Friedrich Spielhagen
Opfer
Friedrich Spielhagen

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Wenn Ihre Erwartung nur nicht getäuscht wird, Herrschaften, und des Pudels Kern Sie lachen macht, der in diesem Falle, wie es sich gebührt, natürlich wieder ein fahrender Scholast ist. Denn als solchen, oder etwas der Art fand ich mich heute nacht im Traume auf einer Landstraße, die sich fast schattenlos durch ein hügeliges Terrain zog, bald hinter einer waldbewachsenen Höhe kurzer Hand verschwindend, bald sich vor mir auf ebenem Plan langhin streckend; und, trotzdem es offenbar eine Hauptstraße sein sollte, nicht besser war, als heute ein vernachlässigter Kommunalweg. Ich schloß aber auf eine Hauptstraße aus der lebhaften Frequenz, die freilich nicht gleichmäßig sich zeigte, sondern, sozusagen, ruckweise, wie das im Traum so zu sein pflegt: jetzt viele Fußgänger, bäuerliche Leute zumeist, Handwerksburschen, das Felleisen auf dem Rücken; eine Reihe mächtiger, mit Planen überspannter Wagen, schwere Gäule davor, die ihre Kummete schüttelten, und neben denen derbe Fuhrleute schritten in blauen Blusen und ledernen Gamaschen, lange Peitschen in den braunen Händen, kurzstielige Thonpfeifen im Munde. Dann war wieder die ganze Staffage verschwunden und ich mutterseelenallein auf der Straße.

Die Gegend, durch die ich schritt, kam mir bald bekannt, bald völlig fremd vor: es mochte Thüringen, es konnte auch Böhmen sein. Wohin ich wollte, wußte ich klar: nach Karlsbad, oder, wie man in meiner Jugend zu sagen pflegte und Goethe noch regelmäßig schreibt: in das Karlsbad. Herrschaften wissen, daß ich dahin seit – na, 126 sagen wir dreist: vierzig Jahren regelmäßig gehe, par ordre meiner Ärzte und zu eigenem Behagen, denn es ist ein lieblicher Ort, in dem ich stets mit immer neuer Lust an Natur und Menschen mich rege und bewege. Bin ich aber da, brauche ich den Herrschaften zu sagen, daß ich fortwährend von Reminiscenzen an unsern Goethe auf allen Wegen und Stegen begleitet bin? Ich suche mir dann das Karlsbad von damals im Geiste wieder aufzubauen; mir die Gesellschaft von damals zu vergegenwärtigen, durch die er nun in meiner Phantasie wandelt, immer ein andrer, je nach der Zeit, die mir gerade vorschwebt, und immer derselbe: dieselbe hohe, ehrfurchtgebietende Gestalt, der Mittelpunkt des jeweiligen Kreises, der ihn umgiebt, wie er es an jenem Abend in der Hofgesellschaft von Weimar war.

Der alte Herr nippte an der Tasse, die ihm Friederike eigenhändig vor seinen Platz gestellt; lächelte freundlich dankbar zu seinem Liebling auf; nahm aus der goldenen Tabatière, welche er während des Sprechens spielend in den welken Händen bewegte, eine decente Prise und fuhr fort, sich wieder zu der übrigen Gesellschaft wendend:

Als ich vor vierzig Jahren zum erstenmal nach Karlsbad kam – und auch noch manches Jahr hinterher – war die Reise nicht ganz so bequem wie heute. Durch einen Teil von Sachsen und durch ganz Böhmen ging es noch per Achse, und ich darf sagen: so im schweren Gefährt mit Posthornklang und Peitschenknall die prächtige Prager Straße in das Tepelthal hinabzurasseln, wie es sich da tief unter uns durch seine Waldberge windet – ja, Herrschaften, dagegen kommen unsere Eisenbahnen doch nicht auf. Da habe ich denn so oft daran denken müssen, daß Goethe, der, Gott sei Dank, sein Lebenlang von den erzprosaischen Eisenbahnen verschont geblieben ist, von Weimar, oder woher er gerade kam, in seinem bequemen Reisewagen nach Karlsbad kutschierte. Und an das viele Ergötzliche und Interessante, was er auf dem langen Wege von 127 seinem Kutschensitze aus auf der Landstraße und in den vielen Wirtshäusern, in denen man Halt machen, auch übernachten mußte, gesehen und beobachtet haben mag. Wir klagen immer darüber, daß die Welt um uns her mit jedem Jahre kahler und prosaischer wird. Ich glaube, wir haben vollauf Ursach dazu.

