Friedrich Spielhagen
Opfer
Friedrich Spielhagen

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Eine Stunde später saß Tante Adele allein in ihrem Salon, nachdem Friederike sie eben verlassen. Das liebe Mädchen hatte während der langen Unterredung, welche die beiden Damen gehabt, mehr als einmal ihr Taschentuch an die nassen Augen gedrückt. Sie war kurz vor der Abreise, die sie so schnell nicht vermuten konnte, bei ihrer Freundin, der Fürstin, gewesen; hatte sie nur noch eben umarmen können und von ihr in wenigen eiligen Worten den mißlichen Ausgang erfahren, den die Zusammenkunft der beiden Brüder gestern abend genommen. Dann, nachdem sie die Familie zu den bereits vor dem Hotel haltenden Wagen begleitet, war sie zu Tante Adele geeilt, sorgenden Herzens. Hatte doch die Fürstin gesagt: mein Mann giebt ihn noch nicht auf. Er wird es nie. Er hat ihn zu lieb; aber so weh es mir auch thut: ich halte ihn für uns verloren. – Wenn Tante Adele nun in derselben Ansicht 389 beharrte, ihm ihre Gunst nicht wieder zuwandte – was sollte aus Wilfried werden?

Sie fand Tante Adele schon unterrichtet. Die Fürstin hatte ihr um die Mittagszeit einen freilich nur kurzen Besuch gemacht, ihren Gatten zu entschuldigen, der sich für die bevorstehende Reise schonen solle, und für Wilfried ein gutes Wort einzulegen, der für den Augenblick von seinen thörichten Neuerungsideen zu eingenommen sei, als daß er Vernunft mit sich reden lasse; zweifellos aber in kurzem sich auf sich selbst und seine Pflichten gegen Tante Adele, die übrige Familie, seinen Stand, gegen den Staat besinnen werde; und mit dem man bis dahin Geduld haben müsse.

Ich habe ihr erwidert, sagte Tante Adele mit einem schmerzlichen Lächeln, das ausdrücken sollte, wie schwer ihr der Sieg geworden, den beleidigte Würde über das liebende Herz davon getragen: »Laß uns im stillen neuen Tag erharren!« Dann »soll's an mir, soll's an gefälligem Betragen, guten Worten, Nachgiebigkeit und Neigung nicht gebrechen!« Konnte ich, kann ich mehr thun?

Du liebe, gute Tante Adele, rief Friederike, sie umarmend; ich bin schon zufrieden, wenn Du ihm nur verzeihen und wieder gut sein willst.

Sobald er mich um Verzeihung bittet. Das wird nach dem, was ich von ihm weiß, wohl nie geschehen.

Das sagst Du, und glaubst Du, weil Du nur auf seine Feinde hörst: Ebba, die doch nur schweigen sollte; Frau von Haida, die Dir Ebba zugeführt hat, und die in Breslau und zehnmaligem Umkreise als Salonschlange verrufen ist; Frau von Wiepkenhagen, die Wilfried feind ist, weil er mit Recht ihre Novellen scheußlich findet –

Erlaube mir zu bemerken, unterbrach Tante Adele die Erregte; Du gebrauchst Ausdrücke, die in Deinem Munde ebenso unschicklich, wie für meine Ohren ungeziemend sind.

Friederike bemühte sich vergebens, den Fehler wieder 390 gut zu machen. Tante Adele blieb verstimmt und entließ sie endlich, ohne ihr den gewohnten huldreichen Kuß auf die Stirn gedrückt zu haben.

Und jetzt saß sie in dem großen dämmerigen Gemach in trübseligster Stimmung. Wie fürchterlich deprimiert sie war, dafür hatte sie einen schlagenden Beweis: sie fand, ihren Seelenzustand auszudrücken, kein Wort des Meisters, nur eines aus dem Wallenstein, den ja freilich auch der Meister einigermaßen goutiert zu haben schien: »Denn über alles Glück geht doch der Freund, der's fühlend erst erschafft, der's teilend mehrt.« Es fehlte in diesem Augenblick nicht viel, und sie hätte sich als Herzog von Friedland beklagt, den sein Max verlassen will. Verlassen hatte! Wußte sie doch Dinge von ihm, die sie vor den keuschen Ohren Friederikens nicht einmal andeuten durfte! Ihre Einladungen zum nächsten Montag hatte sie noch nicht zu verschicken gewagt, da sie den Freunden die Genugthuung nicht bieten konnte, die sie verlangten und verlangen durften. Wilfried verloren; die Freunde entfremdet! Ach! und das Montagskränzchen! Von dem sie jetzt nur noch sagen konnte: »ich besaß es doch einmal –« und ihr das! ihr »die immer strebend sich bemüht hatte!«

Sie kam sich grenzenlos verlassen und unglücklich vor.

