Friedrich Spielhagen
Opfer
Friedrich Spielhagen

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Wilfried war in die Bellevuestraße eingebogen. Durch die Potsdamerstraße hätte er es nach seiner Wohnung näher gehabt; er hoffte so dem Lärm, der ihm ganz unerträglich geworden war, zu entgehen.

Ein wenig stiller war es hier freilich, wenn auch noch genug Pferdehufe auf dem Asphalt klapperten und die Trottoirs unter den mächtigen Bäumen schwarz von Menschen waren, die nach der Stadt strebten. Manchmal in dichten Haufen, so daß er das Ausweichen nicht immer leicht fand. Und er hätte um vieles nicht von einem dieser dunklen Ehrenmänner angestoßen werden mögen. Gerade wie sein Vetter vorhin auf dem Potsdamer Platz. Darin sind wir eben alle gleich. Es mögen ja ganz brave Menschen sein, ehrbare Leute, die vollauf das Recht haben, sich am Sonntag auf ihre Art zu amüsieren und das Trottoir für sich zu beanspruchen, nachdem sie sechs Tage im Schweiße ihres Angesichts – wenn der Schweiß nicht wäre! Er giebt den Leuten den fatalen Geruch. Die beiden Frauenzimmer – sie hatten sich mit schlechten Parfüms 26 übergossen – sonst – Und doch, wenn man's recht bedenkt – die Dicke – na ja! die war einfach polizeiwidrig. Aber die kleine Blasse – wenn ich mir die in Gesellschaftstoilette denke, hinter der Frau Mama her am Arm eines Bruders in einen Salon tretend – ob sie dann nicht mit den beiden Fräulein Bielefelder – die Else geht noch mit ihrem kecken Straßenjungengesicht und ihrer naiven Unverfrorenheit. Aber die andere! Und dabei –

Wieder kam ihm ein Trupp entgegen, dem er ausweichen mußte. Und dann blieb er nachdenklich unter dem Baum, an dessen dicken Stamm sie ihn gedrängt hatten, stehen.

Und dabei sieht sie Ebba ähnlich, positiv ähnlich. Alles ein bißchen stark ins Jüdische transponiert; aber ähnlich zweifellos. Eigentlich doch ein grauenhafter Gedanke. Diese raffinierte Kokette mit dem vor dem Spiegel eingeübten permanenten Lächeln, deren große Odaliskenaugen so naiv unverschämt fragen: willst Du mich? Die sich einem auf dem Präsentierteller anbietet. Gerade wie die Dirnen bei Josty – Pfui Teufel!

Er hatte wieder ein paar Schritte gemacht und konnte abermals nicht weiter, diesmal vor einem Menschenhaufen, der in einem dichten Knäuel sich um irgend etwas herumdrängte, was unmittelbar neben dem Trottoir an einem der Gartengitter zu liegen schien. Wilfried konnte bemerken, daß die Menschen in dem inneren Kreis sich hinabbogen, während die fernstehenden die Hälse reckten. Er wollte über den Straßendamm nach der andern Seite – ein Betrunkener war ihm ein Greuel.

Ne, wat es vor Menschen jiebt! sagte eine dicke Frau vor ihm.

So'n verfluchter Radlerfritze, sagte eine andere, looft det arme Wurm um, det et gleich auf der Stelle liegen bleibt!

Un natürlich Schutzmann is nich!

Hatte sich Wilfried durch die Menge gedrängt oder 27 nur dem Druck der hinter ihm Stehenden nachgegeben, er würde es nicht haben sagen können, als er sich plötzlich in der vordersten Reihe fand, unmittelbar vor dem hingestreckten Knaben, den ein paar Männer aufzurichten suchten. Die Leute mochten es gut meinen; aber sie griffen derb zu, und der Knabe wimmerte.

Wollen sie mir erlauben, sagte Wilfried.

Die Leute blickten den eleganten Herrn an. Sie mochten ihn für einen Arzt halten und gaben ihm willig Raum.

Wo thut es Dir weh, mein Junge?

Hier, murmelte der Knabe, nach dem Unterschenkel fassend.

Willst Du einmal versuchen, aufzustehen?

Dem Knaben imponierte der fremde Mann, der so freundlich mit ihm sprach. Die Thränen blieben ihm in den großen braunen Augen stehen; er ließ sich aufrichten und auf die Füße stellen. Dann aber stieß er einen leisen Klageruf aus.

Wie heißt Du und wo wohnst Du? fragte Wilfried.

Der Knabe beantwortete leise die Fragen.

Ein Schutzmann, vor dem die Leute scheu auseinander wichen, kam eilends durch den Haufen, der mit jeder Minute größer wurde. Er hatte schon erfahren, um was es sich handelte.

I, das wird so schlimm nicht sein, sagte er. Wollen mal sehen. Na, Junge, nu mal zu!

Und er faßte den Knaben an die Schulter.

Er kann nicht gehen, sagte Wilfried. Ich habe mich überzeugt.

Ach was, überzeugt! Sind Sie ein Arzt?

Nein.

Na, was reden Sie denn! Marsch, Junge. Hier nich noch lange die Leute aufhalten!