Werden die Herrschaften nicht ungeduldig: ich komme gleich zur Sache.

Also ich wanderte im Traume auf der Landstraße in das Karlsbad. Dessen war ich ganz sicher; und daß ich den Weg zu Fuß machte, wunderte mich nicht. Wer wundert sich denn in einem Traum? Und so war es mir auch nicht verwunderlich – ich befand mich einmal wieder auf einer menschenleeren Strecke – einen großen, offenen Reisewagen hinter mir herkommen zu sehen, der alsbald an meiner Seite war, und in dessen Fond niemand Geringeres saß, als Goethe selbst. Ich wußte es sofort, trotzdem er – natürlich hätte ich fast gesagt – anders kostümiert war, als auf der Hofredoute: in einem gelbleinen Staubkittel über dem dunklen Anzug und eine blaue Mütze mit sehr großem Schirm von schwarzem Leder auf dem Kopf. Auch schien er mir um mindestens zwanzig Jahre jünger und viel brauner im Gesicht, wie einer, der so recht gut Freund mit Wind und Sonne ist. Übrigens mußte – obgleich ich davon nichts spürte – der Tag sehr heiß sein, und Pferde, Wagen und der hohe Reisende selbst waren arg eingestäubt.

Ich war auf die Seite getreten und hatte eine respektvolle Verbeugung gemacht. Der Wagen hielt, und, mich freundlich aus den großen braunen Augen anblickend, sagte er mit sonorer Stimme – sie klingt mir ja von jenem Abend in Weimar her unvergeßlich im Ohr: Der Tag ist heiß und Ihr seid müde, guter Freund; kommt herein; es ist Platz genug. – Ein jüngerer Mann, der ihm gegenüber auf dem Vordersitz gesessen hatte, war herabgesprungen, mir die Wagenthür zu öffnen, und dann verschwunden – 128 weiß nicht, wohin; kümmerte mich auch nicht darum; hatte jetzt wahrlich Besseres zu thun. War mir doch nun gewährt, was ich mein Lebenlang ersehnt: mit Goethe sprechen zu dürfen.

Herrschaften, im Traum geht es nicht immer ganz rationell und logisch zu, besonders in den Gesprächen, die man da führt. Und flunkern und nachträglich eine regelrechte Konversation à la Eckermann komponieren, kann ich nicht; und will ich nicht, wenn ich es könnte. Aber dies und das ist mir doch Wort für Wort im Gedächtnis geblieben, weil ich es mir rekapitulierte, sobald ich erwacht war. Sogleich der Anfang. Ich erinnere mich Ihrer sehr wohl, sagte er – von Weimar am Abend – hier nannte er ein Datum, das entschieden nicht richtig war. Auch Ihre lieben Eltern in Gotha sind mir wohlbekannt und immer treue, erprobte Freunde gewesen. Sie wollen ebenfalls in das Karlsbad. Ich möchte mich darüber wundern, Ihre jungen Jahre erwägend. – Worauf ich bescheidentlich erwiderte: ich sei nicht ganz so jung mehr, wie es den Anschein habe. – Nun wieder er: Sie haben recht mein Bester; der Schein trügt oft; und man könnte wohl hin und wieder unwillig werden, daß wir Menschen so auf den Schein gestellt sind. Nur daß durch den Schein das Wesen der Dinge deutlich genug hindurchblickt, so wir nur die Augen fest darauf gerichtet halten. Ich wenigstens, wenn ich sie recht aufmache, glaube – in den guten Stunden wenigstens – so ziemlich alles zu sehen, was zu sehen ist.

Ich wollte sagen, daß ich dies Wort von ihm bereits irgendwo gelesen hätte, erinnerte mich dann aber, es möchte nicht ganz höflich sein, und murmelte etwas von Geisteskraft und sonnenhaftem Auge.

Ei, ei, erwiderte er mit einem wundervollen Lächeln in den braunen Augen und um den ausdrucksvollen Mund; man scheint ja recht belesen in meinen Schriften! Nun, das ist ja schön. Aus der deutschen Litteratur kann man mich nicht wieder herausbringen. In unmutvollen Stunden, wie sie keinem erspart bleiben, ist das mir eine tröstend erhebende Überzeugung gewesen.

Hier nun, erinnere ich mich genau, kam mir der Gedanke, der übrigens sofort wieder schwand, daß er, mit dem ich sprach, der zu mir sprach, ja längst tot sei, und ich ihm nachträglich seine Überzeugung bestätigen müsse. Wohl aus diesem Gefühl heraus, sagte ich: mit dem Herausbringen habe es ein für allemal nichts auf sich; dafür sei die Goethe-Gesellschaft wohl der schlagendste Beweis.

