Friedrich Spielhagen
Opfer
Friedrich Spielhagen

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Die beiden Herren hatten Platz genommen; Zunz auf einen Wink des Grafen das Zimmer verlassen.

Ich wollte Sie bitten, mir mitzuteilen, was Sie etwa noch von der unglücklichen Familie in Erfahrung gebracht haben, und möchte nicht, daß mein Diener – übrigens eine gute, treue Seele – Zuhörer dabei ist. Das heißt: Sie dürfen sich im Essen nicht stören lassen. Ich war denn doch, wie ich merke, mit meinem Frühstück so gut wie fertig. Also nehmen Sie sich an mir kein Beispiel!

Doktor Brandt hatte, bevor er zum zweitenmale ausging, nur eben eine Tasse Kaffee getrunken, war ausgehungert und einer Erquickung recht bedürftig. Das würde ihn keinesfalls bestimmt haben, die Einladung des Grafen anzunehmen. Aber es war ihm psychologisch interessant und praktisch sehr wichtig, zu wissen, wie weit denn eigentlich die seelische Teilnahme des Herrn an der Schulz'schen Familie ging und er in materieller Hinsicht auf ihn rechnen durfte. Im Handumdrehen war das offenbar nicht herauszubringen. So galt es, Zeit gewinnen; das Ende des Besuches hinausschieben, das heißt, die angebotene Erfrischung nicht ausschlagen. Und wenn aus dem Imbiß, den ihm der Diener auf einem Teller anbieten würde, ein mit allen möglichen guten Sachen ausgestatteter Frühstückstisch geworden, und der Madeira, den ihm der Graf eigenhändig eingeschenkt hatte, eine so feine Marke, wie er sich nicht erinnern konnte, jemals getrunken zu haben, so war das für den von ihm beabsichtigten Zweck gewiß nicht nötig, aber ihm auch sicherlich nicht hinderlich.

75 Er leerte sein Glas, das ihm der aufmerksame Wirt sogleich wieder füllte, und that einen kleinen Schluck –

Das ist ein exquisiter Tropfen, Herr Graf.

Wenigstens ist er zweifellos echt. Ich verdanke ihn der Güte des portugiesischen Gouverneurs in Funchal – der Hauptstadt von Madeira – der mich während meines Aufenthalts dort gastlich aufnahm und mir ein lieber Freund geblieben ist.

Doktor Brandts technisches Interesse war erregt.

Sie waren doch schwerlich aus gesundheitlichen Gründen dort?

Weshalb schwerlich?

Madeira ist ein Kurort für Brustkranke. Ich würde Sie nicht darauf taxiert haben.

Ein berühmter Kollege von Ihnen war anderer Meinung. Oder hielt es auch vielleicht für seines Amtes, der Meinung meiner Tante zu sein, die bei mir seit meiner frühsten Jugend – meine beiden Eltern starben mir, als ich noch ein kleiner Knabe war – Mutterstelle vertreten hat; und, wie das in solchen Fällen wohl vorkommt, die liebe entschwundene Mutter in zärtlicher Sorgsamkeit noch übermuttern zu müssen glaubte. Nebenbei bis auf den heutigen Tag glaubt. Aber verzeihen Sie! Wir sind von unserem Thema abgekommen: Sie wollten die Güte haben –

Freilich, sagte Doktor Brandt. Entschuldigen Sie die kleine Diversion, an der nur die Vortrefflichkeit dieses Originalabzuges der Kellerei des portugiesischen Herrn Gouverneurs – gesegnet sei sein Name –

Don Alvarez –

Es lebe Don Alvarez!

Doktor Brandt hatte sein Glas erhoben, der Graf that ihm lächelnd Bescheid. Aber das Lächeln schien ein wenig gezwungen, und der Doktor glaubte seiner Mieze Stimme zu hören: Lieber Junge, wenn Du doch nur nicht alles sagen wolltest, was Dir auf die Zunge kommt! 76 Siehst Du denn nicht, daß dem da mit Deinen Familiaritäten gar nicht gedient ist?