Wilfried nannte dem Schutzmann seinen Namen, indem er ihm zugleich seine Karte reichte. Der Schutzmann warf 28 einen Blick darauf, legte sie in sein Notizbuch und faßte an den Helm.

Wenn es Ihnen recht ist, will ich den Knaben nach Haus bringen, sagte Wilfried. Er hat mir seinen Namen und seine Wohnung gesagt. Es ist nicht weit von meiner eigenen. Wäre nur eine Droschke zu haben.

Ich hatte schon eine requiriert, sagte der Schutzmann, der plötzlich sehr höflich geworden war. Er verdient es aber garnicht, Herr Graf. Ich kenne den Jungen. Er treibt sich hier immer des Abends herum und verkauft Schwefelhölzer – ohne Hausierschein. Ich habe ihn schon mal abgefaßt. Wo hast Du denn Deinen Kasten, Junge?

Ich weiß nicht, wo er geblieben ist, murmelte der Knabe.

Ich werde den Kram ersetzen, sagte Wilfried.

Er und der Schutzmann, der wiederholt mit barschen Worten die Leute auseinander gehen hieß, hatten den Knaben, ihn von beiden Seiten unter den Armen fassend, zur Droschke getragen, einem elenden Fuhrwerk, vor das ein jammervoller alter Schimmel gespannt war. Dazu war der Wagen offen. Wilfried hätte ihn gern geschlossen gehabt. Das hätte wieder Zeit gekostet, und er war nur schon zu lange der Gegenstand der Neugierde des Pöbels gewesen, der es an unfeinen Scherzen nicht fehlen ließ. Er verwünschte im stillen seine Gutmütigkeit, die ihn in diese ärgerliche Lage gebracht hatte.

Als ob mir dergleichen, wenn auch in anderer Weise nicht schon hundertmal passiert wäre, sagte er bei sich.

Die Droschke hatte sich langsam in Bewegung gesetzt. Den Kutscher, einen alten, stumpfen Mann, brachte Wilfrieds wiederholte Bitte, schneller zu fahren, nicht aus seiner Ruhe. Er, der mit gekrümmtem Rücken auf dem Bocke hockte, und der Schimmel, dessen Hufe klapperten, als ob sie nur eben noch in den Nägeln hingen, schienen sich über das Tempo eines kleinen Hundetrabs ein für allemal verständigt zu haben. Wilfried mußte sich in Geduld fassen. 29 Das hielt nicht leicht in Anbetracht des langen Weges bis zur Wichmannstraße, in der der Knabe wohnen wollte; schien doch schon die Viktoriastraße, in die der Kutscher aus der Bellevuestraße eingebogen war, kein Ende zu nehmen. Was wohl Tante Adele, an deren Hause er eben vorüberkam, und ihre ästhetischen Freunde sagen würden, wenn sie ihn hier in der Droschke sähen, mit dem lahmen Knaben neben sich? Romantisch, wie? Sehr romantisch, nur daß leider der Knabe sich ein paar mal auf der Straße überkugelt haben mußte und von Schmutz starrte, der sehr übel roch. Aber das half nun nicht. Er hatte A gesagt; so blieb ihm für den unerquicklichen Rest keine Wahl.

Aus dem Knaben war nichts mehr herauszubringen außer dem Wenigen, was ihm Wilfried gleich anfangs abgefragt hatte: daß er Fritz Schulz heiße, seine Eltern Wichmannstraße im Keller wohnten und sein Vater Tafeldecker sei. Mit der letzteren Angabe schien des Knaben armseliges Hausiergewerbe in der Nacht zwischen elf und zwölf, so fern von der Elternwohnung, schwer in Einklang zu bringen. Aber was wußte er denn von dem Leben solcher Leute? Nicht mehr als von dem der Hottentotten. Und mit Fragen wollte er das Kind nicht weiter belästigen.

Es war wirklich nur ein halbes Kind mit den schmächtigen Gliedern und dem schmalen hübschen Gesichtchen, das Wilfried jetzt eigentlich zum ersten Male sah während der langsamen Fahrt, nachdem die Potsdamerbrücke passiert, am Kanal entlang das Schönberger Ufer hinauf, wo der beinahe volle Mond, der unterdessen heraufgekommen war, zitternde Strahlen durch die regungslosen Blätter der Bäume warf. Seltsam, daß er das Gesichtchen in der kurzen Zeit zum zweiten Male sah – es glich so sehr dem des blassen Mädchens bei Josty.

Der Wagen war auf den Lützowplatz eingebogen. Gott sei Dank, so ging die Fahrt doch zu Ende! Und jetzt kam Wilfried der Gedanke, es werde mit der Ablieferung des Knaben möglicherweise nicht gethan sein. 30 Daß er das Bein nicht gebrochen, hatte der Schutzmann versichert, der sich auf dergleichen zu verstehen schien: Schienbein verletzt und Zehen gequetscht, war seine Diagnose gewesen. Aber das konnte schon schlimm genug sein und ein Arzt nötig werden. Würde er den auch herbeischaffen müssen? Reizende Aussicht, wenn man von seiner Uhr beim Licht einer Straßenlaterne zehn Minuten vor zwölf abliest!

Endlich!

* * *


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