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Es war vier Uhr geworden, als Wilfried nach Hause kam. Zunz meldete, es seien inzwischen wieder mehrere Briefe eingetroffen, die er dem Herrn Grafen auf den Schreibtisch gelegt habe. Es sei auch ein Rohrpostbrief dabei.
Wilfried fühlte sich nach den Ereignissen des Tages tief abgespannt. Aber er hoffte, die von Elise Schulz erwartete Nachricht vorzufinden. So begab er sich sofort in sein Arbeitszimmer.
Die Nachricht war da: eine mit etwas unsicherer Hand geschriebene Postkarte: Ich wohne jetzt Kochstraße Nr. 15 bei Tischler Wendt. Hof r. 4. Tr. E. S.
Wilfried schloß die Karte in ein Couvert, das er an Frau Doktor Brandt adressierte.
Dann waren noch zwei Briefe, der eine von Tante 182 Adele, der Rohrpostbrief von ihm unbekannter ausdrucksloser Schreiberhand mit dem Stempel: Justizrat Berner.
Was konnte ihm der Rechtsanwalt so Eiliges mitzuteilen haben? Und wie er sich jetzt überzeugte, in einem eigenhändigen Schreiben. Eine große Seltenheit bei dem Vielbeschäftigten.
Sehr geehrter Herr Graf!
Als der alte Rechtsfreund Ihrer Familie glaube ich Ihnen das Folgende ungesäumt notifizieren zu sollen.
Ihre Frau Tante hatte mich heute vormittag ein Uhr zu sich bestellt, damit ich ihr das Testament vorlegen solle, dessen Text ich nach ihren, in wiederholten mehrstündigen Konferenzen, nach allen Seiten diskutierten Angaben ausgearbeitet und festgestellt hatte. In diesem Testament waren Sie, abgesehen von einer längeren Reihe nicht eben wesentlicher Legate an diverse Wohlthätigkeitsanstalten, Dienerschaft u. s. w. als Universalerbe des Vermögens genannt, das sich nebenbei auf rund drei Millionen beläuft.
Ich fand Ihre Frau Tante sehr erregt, wie es schien, von einer Unterredung mit Frau von Wiepkenhagen, die bei ihr auf dem Sopha saß und noch bei meinem Eintreten mit Heftigkeit auf sie einsprach. Ich habe allen Grund anzunehmen, daß sie dabei ihren, wie Sie wissen, großen Einfluß auf Ihre Frau Tante in einer Richtung geltend gemacht hat, die Ihren Interessen, verehrter Herr Graf, diametral entgegengesetzt ist. Bei dem Abschied der Dame, der dann alsbald stattfand, umarmten sich die Freundinnen; Ihre Frau Tante mit den Worten: seien Sie überzeugt, meine Beste, ich werde so stark sein, wie Sie und alle, die es wahrhaft gut mit mir meinen, wünschen und wünschen müssen.
Ich will mich kurz fassen. Unangenehmes sagt sich besser kurz als lang.
Ihre Frau Tante erklärte mit einer Festigkeit, durch die sie mich sonst nicht gerade verwöhnt hat, daß sie nach 183 gewissen Erfahrungen, die sie in allerletzter Zeit gemacht, in Ihnen nicht mehr den liebevollen, gehorsamen, dankbaren Sohn sehen könne, den sie sich erzogen zu haben geglaubt; infolgedessen von einem Testament, wie wir es verabredet, vor der Hand nicht mehr die Rede sein dürfe. Es sei denn, daß Sie, Herr Graf, sich zur Erfüllung gewisser Bedingungen verständen, die sie Ihnen stellen müsse, obgleich sie leider fürchte, der Versuch, in das alte, gute Verhältnis wieder einzulenken, werde an Ihrer Hartnäckigkeit scheitern.
Ich habe trotz aller Mühe nicht herauszubringen vermocht, worin diese Bedingungen bestehen sollen.
Nun aber ist mein freundschaftlicher, höchst dringender Rat, daß Sie die von Ihnen verlangten Konzessionen, die ja nicht gegen Ehre und Pflicht gehen werden, höchstens ein kleines Opfer der Eigenliebe erfordern möchten, durchaus bringen. Alte Damen, besonders die sehr ästhetischen, sind ein genus irritabile – trotz der Poeten. Es sollte mir mehr als leid thun, wenn die entente cordiale, die bis jetzt zwischen Tante und Neffen bestand, eine ernsthafte Störung erlitte, die dann jedenfalls zum Schaden der Partei ausfallen würde, welche an dem weniger langen Ende des Hebels sitzt.
