Friedrich Spielhagen
Opfer
Friedrich Spielhagen

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Die schönen Räume hätten heute dunkel bleiben können. Die Gesellschaft, welche sich sonst nach Aufhebung der offiziellen Sitzung in ihnen plaudernd zu ergehen pflegte, oder sich in dem zweiten Salon um den herrlichen Flügel sammelte, Friederikens seelenvollem Spiel zu lauschen, fand heute, daß es höchste Zeit zum Aufbruch sei. Der Professor hatte sich noch einige Notizen für sein nächstes Kolleg zu machen; der Doktor einen angefangenen Essay, der morgen in die Druckerei mußte, zu beenden; der Major einige dringende Generalstabsakten in nächtlicher Arbeit zu erledigen; Frau von Wiepkenhagen sich auf eine Vorstandssitzung in der Frauen-Gymnasiumsfrage zu präparieren, die für den nächsten Vormittag anberaumt war. Die Herrschaften ließen sich nur eben so viel Zeit, diese Entschuldigungen in schicklicher Form vorzubringen, Tante Adele die obligaten Dankesversicherungen für den, wie immer, genußreichen Abend zu machen. Das währte ein paar peinliche Minuten; und außer Tante Adele, der Baronin und Friederike war niemand mehr in dem großen Salon.

Tante Adele hatte die gewohnte Haltung während dieser Komödie durchaus bewahrt, ein verbindliches Lächeln auf 140 den Lippen, eine höfliche Erwiderung für jeden in Bereitschaft; aber noch konnten die Gäste den dritten Salon kaum verlassen haben, als sie, auf dem Sopha zusammensinkend, in krampfhaftes Weinen ausbrach. Vergebens lange Zeit, daß die Freundinnen sie zu beruhigen suchten, und sie ihren Schmerz wenigstens in Klagen ausströmen konnte. Der letzte holde Abendschein der Sonne ihres Lebens sei entschwunden, der Schleier der Nacht habe ihn bedeckt! Das Manna in der Wüste ihres Lebens, der Quell, aus dem sie immer wieder Erquickung getrunken – verschwunden, versiegt, auf immer dahin! Wenn sie das hätte ahnen können, als sie heute abend das heilige Buch auf seinen Platz legte und es andachtsvoll küßte! Zum letztenmal; denn nun sei es für sie profaniert.

In gewissem Sinne, ja; glaubte die Baronin, die immer der Meinung der Freundin war, hier sagen zu müssen.

In jedem! rief Tante Adele verzweifelt.

Aber, Tante Adele, sagte Friederike, Du siehst wirklich zu schwarz. Es ist doch nicht das erstemal, daß die Herren in Streit geraten sind. Erinnere Dich doch nur an den vorletzten Abend, als der Professor mit solcher Lebhaftigkeit, ja Heftigkeit für die Würde der Verse:

Ein großer Kahn ist im Begriffe
Auf dem Kanale hier zu sein,

eintrat, die der Major unbedeutend, schwulstig und zopfig zu finden gewagt hatte!

Der Major war immer nur ein lauer Bekenner, sagte Tante Adele.

Wenn wir ihn also verlieren sollten, fuhr Friederike fort, werden wir es wohl verschmerzen können.

Auch Frau von Wiepkenhagen wird fortbleiben.

Mag sie!

Und der Professor? der Doktor?

Sind ebensowenig unersetzlich. Wenn wir nur unsre liebe alte Excellenz behalten und Wilfried –

141 Kein Wort von ihm! rief Tante Adele, jetzt zum erstenmal das Taschentuch entschieden von dem Gesicht nehmend und, wie elektrisiert, in die Höhe fahrend.

Aber Tante Adele! sagte Friederike mit sanftem Vorwurf.

Kein Wort! wiederholte Tante Adele mit noch größerer Heftigkeit. Er hat das ganze Unglück verschuldet. Er ist ein Treuloser, ein Undankbarer, ein Verräter. Ich habe eine Schlange an meinem Busen genährt.

Weil er, ehrlich, wie immer, seine Überzeugung ausgesprochen hat?

Um so schlimmer, wenn es seine Überzeugung war! Wie kommt er zu der? Habe ich ihn nicht erzogen? Bin ich es nicht gewesen, die ihn in das Verständnis Goethes eingeweiht hat? Und er wendet die Waffen, die ich ihm in die Hand gedrückt, gegen mich? Glaubst Du, das würde Goethe gethan, gebilligt haben, der mit so rührender Treue an seiner Mutter hing? sich immer bewußt war, welch unendlichen Dank er ihr schuldete?

Friederike wollte lebhaft erwidern, schwieg aber auf eine warnende Geste ihrer Mutter. Die Mutter hatte recht: Tante Adele war in diesem Zustand hysterischer Aufregung für Vernunftgründe unzugänglich; jedes Wort des Widerspruchs würde die Sache nur verschlimmern. Wilfrieds Sache! der ihr so teuer war, den sie wie einen Bruder liebte!

Der Morgen hat alles wohl besser gemacht, Tante, sagte sie.

Aber ihre Hoffnung, ein Citat aus dem angebeteten Dichter werde beruhigend wirken, erwies sich als trügerisch. Tante Adele zog die Hand, die sie begütigend hatte streicheln wollen, wie beleidigt zurück und sagte in hochfahrendem Ton:

Meine Beste, auch ich halte dafür, daß, wer nicht für mich ist, wider mich ist. »Edel sei der Mensch, hilfreich und gut.« Ich glaube es stets gewesen zu sein, zu allen, 142 nicht zum wenigsten zu meinem Neffen. Aber auch der Meister konnte zürnen, wenn man ihn gekränkt hatte. Ich bin tief, bin namenlos gekränkt und – ich zürne.

In jedem andern Falle würde dies groteske Pathos nur Friederikens Humor erregt haben. Hier war die Lage zu ernst. Sie kannte Tante Adelens Unberechenbarkeit und daß sie nicht anders als an einem der beiden Enden schwärmen konnte. Wenn sich ihre abgöttische Liebe zu Wilfried in Haß verkehrte! Es was alles bei ihr möglich. Und Friederike schauderte bei dem Gedanken an diese Möglichkeit.

So stand sie denn schweren Herzens auf und folgte der Mutter, die ihr schon wiederholt mit den Augen gewinkt hatte, nach einem leisen: Gute Nacht, Tante Adele! aus dem Gemache.

* * *


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