Mathis brachte die große Lampe für den Sofatisch herein und entzündete schweigend die beiden kleineren auf dem Kaminsims. Warum unterließ er heute sein seit zwanzig Jahren bei dieser Gelegenheit vorgebrachtes, altfränkisches und gerade deshalb ihr liebes »Wünsche einen guten Abend, Frau Geheimrat!« Sollte sie jeder freundlichen Gewohnheit entsagen lernen?

Weshalb so schweigsam, Mathis? sagte sie vom Sofa aus mit sanftem Vorwurf.

Frau Geheimrat wollen doch nur von ihm hören, erwiderte Mathis mürrisch, während er die Glocke auf die zweite Lampe setzte. Frau Geheimrat haben meine letzten Mitteilungen so ungnädig aufgenommen. Ich möchte mir 391 nicht wieder den Mund verbrennen. Übrigens soll ich der Frau Geheimrat Herrn Justizrat melden.

Warum sagen Sie das jetzt erst? Mathis, Freudigkeit ist die Mutter aller Tugenden. Sie fangen an, Ihren Dienst freudlos zu verrichten.

Und dafür soll er hundert Jahre an der Himmelspforte warten, sagte der Justizrat, durch die Portiere hereintretend. Mathis, Mathis, geschieht das noch einmal, werde ich Ihre Majestät bitten, künftig unangemeldet vorgelassen zu werden.

Mathis hatte sich grollend entfernt; der Justizrat Tante Adele die Hand geküßt, sich in einen Fauteuil neben dem Sofa sinken lassen und blickte mit einer lustigen Grimasse zu ihr auf.

Nun? sagte er.

Was, mein Freund? fragte Tante Adele.

Ich warte darauf, daß Sie sagen: »Du siehst mich lächelnd an, Eleonore.«

Sie blicken in der That vergnügt, mein Bester.

Wie einer, der vergnügliche Dinge zu melden hat.

Tante Adele lächelte ein trübes Lächeln.

Ach was, Tante Adele! Kopf hoch! »Wenn Ihr das Leben gar zu ernsthaft nehmt, was ist denn dran?« Das ist echter Goethe – aus Egmont, glaube ich. Und irgendwo in derselben Scene muß auch noch stehen: »Ist ein Fastnachtspiel gleich Hochverrat?« Eine gar nicht aufzuwerfende Frage! Und ich habe Ihnen von einem Fastnachtspiel zu berichten, wie es toller und lustiger gar nicht sein kann.

Lassen Sie mich hören, mein Lieber! sagte Tante Adele, sich mit der Miene eines, den längst alle Freuden flohen, in der Sofaecke zurechtrückend.

Nun also! Er war heute nachmittag bei mir auf dem Bureau mit einem Mann mosaischen Glaubens, dem er für ein Spottgeld von nebenbei sechzigtausend Mark seine Bilder, Kunstsachen, Bibliothek, Möbel, kurz: all sein Hab 392 und Gut verkauft hat. Da er natürlich, wie das Gräflein in der Ballade, nicht im Schlösselein hausen kann, durch dessen leere Zimmer alle Winde kommen – wie finden Sie mich heute, Tante Adele? großartig goethefest, nicht wahr? – so wird er sich, wie er mir sagte, ein bescheideneres Quartier suchen – sous les toits, vermute ich.

Und das nennen Sie vergnügliche Dinge? rief Tante Adele entsetzt.

Es kommt noch besser. Hören Sie! Der brave junge Mann, nachdem er sich, mit Respekt zu sagen, von allem entblößt hat –

Aber die sechzigtausend Mark, die er –

Davon später! – will nun auch, wie es sich für einen Socialdemokraten pur sang ziemt, von seiner Hände Arbeit leben; hat sich zu diesem Zweck als Schreiber bei mir gemeldet; und ich habe ihn auf vorläufig unbestimmte Zeit engagiert mit einem Monatsgehalt, das Sie Mathis nur zu bieten brauchen, wenn Sie wünschen, daß er Ihnen zur Veränderung einmal höchst respektwidrig ins Gesicht lacht.

