Friedrich Spielhagen
Opfer
Friedrich Spielhagen

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Es war Wilfried lieb, daß Falko früher, als verabredet, bei ihm vorgesprochen. So blieb ihm, ehe er um zwölf die Zusammenkunft mit Frau Doktor Brandt hatte, hinreichende Zeit, Tante Adele aufzusuchen. Es war das von Anfang an seine Absicht gewesen, nur gerade heute vormittag schon hätte es nicht zu sein brauchen; aber Friederike wünschte es dringend; die Gute hatte ein Recht auf seine Folgsamkeit.

Die Thür zu Tante Adelens Haus hatte sich eben für ihn geöffnet, als auch bereits der Portier vor ihm stand. Der Mann war das Treppchen aus seiner Wohnung nur so heraufgestürzt, und mit einer bei seiner sonstigen Behäbigkeit höchst ungewöhnlichen Hast meldete er, bevor Wilfried noch fragen konnte: Frau Geheimrat habe Migräne und befohlen, daß niemand angenommen werde. Nun war ein Zustand, den sie ein für allemal Migräne nannte, bei Tante Adele nichts Ungewöhnliches; aber, wenn auch sonst alle Welt, er war noch nie abgewiesen worden. So glaubte er sich an das Verbot nicht kehren zu brauchen und machte ein paar Schritte nach der Treppe. Der Portier vertrat ihm fast den Weg und sagte mit noch größerer Hast und Dringlichkeit: Es thut mir leid, Herr Graf! ich habe strenge Ordre!

158 So will ich Ihnen keine Ungelegenheit bereiten, sagte Wilfried und hatte bereits eine halbe Wendung nach der Hausthür gemacht, als er ein Damenkleid die Treppe herabrauschen hörte. Da Tante Adele das Haus allein bewohnte – Parterre und zweite Etage wurden nie vermietet – konnte Frau von Wiepkenhagen nur von ihr kommen. Die hatte jetzt den letzten Treppenabsatz erreicht und Wilfried mit dem Portier unten im Flur gesehen. Sie stutzte. Offenbar wäre sie gern umgekehrt, mußte sich aber sagen, daß es zu spät sei. So kam sie die letzten Stufen herab und raschelte an ihm, seine Verbeugung mit wenig verbindlichem Nicken erwidernd, vorüber durch die offen gebliebene Thür zum Hause hinaus. Wilfried, sich die Miene gebend, als ob er die tötliche Verlegenheit, die sich auf dem Gesicht des Portiers malte, nicht bemerke, ließ der Frau Geheimrat seinen Gruß und sein lebhaftes Bedauern vermelden. Er werde morgen wieder vorsprechen. Dann hatte der Portier, etwas durch die Zähne murmelnd, was ungefähr klang, wie: der Herr Graf möge es doch nur ja ihm nicht anrechnen; er habe wirklich nicht anders gekonnt, mit übertriebener Höflichkeit ihn zur Thür hinaus komplimentiert.

Der Mann hätte sich nicht zu entschuldigen brauchen; die Situation ließ an Klarheit nicht zu wünschen: das finstere, pergamentene Gesicht der alten Klatschbase mit dem grauen Schnurrbärtchen und den buschigen Brauen hatte sie bestens illustriert. So waren es nicht Gespenster gewesen, was Friederiken geängstigt, als sie den nächtlichen Brief schrieb.

Sollte man es für möglich halten? Tante Adele war ernsthaft erzürnt. Weshalb? Weil er ihr und der Gesellschaft ein Stück Wahrheit gesagt! Wie jämmerlich hohl doch dies ganze, mit solchem Pathos vorgetragene ästhetische Treiben! Wie recht Frau Brandt hatte, Schillers Weg, die Menschen durch die Schönheit zur Sittlichkeit und Freiheit zu führen, einen Irrweg zu nennen! Hier 159 lag es offen zu Tage. Man schalt die Könige, daß sie die Wahrheit nicht hören wollten. Was thaten denn diese Menschen, als ihre Ohren verstopfen gegen das, was jeder Tag laut auf allen Gassen predigte?

Nicht umsonst versuchte Wilfried so, sich den gehabten Verdruß wegzureden. Er fühlte sein Gemüt leicht und frei, als er vor Doktor Brandts Wohnung anlangte; ganz in der Stimmung für eine Unterredung mit der merkwürdigen Frau und ein Wiedersehen des schönen Mädchens.

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