Friedrich Spielhagen
Opfer
Friedrich Spielhagen

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Den notwendigen Weg in die Stadt hatte er nur vorgeschützt. Seine einzige Obliegenheit für heute war der Besuch bei der Tante. Dazu blieb ihm aber mindestens noch eine Stunde Zeit. Und jetzt fühlte er nun doch eine tiefe Erschöpfung, erklärlich genug nach seinem schier endlosen Verweilen im Tiergarten; der seelischen Erregung, die ihn da rastlos umhergetrieben; zuletzt dem peinlichen Weg zur Kasse und der unerquicklichen Unterhaltung mit dem Bankier. Sollte er noch den Theeabend bei der Tante aushalten, mußte er durchaus etwas für seine heruntergestimmten Nerven thun. Das Restaurant Bellevue lag auf seinem Wege zur Viktoriastraße. Es war so gut wie ein anderes.

Die Speisestunden mochten vorüber sein. Von den zahlreichen kleinen Tischen unter dem die weite Veranda überspannenden Zeltdach waren nur wenige besetzt; Wilfried trat in einen der Säle, deren Glaswände nach der Veranda bei dem schönen Wetter man entfernt hatte. Es war ihm immer peinlich gewesen, zu speisen, während die Leute, die auf der Straße vorübergingen, und von denen – wer mochte es wissen? – einer und der andere kein Mittagsessen gehabt hatte, ihm die Bissen in den Mund zählen konnten. Der Saal war völlig leer; in dem weiten Raum herrschte ein Halbdunkel, das ihm wohlthat. Er setzte sich in die fernste Ecke und bestellte sich eine einfache Mahlzeit bei einem Kellner, der ihn hier schon wiederholt bedient hatte.

Die Speisen waren gut; aber Wilfried hatte trotz seiner Erschöpfung keinen Hunger; nur den kühlen 100 Rheinwein trank er gierig, daß er sich zu der ersten halben Flasche, bei der er es sonst immer bewenden ließ, eine zweite kommen ließ. Bei der saß er dann schlürfend, rauchend, in einem dämmerhaften Zustande, der nicht Wachen und nicht Schlaf war. Oder war er zuletzt wirklich eingeschlafen? Er fuhr erschrocken auf seinem Stuhl zusammen: völlig deutlich, mit den Händen zu greifen, hatte er sich gegenüber an der anderen Seite des kleinen Tisches Lotte Schulz gesehen, wie sie heute nacht, als er sie verließ, in der Hausthür stand, während der Mond ihr in die großen Augen schien und sie die trostlosen Worte sprach: Uns kann keiner helfen! Er hatte die Worte sogar eben wieder zu hören geglaubt –

Seltsam, murmelte er. Wüßte ich es nicht besser, ich würde sagen: eine Erscheinung. In früheren Zeiten hätte man es gesagt. So hast du nur geträumt. Es war ein schöner Traum. Zum Erschrecken schön. Und weshalb solltest du sie nicht im Traum sehen? Siehst du sie wachend doch überall; wirst auf Schritt und Tritt an sie erinnert! Der Kassierer vorhin; nun wieder da die Dame –

Er hatte sie vorher nicht bemerkt; sie war wohl, während er so vor sich hingeträumt hatte, gekommen, und saß nun an einem der runden Tischchen, noch im Saal, aber in unmittelbarer Nähe eines der offenen breiten Thüreingänge. Vor ihr stand der Kellner, der auch ihn bedient hatte. Die Dame blieb allein und blickte, ihren Sonnenschirm in den Fußteppich bohrend, bald in die Veranda hinaus, bald vor sich nieder. Dann hob sich von dem lichteren Hintergrunde ihr Profil sehr deutlich ab. Nein, es war nicht Lotte, an die sie ihn erinnerte, wohl aber mit ihrem feinen blassen Gesicht an den feinen blassen Knaben, ihren Bruder, seinen Schützling, der dem Mädchen bei Josty so ähnlich gesehen hatte –

Und es war das Mädchen von gestern Abend bei Josty; als sie jetzt den Kopf ein wenig in den Saal gewandt, wußte er es.

101 Wunderlich, daß er dem armen Geschöpf so bald wieder begegnen mußte; aber er hatte ja heute schon so viel des Wunderlichen, Außerordentlichen erlebt, da mochte er dies zu dem übrigen zählen.

Der Kellner hatte dem Mädchen das Verlangte gebracht, ein Glas Eiskaffee, wie es schien. Sie führte sofort das Rohrstäbchen an den Mund. Wilfried winkte dem Kellner, der alsbald an seiner Seite war.

Kennen Sie die Dame? fragte der Graf.

Der Kellner lächelte.

Eine Dame ist es nun wohl nicht, Herr Graf.

Gleichviel. Ich möchte Genaueres von ihr hören.

Der Kellner lächelte abermals, jetzt sehr diskret. Die Frage konnte freilich nur einen Sinn haben, aber allzu deutlich durfte man sich das auch nicht merken lassen.

Sie kommt nicht oft hierher; die Woche ein-, höchstens zweimal, und setzt sich, wenn es möglich ist, immer da an denselben Platz. Na, manchmal glückt es, manchmal nicht. Unser Herr hat schon davon gesprochen, wir sollten ihnen – natürlich höflich, oder doch so, daß es kein Aufsehen macht – aber das ist so 'ne Sache. Und wenn die Mädchen sich soweit anständig betragen –

Gewiß. Es kann da so leicht ein Mißgriff stattfinden.

Der Kellner lächelte überlegen.

Nicht gut denkbar, Herr Graf. Wir kennen sie alle. Das heißt: die der eine nicht kennt, kennt der andre. Man kommt ja schließlich durch alle Cafés und Restaurants.

Da wissen Sie auch ihren Namen?

Aufzuwarten, Herr Graf: Schulzenlise.

Wie?

Das heißt: sie nennen sie nur unter sich so, und die guten Bekannten natürlich. Der eigentliche ist Elise Schulz.

Unmöglich!

Ganz gewiß, Herr Graf. Wenn der Herr Graf mir nicht glauben – ich kann den Jean rufen, der –

102 O, nein! nein! Ich glaube es Ihnen auch so. Ich wollte nur meiner Sache sicher sein.

Können der Herr Graf. Ich weiß ja auch den Namen des Herrn Grafen, obgleich der Herr Graf uns so selten beehren.

Gut, gut. Bitte, meine Rechnung!

Habe sie bereits ausgeschrieben.

Hier. Der Rest für Sie.

Danke! danke verbindlichst, Herr Graf. Und wenn ich dem Herrn Grafen noch sonst dienen kann –

Der Kellner machte eine bezeichnende Geste zu dem Mädchen hinüber, das noch immer unbeweglich auf ihrem Platz saß, von Zeit zu Zeit den Rohrstab zum Munde führend.

Wilfried schüttelte den Kopf. Der Kellner machte seine Verbeugung und ging bis zur zweiten Thüröffnung nach der Veranda, wo er stehen blieb, den Rücken nach dem Saal wendend. Was nun kommen würde, da brauchte er nicht weiter hinzusehen. Das kannte er.

* * *


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