Er fühlte die Röte, die ihm bei solchen Veranlassungen immer verräterisch in die Wangen stieg; spülte die unbehagliche Empfindung mit einem zweiten Schluck hinunter und sagte, als habe keine Unterbrechung stattgefunden, in möglichst unbefangenem Ton:

Also, wovon wir sprachen, Herr Graf: die Schulz'sche Familie! Wie traurig es mit unserm eigentlichen Patienten steht, sagte ich bereits. Aber die ganze Sippe ist von A bis Z eine Krankheitsgeschichte. Ich habe mich natürlich so weit wie möglich zu informieren gesucht und so ziemlich alles herausgebracht. Meine Quelle ist sehr zuverlässig: eine biedere Grünkramfrau, die zwei Häuser von den Schulz ihren Keller hat, lebendige Chronik aller großen und kleinen Vorkommnisse der Wichmannstraße, und nicht bloß in den Kellerwohnungen. Sie gehört durch einen halbblödsinnigen Sohn, richtiges Lazarettpferd, zu meiner Klientel; sie selbst eine sehr kluge Person mit so hellen Augen, scharfen Ohren, gesundem Menschenverstand und klarem Urteil, wie man sie in erfreulichstem Ensemble gerade bei den Leuten dieser Klasse nicht selten findet. Sie hat die Schulz seit fünf Jahren zu Nachbarn; steht mit ihnen in geschäftlichem und ungeschäftlichem Verkehr; nimmt lebhaftes Interesse an ihnen – mit einem Worte ist vollständig au courant, die Vorgeschichte inclusive. Etwas von der wissen Sie bereits, Herr Graf: die Frau hat ja, wie Sie mir heute nacht sagten, in Ihrem elterlichen Haufe gedient, und Frau Bussel – der rühmliche Name meiner Gewährsmännin – erzählt mir, daß sie – Frau Schulz – diese Zeit die schönste ihres Lebens nennt und bei jeder möglichen und unmöglichen Gelegenheit damit renommiert. Zweifle auch nicht an der Wahrheit der Behauptung; von dem, was hinterher kommt, sagt der Berliner: schön ist anders. Sie hatte als Kammerjungfer Ihrer Frau Mutter den Schulz kennen gelernt, der, wie 77 sie, seine schätzbaren Dienste nur hoch- und höchstgestellten Herrschaften widmete und in seiner Welt als ›der schöne Schulz‹ sich eines großen Ansehens erfreute. Auch sie muß eine auffallend schöne Person gewesen sein; man sieht die beaux restes ja noch heute. Kein Wunder, daß sich die beiden Phänomene fanden. Die Adspekten durchaus günstig. Beide hatten ein ganz artiges Sümmchen ins Trockene gebracht, glaubten der Protektion ihrer verschiedenen einstigen Herrschaften sicher zu sein; man hatte vielleicht auch sonst Beziehungen angeknüpft, die von Vorteil zu sein versprachen – enfin: eröffneten in der Französischen Straße eine elegante Frühstücksstube, die sich alsbald eines großen Zuspruchs erfreute und ein äußerst rentables Geschäft werden zu wollen versprach. Die Herrlichkeit dauerte ein paar Jahre. Dann, scheint es, hat die Polizei herausgefunden, daß die Schulz wohl sehr charmante, aber gegen ihre jüngeren Gäste allzu coulante Wirte waren. Genaueres weiß ich nicht, wußte auch meine Frau Bussel nicht; jedenfalls wurde ihnen das Lokal geschlossen, und sie mußten ihr Zelt in einem entlegeneren und weniger vornehmen Quartier aufschlagen – glaube: in der Rosenthalerstraße. Mit ihren Finanzen – man sagte: Herr Schulz habe nicht bloß in der absoluten Heimlichkeit seiner Hinterzimmer, sondern auch in der relativen Öffentlichkeit von Winkel-Börsen sehr flott gespielt – war es auch bergab gegangen: die Frühstücksstube verwandelte sich in ein Weißbierlokal. Es scheint, auch da fehlten die Hinterzimmer nicht; schlecht angeschrieben war der Mann einmal; man paßte diesmal besser auf, und die Folge war, daß er auf eine beträchtliche Zeit eingesperrt wurde. Die Frau versuchte, das Geschäft zu halten – es gelang ihr nicht. Ein letzter Versuch – der Mann war mittlerweile aus dem Gefängnisse entlassen – es handelte sich diesmal, glaube ich, um eine sogenannte Destille – schlug ebenfalls fehl. Man zog aus Berlin O wieder nach Berlin W: der ehemalige Kammerdiener 78 wollte sich als Lohndiener eine Kundschaft verschaffen, die ehemalige Kammerfrau als Putzmacherin. Aber es war ein Sichhaltenwollen auf schiefer, sehr schiefer Ebene: der Mann hatte sich längst dem Trunke ergeben; die Frau ist an dem gänzlichen Ruin jedenfalls mit schuld – kurz, sie gerieten in das hoffnungslose Elend, in dem wir sie gefunden haben.