Ihr aufrichtig ergebener
O. Berner, Justizrat.
Ist die Welt toll geworden, oder bin ich es? rief Wilfried, in den Brief starrend, als ob, was er eben gelesen, gar nicht da stehen könne. Aber es blieben dieselben kritzlichen Buchstaben, dieselben ominösen Worte. Erst die liebe Friederike mit ihrer schwesterlich übertriebenen Ängstlichkeit; dann der alte kluge Herr mit seiner Warnung vor den empfindlichen Steckenpferdreitern; jetzt nun gar der kühle, sarkastische Rechtsanwalt, den kaum etwas jemals aus der Fassung brachte, plötzlich voll Sorge um ein Nichts. Dies war doch eines: eine Luftblase, die platzte, wenn man 184 sie berührte. Sicher war die Tante selbst ein gut Teil verständiger als alle diese thörichten Menschen. Was konnte sie ihm geschrieben haben, als: ich bin gestern ein bißchen bös auf Dich gewesen, mein Junge, und habe zu meinen Freunden über Dich gescholten. Nun ist der Ärger verrauscht und ich bin wieder – und so weiter.
Fest überzeugt, daß er keinen andern Inhalt haben könne, erbrach er Tante Adeles Brief.
Lieber Wilfried!
»Alles eigentlich gemeinsame Gute muß durch das unumschränkte Majestätsrecht gefördert werden« ist ein bedeutendes Wort des Hauptmanns in den Wahlverwandtschaften. Nun liegt mir nichts ferner als Anmaßlichkeit, aber ich habe das Recht und die Pflicht, ein so ganz eigentlich gemeinsames Gute, wie es mein Goethekränzchen ist, vor aller Schädigung und Verunglimpfung zu behüten und zu schützen.
In Deinem gestrigen heftig-elementaren Ausfall gegen die würdigen, aufs höchste zu verehrenden Mitglieder meiner Gesellschaft kann ich nicht umhin, eine derartige Schädigung und Verunglimpfung schmerzlich zu beklagen. Durfte ich bisher, den Geist erwägend, welcher über meinen Montagsabenden schwebte, wie der Meister von der Gesellschaft, die sich abendlich um Charlottens Theetisch versammelte, sagen: »Die Gemüter öffneten sich, und ein allgemeines Wohlwollen entsprang aus dem besonderen. Jeder Teil fühlte sich glücklich und gönnte dem andern sein Glück,« so sehe ich jetzt schreckensvoll alles in das Gegenteil verkehrt und die heitere Idylle in eine Tragödie verwandelt, welche meine auf das Anmutig-Schöne gestimmten Nerven grausam quält.
Der Speer, der die Wunde geschlagen, ist allein imstande, sie zu heilen. Bringe meiner verstörten Gesellschaft Behagen, Zufriedenheit und Glück zurück, indem Du ihr am kommenden Montag, zu welchem ich diesmal 185 ausnahmsweise besondere Einladungen ergehen lassen werde, reumütig Dein Fehl eingestehst und sie bittest, Dir ihre Wohlgeneigtheit, die Du jetzt verscherzt hast, freundlich mild wieder zuwenden zu wollen.
Ich achte und ehre die Blutsverwandtschaft, wie jede andre bedeutende Gabe der Natur. Aber dem Streben, das in unsres Busens Reine wogt, antwortet in gleichgestimmten Tönen doch einzig und allein die Wahlverwandtschaft.
Sollte es wirklich ein holder Wahn von mir gewesen sein, daß unser Verhältnis im Zeichen dieser höheren Weihe stand?
Deine tiefbetrübte Tante Adele.
Wilfried schob den Brief auf die Seite, nahm ein leeres Blatt und schrieb:
Liebe Tante!
Ich denke zu groß von Dir, um in Deinem Brief etwas anderes zu sehen als den Ausdruck einer gewiß schnell vorübergehenden üblen Stimmung. Was die Bedingung betrifft, deren Erfüllung Du mir ansinnst, die verlorene Gunst Deiner Gesellschaft wiederzugewinnen, so kommt mir ein Wort Tassos in Erinnerung, das ich mir für unsern Fall aneignen zu dürfen bitte:
Gern erkenn' ich an,
Du willst mein Wohl; allein verlange nicht,
Daß ich auf diesem Weg es finden soll.
Ich verbleibe, trotz Deiner momentanen Ungnade, in Liebe
Dein Wilfried.
Dann schrieb er noch an den Justizrat ein paar Zeilen, in welchen er ihm für seine treue Sorge, die, wie er zuversichtlich annehme, diesmal grundlos sei, freundlich dankte.
186 Zunz sollte die Briefe in den Postkasten thun; nur den an Frau Doktor Brandt sofort direkt besorgen. Übrigens wünsche er jetzt, eine Stunde zu ruhen und nicht gestört zu werden.
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