Friedrich Spielhagen
Opfer
Friedrich Spielhagen

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Es war zwei Tage vor dem, welcher für die Abreise der Familie nach Bremen festgesetzt war, als Lotte an der Thür von Pfarrer Römer klingelte. Ein kleines Mädchen von etwa zehn Jahren mit geröteten Augen in dem altklugen Gesicht machte auf. Lotte fragte nach Elise. Bevor Magda antworten konnte, kam ihre Mutter selbst; Lotte wiederholte ihre Frage, hinzufügend, daß sie die Schwester sei. Mutter und Kind blickten einander bestürzt an; das Kind brach in Weinen aus und wurde von der Mutter nach hinten geschickt. Sie selbst nahm Lotte bei der Hand 440 und führte sie in das Gemach links; stellte nach dem Brauch des Hauses zwei Stühle mitten in den Raum, nötigte Lotte auf den einen, alles schweigend, mit bekümmerter Miene und, wie Lotte jetzt bemerkte, ebenfalls von Thränen geröteten Augen.

Durch Lottes erschrockene Seele gingen nur zwei Möglichkeiten: Elise war entweder schwer erkrankt, vielleicht bereits tot; oder in den Sumpf, aus dem Wilfried sie gezogen, zurückgesunken.

Ich kann alles hören, sagte sie mit gepreßter Stimme; aber, bitte, sprechen Sie! Was ist es mit Elise?

Erschrecken Sie nicht zu sehr! Es ist ein so schöner Wahn, ein so holder Wahn. Hätte man nicht Mann und Kinder –

Die Thränen quollen ihr aus den Augen.

Seit wann? fragte Lotte.

Mein Mann hat sie heute vormittag nach Schöneberg in die Maison de santé gebracht; der Arzt sagte, es ginge nicht länger so, wir könnten es nicht verantworten. Mein Mann und ich hätten sie nicht fortgegeben; wir sahen nicht ein, was dabei zu verantworten war. Sie war so sanft und lächelte so lieb, und die Kinder hingen so an ihr. Freilich, sie wurde mit jedem Tage schwächer, und der Doktor sagt: es könne höchstens noch ein paar Wochen dauern –

Diesmal wollten sich die Thränen nicht mit den Fingern abwischen lassen. Dann knüllte sie das Taschentuch energisch zusammen und sagte:

Das hilft nun nicht. Und Sie werden wissen wollen, wie das so gekommen ist. Es ist schwer zu sagen; besonders Ihnen. Aber auch das hilft nicht. Also: Sie hatte eine große Liebe zu – na ja! – zu dem gefaßt, der sie in ihrem Elend aufgefunden und zu uns gebracht hatte. Das werden Sie besser begreifen, als irgend eine andre. Er ist ein so guter und auch so schöner Mann. Da konnte man es wohl verstehen, besonders, wenn man die 441 Dankbarkeit hinzurechnet, die sie ihm schuldig war; und sie hat ein so dankbares, weiches Herz, das arme liebe Geschöpf. So weit war ja alles ganz in Ordnung, ganz normal, wie mein Mann sagt; bloß daß wir meinten: es sei doch besser, wenn sie ihn vorläufig nicht wieder zu sehen bekäme, bis sich ihr Gemüt beruhigt hätte in unserm stillen Hause bei regelmäßiger rechtschaffner Thätigkeit. So sagte ich ihm auch; und er möge bis auf weiteres seine Besuche einstellen, was er dann ja auch gethan hat. Ich glaube, ich habe da einen Fehler gemacht, und es wäre für sie besser gewesen, sie hätte ihn alle Tage gesehen und gesprochen. Sie würde ihn auch dann wohl weiter geliebt haben; aber als Menschen, nicht – ja, das ist nun ein schwieriges Kapitel, und ich wollte, mein Mann wäre hier und könnte alles erklären und ausdeuten; aber er mußte vor einer Stunde nach Eisenach zu einer großen Versammlung – ich will versuchen, ob ich mich verständlich machen kann.

Die kleine Frau reckte sich auf und ihr freundliches Gesichtchen nahm einen feierlichen Ausdruck an:

Sehen Sie, liebes Kind, in unserm Hause, da geht unser Herr Christus, so zu sagen, aus und ein. Wir stehen mit ihm auf; wir setzen uns mit ihm zu Tisch; unser letztes, bevor wir am Abend einschlafen, ist ein Gebet zu ihm. Er ist unser Lehrer, Berater, unser Freund alle Wege. Sein Wort ist immer in unserm Herzen; sein Name immer auf unsern Lippen – das ist nicht anders, wenn man ihn liebt. Nun, Dank meinem lieben Mann, wir wissen zu unterscheiden zwischen dem Menschensohn und denen, die auch Gottes Kinder sind, aber nur durch ihn. Ach, und dieser Unterschied, der so weit ist, wie der von der Herrlichkeit des Himmels bis zu unsrer niedern Erde – er ging für Ihre arme Schwester verloren. Sie sah in dem, der sich ihrer erbarmt, als es mit ihr am schlimmsten stand und sie sich gar verworfen glaubte, den Herrn Jesu selber. Wenn wir von dem Herrn Jesu sprachen, dachte sie an ihn; wenn wir zu dem Herrn beteten, 442 betete sie zu ihm. Dahinter kamen wir erst allmählich; ich zuerst; dann auch mein Mann. Wenn einer den Herrn Jesu zu verstehen lehren kann, ist es mein Mann. Hier predigte er tauben Ohren. Ich schlug vor, den Herrn Grafen zu bitten, er möchte wieder zu uns kommen. Mein Mann sagte, das wird nichts helfen. Für sie hat Jesu Christ die Gestalt des Grafen angenommen und wandelt so von neuem auf Erden. Ich sagte ihr, daß Sie sich mit ihm verlobt hätten. Sie lächelte und erwiderte: wer möchte nicht seine Braut sein!