Sie belieben zu scherzen, sagte Tante Adele, sich voll beleidigter Würde in ihrem Sitz aufrichtend.

Mit Frauen, noch dazu so einziger Art, soll man sich das nie untersteh'n. Nein, meine verehrte Freundin, das alles ist lautere Wahrheit, von der kein Mäuslein ein Fädchen abbeißt. Nun komme ich auf die sechzigtausend Mark. Davon könnte er in seiner bisher gewohnten Weise cirka zwei Jahre leben. Die brave Familie Schulz, die er sich aufgehalst hat, wird dafür sorgen, daß er in einem halben Jahr – wahrscheinlicher: schon in einem viertel damit fertig ist. Ja, meine Verehrte, wenn man seinem Liebchen spanisch kommt – das kostet etwas. Glauben Sie mir!

Sie sind ein Cyniker, mein Bester, sagte Tante Adele hoheitsvoll.

Der Justizrat zuckte die Achseln.

Schon mehr als einmal haben Sie mich so genannt, 393 ich schäme mich auch nicht, einer zu sein. Sie wissen, warum der Mensch die Hunde so gern hat! Aber, wie dem alten König Lear, blieb mir ein Stück vom Herzen; und das hängt an dem Jungen, der mich ja im Grunde gar nichts angeht, nur daß ich an ihm, während er so vor meinen Augen aufwuchs, immer meine Freude gehabt, und alles in ihm gesehen habe, was ich gern im Leben hätte sein mögen und nicht geworden bin und nicht werden konnte. Er ist in alle Wege ein prächtiger Mensch; nur: es ist ihm im Leben immer zu gut gegangen; etwas, für das er nichts kann, und das nun doch an ihm heimgesucht wird, als könnte er etwas dafür. Er empfindet es durchaus als ein Unrecht, das er begangen hat und wieder gut machen möchte. Alles, was er jetzt thut, geschieht in diesem Sinne. Selbstverständlich gerät er dabei ins Übermaß; und, wie er bis dahin ein Glückskind war, möchte er nun das ganze Leid der Welt auf seine Schultern nehmen. So etwas will sich austoben, wie ein Fieber, das auch nur die Reaktion des gesunden Teils gegen den kranken ist. Dazu kommt ein anderes, das in dasselbe Kapitel gehört. Verrückt, wie wir Menschen nun einmal sind, möchte ein jeder gerade das sein, was er seiner Natur nach schlechterdings nicht sein kann. Man fühlt das Fragmentarische seines Wesens und möchte es komplettieren. Da geschehen dann die närrischsten Dinge. Ich habe die Beobachtung tausendmal an anderen gemacht, natürlich auch an mir selbst. Pygmäe mit dem Nußknackergesicht und der Papageienstimme, hatte ich in meiner Jugend den wahnsinnigen Drang, auf die Bühne zu gehen; Karl Moor, Egmont, Tasso, Max Piccolomini – kurz: zu spielen, was es nur an idealsten Helden- und Liebhaberrollen giebt. Hatte auch wirklich den Mut, mich einem Direktor – von einer Provinzialbühne – anzubieten. Der wollte sich totlachen, meinte aber schließlich: es könne am Ende ein Komiker in mir stecken. Er versuchte es mit mir: natürlich wurde ich furchtbar ausgezischt. Es war eine derbe Lektion, aber eine heilsame: ich ließ 394 den Gedanken, ein Hendrichs zu werden – er war damals der Matador – fahren; bin nie wieder darauf zurückgekommen; war für immer kuriert. Sehen Sie, liebe Freundin, eine solche Kur – mutatis mutandis – macht jetzt unser Angstkind durch. Wie nur immer einer jener edlen venetianischen Jünglinge, die ebenso gut wie nicht Doge werden konnten: fein, eigen, bedächtig und stolz; Aristokrat vom Wirbel bis zur Sohle; auf der Stirn das ausgeprägteste odi profanum, will er partout ins Volk gehen, wie der Russe sagt: Volksmann sein, Demokrat, Socialist, Revolutionär – was weiß ich! Er bringt dazu gerade so viel Talent mit, wie ich zum Heldenspieler. Nicht auf das, was man will, kommt es an, sondern darauf, daß man kann, was man will; und man kann es nicht, wenn einem die Gaben fehlen, die zu der Sache gehören. Ihm fehlen für seine erträumte Volksmannsrolle diese Gaben gänzlich: die Stentorlunge, die derben Ellenbogen, die unempfindliche Haut und was nicht alles noch. Der kleine Erfolg in der Versammlung des Pfarrer Römer, der gerade so ein Schwärmer ist, wie er, hat ihn berauscht. Wie bald wird er lernen, daß eine Schwalbe noch keinen Sommer macht!