Ob er seine Hauptabsicht erreicht hatte, das, wie ihm schien, schon bedenklich abgeschwächte Interesse des Grafen für die unglückliche Familie von neuem wachzurufen, blieb dem Doktor sehr zweifelhaft. Gleich, nachdem er seine Geschichte begonnen, hatte der Graf die Stirn in die Hand gestützt – eine merkwürdig wohlgeformte, sehr weiße Hand, an deren schlankem Goldfinger ein prachtvoller Siegelring saß – und nur ein und das andre Mal die Augen gehoben – große, dunkelblaue, melancholische Augen – deren Ausdruck eine gespannte Aufmerksamkeit gerade nicht verrieten.

So war denn der Doktor sehr geneigt, ab- und aufzubrechen, als er durch die, freilich wieder in zerstreutem Ton gestellte Frage: Und die Kinder? sich festgehalten fühlte. Handelte es sich doch um die für ihn in erster Linie! War er doch mit der Hoffnung gekommen, daß sich ihrer der Graf nachdrücklich annehmen werde! Not that es bei Gott!

Ja, die Kinder, sagte er, sich wieder in seinem bequemen Stuhl zurechtrückend; das ist ein grausam trauriges Kapitel, Herr Graf. Zu einem guten, will sagen: schlimmen Teil, kennen Sie es schon. Der Rest ist nicht besser. Es scheint, daß die ältesten, solange es den Eltern noch leidlich ging, regelrecht zur Schule geschickt wurden, bis der Verfall kam und von Schule und überhaupt Erziehung nicht mehr viel, am Ende wohl gar nicht mehr die Rede war. Den ältesten Sohn – auch sonst das älteste von den Geschwistern – hat der Vater, als er vierzehn Jahre alt war, aus dem Hause gejagt; oder er ist aus freien 79 Stücken davongelaufen – ich weiß es nicht; das heißt: die brave Frau Bussel wußte es nicht. Nur, daß sich ein mitleidiger Krämer da hinten im äußersten Berlin N. – ein entfernter Verwandter der Schulz, wie es scheint – des Jungen angenommen. Was aus ihm geworden? Vacat. In das unwirtliche Elternhaus hat er nie wieder einen Fuß gesetzt. Hoffen wir, daß er gerettet ist. Von der ältesten Tochter – dem zweiten Kinde – kann man das leider nicht sagen: sie ist im traurigsten Sinne des Wortes verloren. Fabrikmädchen, glaube ich; sehr hübsch, sagt meine Frau Bussel, die nicht abgeneigt ist, der eigenen Mutter einen Teil des Unglücks der Tochter in die Schuhe zu schieben. Als ob es dessen bedürfte! In Berlin! Wo die Verführung auf hundert Wegen an so ein armes, verwahrlostes Geschöpf herantritt! Auch sie ist seit zwei oder drei Jahren nicht wieder nach Haus gekommen. Die zweite – Sie haben sie gestern abend gesehen – hat sich besser, sagen wir mit Frau Bussel: gut gehalten. Merkwürdig genug, da sie in dieser Lasteratmosphäre so fort vegetierte und dazu eine ungewöhnlich schöne Person ist, wie Ihnen auch aufgefallen sein wird. Sie geht als Putzmacherin in die Häuser; Frau Bussel meint: sie erhält die ganze Familie. Der Vater verdient so gut wie nichts. Wer ihn einmal als Lohndiener gehabt, nimmt ihn nie wieder, trotzdem er ein äußerst geschickter Mensch sein soll. Er betrinkt sich regelmäßig und findet nicht immer den Weg nach Hause. Oder, wenn schon, so in dem Zustande, wie heute nacht. Restieren unsre beiden armen Patienten, die der gräßliche Alte schon seit anfangs letzten Winters allabendlich auf die Straße gejagt hat, ein paar Nickel zu verdienen, respektive zu erbetteln: sie als Blumenmädchen, der Junge als Streichholzverkäufer. Die traurige Carrière des Mädchens ist nun wohl zu Ende – man ist fast geneigt, zu sagen: Gott sei Dank! Den Jungen, hoffe ich, bringen wir durch, ohne daß er ein Krüppel bleibt.

