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437 Vier Tage nach Wilfrieds Abreise, elf, nachdem an Mr. Philipp Schulz in Chicago gekabelt war, daß der von ihm gesuchte Bruder gefunden sei, kam sein Brief, dem ein Check über tausend Dollars auf ein erstes Bankhaus in Berlin beilag.
Mr. Philipp Schulz schrieb in einem nur eben noch verständlichen Deutsch: er sei hoch erfreut, nachdem er so lange als einsamer Junggeselle gelebt, in seinen alten Tagen seine Verwandten um sich zu haben. Wenigstens hoffe er, der Bruder werde seine Bitte erfüllen und zu ihm kommen – mit Frau und Kindern natürlich. Er sei kein reicher Mann: ein Farmer, hundert Meilen hinter Chicago; aber er habe genug, daß auch eine größere Familie anständig davon leben könne. Nur aber beeilen möge man sich; er sei zweiundsiebzig und habe zum Warten keine Zeit mehr.
Herr Schulz war sehr enttäuscht: die viertausend Mark könne man sich ja gefallen lassen; aber daß der Bruder kein reicher Mann sei, finde er unerhört. Das sei doch eine Perfidie, die dicht an Betrug grenze. Da werde er es sich noch zehnmal überlegen, ob er einer solchen Einladung folgen solle.
Die Mutter meinte: die Sache habe freilich zwei Seiten und sie möchte die Verantwortung nicht auf sich nehmen; aber Lotte erklärte sofort: man müsse den Wunsch des Onkels erfüllen, ohne einen Tag, eine Stunde mehr hingehen zu lassen, als die Vorbereitungen zur Reise erforderten. Und was sei da groß vorzubereiten? Die Möbel gehörten nicht ihnen, sondern dem Grafen; ihre paar Kleider seien in einer Stunde gepackt. Um sie möge man nicht sorgen. Den Grafen werde sie niemals heiraten; das sei ihr fester Entschluß.
Lottes Entschiedenheit trug im Familienrate den Sieg davon. Dem Vater war es nur im ersten Augenblick mit seiner Weigerung ernst gewesen. Jetzt erklärte er, daß ein Sperling in der Hand besser sei, als eine Taube auf dem 438 Dach. Mit ihrem Entschluß, Wilfried nicht heiraten zu wollen, kam Lotte nur seinem Wunsch entgegen. Die Hoffnung, Wilfried werde doch noch seine reiche Tante beerben, hatte er völlig aufgegeben, seitdem Freund Mathis ihm gesagt: die Verlobungsanzeige in der Zeitung habe »dem Faß den Boden ausgeschlagen«; mit seinen eigenen Ohren habe er gehört, wie die Frau Geheimrat einer Dame, die den Grafen in Schutz nehmen wollte, zugerufen: »Schweigen Sie mir von dem Undankbaren! Er wird nie wieder einen Fuß über meine Schwelle setzen.« Dann aber, was sollte ihm der Herr Schwiegersohn, der nichts war, nichts hatte, und mit seinen verrückten socialdemokratischen Schrullen »noch einmal in des Teufels Küche geraten würde?« Seiner klugen Lotte war das offenbar mittlerweile auch klar geworden, und sie hatte ihm den Laufpaß gegeben. Wahrscheinlich am Sonntag in Grünau. Darum und nicht des Bruders wegen, der ihn, den Socialdemokraten, ja gar nichts mehr anging, war er Hals über Kopf abgereist; und darum wollte Lotte nach Amerika.
Nun war Amerika sein zweites Wort; nun sollte womöglich morgen schon gereist werden; und er war außer sich, daß es so schnell denn doch nicht ging. Dabei that er für seine Person schlechterdings nichts, die Abreise zu beschleunigen; sondern überließ alles seiner Lotte, die »es schon machen werde.«
Lotte verlangte es nicht besser.
Sie hatte in der letzten Zeit mit Frau Brandt, die ihre Verlobung mit Wilfried einen Thorenstreich, ja geradezu ein Verbrechen nannte, auf einem gespannten Fuß gestanden. Jetzt suchte sie sie wieder auf und fand in ihr die alte bewährte Freundin. Auch der Doktor wurde ins Vertrauen gezogen und kam den Frauen mit Rat und That entgegen.
In kürzester Frist war alles geordnet. Es blieb nur ein schwieriger Punkt: was sollte aus Elise werden? Sollte man sie mitnehmen? sollte man sie unter der Obhut der Pfarrersleute lassen?
439 Hier müssen Sie entscheiden, liebe Lotte, sagte Frau Brandt; hier habe ich nicht einmal eine Meinung, geschweige denn ein Urteil. Die Sache ist: wir und Römers sehen uns schon seit Wochen nicht mehr. Frau Römer und ich konnten uns über Euch nicht verständigen. Sie wissen, was ich damit meine. Ich sehe eben mit meinem praktischen Verstande die Dinge anders, als die gute Frau Römer mit ihrem verschwommenen Enthusiasmus. Dann hatte ich in einer Frauenzeitung über des Pfarrers nicht weniger konfuse christlich-sociale Lehre schärfer geschrieben, als, wie es scheint, selbst seine milde Gesinnung verzeihlich fand. Wenigstens hat er mir in seinem Blatte eine Antwort erteilt, die ich auch nicht gerade an den Spiegel stecken mag. Mit einem Worte: ich weiß nicht, wie es da aussieht. Elise ohne weiteres dazulassen, geht natürlich nicht. Das hieße geradezu sich von ihr lossagen, was doch gar nicht Ihre Absicht ist. Sie müssen mit ihr sprechen.
Ich habe sie seit vier Jahren nicht gesehen, sagte Lotte traurig.
Ich weiß. Es ist eine schwere Aufgabe. Und doch leicht im Verhältnis zu der andern, die Sie über sich genommen haben und hinter sich bringen als das brave, tapfere Mädchen, das Sie sind.
* * *