelang, ein Mann des Volkes zu werden? sich die Seele des Volkes zu erschließen?

Denn das mit den Formen, in die er sich noch nicht zu finden wisse, war ja nur Gerede. Auch hier war, wie in der Natur, Kern und Schale dasselbe. Er hatte die Schale des Volksmannes nicht, weil er im Kern kein Volksmann war. Da durfte er sich nicht wundern, wenn der Cirkel sich nicht quadrieren lassen wollte.

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