Was ist das für eine Societät, mein Bester? fragte er, erstaunt die Brauen auf die hohe Stirn ziehend; davon habe ich nie gehört.

Da machte ich ihm nun, so gut ich konnte, eine Schilderung von dem Wesen, den Zielen unsrer Gesellschaft; in welcher Weise sie arbeite; welche Ausdehnung sie bereits gewonnen habe, und was denn sonst zu dem Thema gehört; höchlichst erstaunt, daß, während ich ihm doch eine Freude zu bereiten glaubte, seine Miene immer ernster, zuletzt sogar ganz finster wurde.

Ja, ja, rief er, als ich betroffen schwieg; so sind meine guten Deutschen. Ich habe es immer gesagt: aus allem, was phänomenal in ihr stagnierendes Dasein tritt, machen sie sogleich ein Dogma. Da läßt sich dann an Worte trefflich glauben; da hat man die Teile in der Hand, und für das fehlende geistige Band mag der Himmel sorgen. Doch, was beklage ich mich? Mit dem Luther haben sie es nicht anders gemacht. Oder wäre etwa in der deutschen Litteratur mein Geist lebendig? Hätte man den Weg, auf den Schiller und ich euch gewiesen haben, mit Einsicht, Ausdauer konsequent verfolgt? Sind Sie in der Lage, mein Bester, mir darüber etwas Erfreuliches zu berichten? Ich lasse mich gern belehren.

Hier nun geriet ich, dem augenscheinlich völlig Erzürnten gegenüber, in eine Verlegenheit, wie man sie so peinlich nur im Traum empfindet. Einmal kenne ich unsere moderne erzählende Litteratur herzlich wenig, was mir ja, 130 als altem Mann, nicht so sehr zu verargen ist. Ein paar Sachen, die mir halb zufällig in die Hand gefallen und, offen gestanden, gar nicht übel erschienen waren, kamen mir plötzlich recht armselig vor, daß ich nicht damit rausrücken mochte. An dem Theater habe ich längst den Geschmack verloren – ich kann mich beim besten Willen nicht mehr in die obligate Illusion versetzen. So hätte ich auch darüber nichts zu sagen gewußt ohne die begeisterten Mitteilungen, die mir unser lieber Herr Major gemacht hatte. Nun, wissen Sie, dergleichen Relationen aus zweiter Hand pflegen nicht zum besten zu geraten. Ich kam aber auch gar nicht weit, dafür aber aus dem Regen in die Traufe. Mein verehrtes Gegenüber geriet in einen wahren Berserkerzorn und rief: ich solle ihn mit solchem Kram ungeschoren lassen, der zu weiter nichts tauge, als zur Unterwühlung des Bodens, auf dem er und Schiller den Tempel einer wahrhaft humanen, weltbürgerlichen Litteratur aufzurichten sich so heiß bemüht hätten.

Bis dahin, meine Herrschaften, hatte mein Traum eine Klarheit und – alles in allem – Folgerichtigkeit bewahrt, über die ich mich jetzt nachträglich selbst wundern muß. Nun aber fangen die Bilder an wirr durcheinanderzutaumeln. Aus dem behaglichen bürgerlichen Reisenden war der apollinische Jüngling geworden im griechischen Gewande, wie ihn uns Hufeland als Orest bei der Aufführung der Iphigenie im Park von Ettersburg schildert; aus dem Postillon Schwager Kronos, der mit einer Geißel wütend auf die Gäule einhieb, die mit dem hin und her schwankenden Gefährt bergab die steile Prager Straße nach Karlsbad herunterrasselten. Von dem Gerassel, das immer toller wurde, fuhr ich erschreckt im Bett auf. Es waren aber nur die Trommeln der Franzer, die unter meinem Fenster nach ihrem Exerzierplatz vorbeimarschierten.

Und nun, verehrte Damen, werte Herrn, verzeiht dem Alten seine Geschwätzigkeit! Ja, ja, wenn unser einer ins Reden kommt! Darüber habe ich denn natürlich auch die 131 Stunde versäumt, und mein Wagen – schön, schön, lieber Mathis! Sie sehen, ich komme schon. Bitte, bitte, meine Herrschaften, sich nicht zu derangieren!

Der alte bewegliche Mann hatte in gewohnter Weise einen kurzen summarischen Abschied genommen; nur Friederike, die ihm mit ausgestreckten Händen in den Weg gelaufen war, durch einen Kuß auf die gesenkte Stirn auszeichnend.

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