Und wäre alles, wie Sie es eben mit schöner Beredsamkeit dargelegt haben, sagte Tante Adele, eine Pause benutzend, die der kleine Mann machen mußte, sich auf dem Fauteuil wieder festzusetzen, von dem er, bei einer besonders zappligen Bewegung beinahe heruntergeglitten war; was rettet ihn aus den Armen dieser bürgerlichen, sicher unendlich raffinierten Mädchen, die ihn umstrickt halten?

Was rettete Odysseus aus denen der Kalypso und der Circe, die jedenfalls nicht weniger weich waren, wie ihre Küsse sicher nicht minder heiß brannten? Überdruß und die Entdeckung, die man über kurz oder lang macht, daß gleich sich am besten zu gleich gesellt. Glauben Sie mir, wenn sie Egmont und Clärchen erspart blieb, diese 395 Entdeckung, haben sie es nur Alba zu verdanken. Übrigens, wenn Sie dem Helden von Gravelingen sein hübsches Bürgerschätzchen sicher nie mißgönnt haben – was dem einen Grafen recht war, ist dem andern billig. Darum wird die zweite Etage in Ihrem Hause doch nicht in alle Ewigkeit leer stehen. Sie wollen nicht, daß kleine Kinderfüße Ihnen über dem Kopfe herumlaufen? Tante Adele, ich kenne Sie besser. Sie warten nur darauf, daß die betreffenden Füße Wilfrieds Kindern gehören. Dann mögen sie oben Generalmarsch trappeln – es wird Ihnen wie Sphärenmusik klingen. Habe ich recht?

Sie sind ja des Rechtes Anwalt, sagte Tante Adele mit ihrem holdesten Lächeln.

Und mit diesem entzückenden Bonmot sollen Sie das Feld behaupten! rief der kleine Herr, sich aus der Tiefe des Fauteuil, in die er zuletzt versunken gewesen, herausarbeitend und vor Adele hinstellend. Leben Sie wohl, Sie liebenswürdigste und goethefesteste aller Tanten und Frauen! Noch vier Wochen höchstens, und ich bringe Ihnen den entflohenen Vogel an dem Faden, den er brach, gefangen aus dem Walde zurück.

Ich nehme an, Sie behandeln meinen Jungen gütig, wie Egmont seinen Sekretär Richard? sagte Tante Adele, während sie, als ein Zeichen ihrer höchsten Gnade, den Justizrat vom Sofa bis an die Portiere begleitete.

Gütig, daß Apoll, wäre er annähernd so behandelt, als er die Schafe des Admet hütete, auf seine Göttlichkeit definitiv verzichtet hätte, erwiderte er lachend.

Noch eines, sagte sie, den Eiligen ängstlich festhaltend. Sie haben mich wundersam getröstet; ich fasse wieder Mut des reinen Lebens. Aber übermorgen, wie Sie wissen, ist mein nächster Kränzchentag. Die Wiepkenhagen hat erklärt, daß, wenn Wilfried nicht Abbitte leiste, sie und ihr Anhang: Major Bronowski, Professor Jarnowitz, Doktor Cramer austreten werden. Was soll ich thun?

Fahren lassen, was nicht genügt; ziehen lassen, was 396 Ihnen entwischt! rief der alte Herr beinahe heftig. Mein Gott, warum studiert Ihr Euer Leben lang den Faust, wenn Ihr nicht aus ihm lernen könnt! Das ist meiner Weisheit letzter Schluß. Nochmals, adieu!

Er hatte Tante Adeles weiße Hand zum Abschied geküßt. Sie schritt nachdenklich zum Sofa zurück, seufzend und vor sich hinmurmelnd: O, daß dem Menschen nichts Vollkommenes wird, empfind ich nun.

* * *


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