80 Der Doktor hatte während seiner Erzählung bereits ein paarmal auf die Uhr gesehen, die ihm gegenüber in einem phantastischen Rococo-Gehäuse aus Porzellan auf dem Sims des Kamins stand. Jetzt schweifte sein Blick wieder dahin.

Verzeihen Sie, Herr Graf! Ich habe mich mit meinem Kollegen auf halb zwölf verabredet. Wenn ich ihn nicht warten lassen soll – es ist die höchste Zeit.

Er hatte seine Serviette hingelegt und war aufgestanden. Der Graf kam ihm um den Tisch herum entgegen mit ausgestreckter Hand:

Haben Sie aufrichtigen, herzlichen Dank! Und nicht wahr: es bleibt bei unserer Verabredung von heute nacht: was auch immer an Kosten in dieser traurigen Angelegenheit entsteht, Sie erlauben, daß ich für alles aufkomme – für alles!

Es bleibt dabei, sagte der Doktor, den festen Druck der schlanken Hand, welche die seine ergriffen hatte, ebenso erwidernd.

Und – während Ihrer Erzählung ist mir so manches, so vieles durch den Kopf gegangen – es muß ja auch weiter für die Leute gesorgt werden: für den Knaben, wenn er durch Ihre Kunst wiederhergestellt ist; für das Mädchen, das man unmöglich in dieser Lasteratmosphäre, wie Sie so richtig sagten, lassen darf. Wenn Sie mir auch da mit Ihrem Rat zu Hülfe kommen wollten – ich würde Ihnen unendlich dankbar sein.

Der Graf hatte die letzten Worte in einem erregten, fast leidenschaftlichen Ton gesprochen. Dabei hielt er noch immer des andern Hand fest.

Sonderbarer Mensch, dachte der Doktor; aber augenscheinlich ein wirklich guter Kerl.

Wissen Sie was, Herr Graf, sagte er, ich glaube, Sie thäten am besten, sich über diese curae posteriores mit meiner Frau zu besprechen. Sie ist ein eminent praktischer Kopf und hat in solchen Dingen eine reiche Erfahrung.

81 Wann dürfte ich wohl Ihrer Frau Gemahlin meine Aufwartung machen?

Sie ist, glaube ich, heute sehr beschäftigt. Vielleicht morgen in einer Mittagsstunde?

Sie wollen die Güte haben, sie von meinem Besuch zu avertieren?

Natürlich.

Tausend Dank!

Keine Ursache, Herr Graf.

Zu des Doktors großer Erleichterung hatte der Graf jetzt endlich seine Hand losgelassen. Sie gingen durch das Arbeitszimmer in das Empfangszimmer zurück, wo der Doktor seinen Hut hatte stehen lassen. Der Graf begleitete ihn bis zur Flurthür, die Zunz öffnete. Ein junger Ulanenoffizier stand davor, der eben nach der Schelle greifen wollte.

Famos, Wilfried, daß ich Dich treffe! Ich muß Dich auf eine Minute sprechen.

Der Doktor drückte dem Grafen noch einmal die Hand, verbeugte sich flüchtig vor dem Offizier, der seinen Gruß höflich erwiderte, und eilte die Treppe hinab.

Willst Du näher treten, Falko, hörte er noch den Grafen sagen.

* * *


 << zurück weiter >>