Das wurde nicht anders, und ihre Körperschwäche nahm in erschreckender Weise zu. Mit ihrer Seele hat es keine Not, sagte mein Mann, die ist schon im Himmel. Ihr Leibliches müssen wir den Ärzten anvertrauen, die Gott zu des Leibes Hütern gesetzt hat. Da hat er sie denn, die alles lächelnd geschehen ließ, in die Anstalt gebracht. Meine guten Kinder und ich, wir haben sehr geweint. Wir haben sie alle so sehr lieb.

Hier mußte die kleine Frau doch wieder zu dem verknüllten Taschentuch greifen, aber sie preßte es sofort wieder, fast heftig, zusammen und sagte, halb lächelnd, halb ärgerlich:

So ist nun der Mensch. Da glaubt man an Gott von ganzem Herzen und weiß, daß ohne seinen Willen kein Sperling vom Dache fällt; und er uns seine Prüfungen nur zu unsrer Läuterung schickt; und das trotzige Herz rebelliert dagegen und stellt sich ungeberdig. Na, er wird mir verzeihen. Ich habe Sie arg betrüben müssen, liebes Kind. Nehmen Sie's auch als eine Prüfung und genießen Sie Ihr junges Glück weiter in Demut. Meine liebe Freundin, Frau Brandt, – wir haben uns ein bischen über Euch gekappelt – das schadet nichts – das zieht sich wieder zurecht – hat mir gesagt, ein wie braves Mädchen Sie sind. Glaube ich. Man sieht es Ihnen an den Augen an. Ihr werdet schon glücklich werden, so weit man es hier auf Erden sein kann. Noch glaubt er nicht so recht an Christus. Aber mein Mann sagt: Wenn 443 einer, wie er es thut – ungleich dem reichen Jüngling im Evangelium – hingeht und sein Hab und Gut den Armen giebt, dann ist er ein Nachfolger des Herrn, mag er ihn auch mit dem Munde verleugnen. Im Herzen hat er ihn doch.

Es schnitt Lotte durch die Seele. Das in dem Augenblick, wo sie den Geliebten für immer verlassen wollte!

Aber versuchen, dieser guten Frau zu erklären, wie alles so gekommen war, ging über ihre Kraft. Sie sagte, daß sie jetzt gehen müsse.

Um recht, recht oft wiederzukommen, rief Frau Römer. Und auch er. Lieber Himmel, jetzt darf er's ja! Und unsere Kinder müssen Sie vorher doch auch gesehen haben. Kinder!

Sie hatte es auf den Flur hinausgerufen, über den nun schnelle Schrittchen kamen: Magda, Martha, Johanna. Sie machten ihre steifen Knixchen und boten Lotte eine nach der andern die Hand. Die beiden älteren hatten verweinte Augen; nur die Jüngste blickte neugierig lustig zu ihr auf und sagte spöttisch:

Du hast wunderschöne Augen; aber Elisen hab' ich doch viel mehr lieb.

Lotte hob sie in die Höhe und küßte sie. Dann eilte sie fortzukommen. Das Herz war ihr schwer; ihre Augen brannten. Sie wollte hier nicht weinen.

Aber während sie in dem stillen Hause die knarrende Treppe hinabstieg, rann ihr Thräne auf Thräne über die Wangen.

Ihr werdet schon glücklich werden! – O, mein Gott, mein Gott!

In der Gitterthür des Vorgärtchens blickte sie die endlose öde Straße hinauf und hinab.

Wenn Sie in die Stadt wollen, Fräuleinchen, man immer links, sagte der Budiker, der, die roten Fäuste auf der blauen Schürze über dem Bauch gefaltet, vor seiner Thür stand.

444 Lotte dankte und ging. Auf dem Kurfürstendamm nahm sie eine Droschke. Bis zur Viktoriastraße war es ein weiter Weg, und sie mußte ihre Kraft zusammenhalten für den Besuch, den sie da machen wollte. Wenn er so jammervoll ausfiel, wie der, von dem sie eben kam, dann mochte sie, anstatt nach Amerika, nur ins Wasser gehen. Wahnsinnig, wie Elise, würde sie ja nicht werden; und mit Vernunft im Kopf ließ sich dies Leben nicht weiter leben.

* * *


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