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Des Dichters Werke sind sein Leben. Jede seiner Schöpfungen ist eine That seines Geistes, in der er die höchsten Kräfte sammelte, ein Zeichen, an dem die Abschnitte des Weges gemessen werden, den er zurücklegte. Seine Werke sind das Erbe, welches er der Nachwelt hinterläßt; wer sie kennt, kennt den Dichter. Aber weil sein Leben in seinen Werken liegt, darum muß man jenes kennen, um diese zu verstehen. Nur aus der Erkenntniß des Wechselverhältnisses zwischen Leben und Dichtung, zwischen Mensch und Dichter ergibt sich ein klarer Einblick in sein Wesen, eine gerechte Würdigung seiner Stellung. Alles Sammeln zur Lebensgeschichte der Dichter, alles Erklären ihrer Werke beruht darauf.
Auch die Erinnerungen aus Tieck's Leben sind eine historische Erläuterung seiner Werke; sie weisen deren Entstehung als Thaten seines Geistes nach. Von einem andern Standpunkte aus über sie zu sprechen, ist nicht die Absicht, obgleich es nicht an Stoff gebräche, schon darum nicht, weil so Vieles über sie gesprochen worden ist. Doch soll zum Schlusse noch einmal davon die Rede sein, wie er sich menschlich und schriftstellerisch im Einzelnen zu ihnen verhielt.
150 »Man muß es erlebt haben!« war sein Losungswort. Er hatte erlebt, was er dichtete. Seine Dichtungen waren der reine Ausdruck seines innern Lebens; sie waren etwas durchaus Persönliches, ein Theil seines Wesens. Darin liegt ihre Bedeutung, die Tiefe ihrer Gedanken, die Kraft, die Lebendigkeit, die Anschaulichkeit der Darstellung.
Aber auch Vieles von dem, was er äußerlich erlebte und erfuhr, hat er darin niedergelegt. Für die Novellen hat man das immer anerkannt, nur aus der Fülle der Erfahrungen und Beobachtungen konnten sie hervorgehen. Wenn es sich bei ihm mehr als bei tausend Andern bestätigt, daß es darauf ankomme, wie man die Dinge erlebe, so war er doch in dem, was er erlebte, nicht minder bevorzugt. Freilich waren Leiden kein geringer Theil davon. Wer sein Leben kannte, wußte, daß auch in den frühern Dichtungen Vieles der Art zerstreut sei. Mit historischer Treue hat er es in der Regel gegeben, höchstens, daß er etwa einen Namen verschwieg, oder einen erfundenen an dessen Stelle setzte. Er hatte keine Veranlassung, zu ändern und umzugestalten. Die historische Wahrheit des Thatsächlichen verband sich ungesucht mit der dichterischen Wahrheit. Das ist kein geringes Zeugniß für seine Dichtungen überhaupt.
In solchen vereinzelten Darstellungen aus seinem Leben hat er Bruchstücke der Denkwürdigkeiten gegeben, die er nicht geschrieben hat. Aber man könnte sie daraus herstellen. Gesammelt ergeben diese zerstreuten Züge sein Lebensbild, nicht wie er es im Ganzen entworfen hat, aber wie es ihm aus dem Standpunkte des Augenblicks, von einer Seite her betrachtet erschien. Die folgenden Nachweisungen machen den Versuch, eine solche Zusammenstellung einzelner Lebensmomente nach ihrer Zeitfolge zu geben.
Erinnerungen aus der Kindheit und dem Knabenleben 151 finden sich in dem »Jungen Tischlermeister«; seines Vaters Erzählungen von dem Magister Kindleben sind bei der Schilderung des alten Magisters benutzt. Die jugendliche Begeisterung des Tischlers für den »Götz« ist seine eigene. Züge aus dem Jugendleben enthalten ferner: »Der Weihnachtsabend« die Schilderung des berliner Weihnachtsmarkts; die Gespräche im »Phantasus« die Geschichte des magischen Theaterbillets; »Musikalische Leiden und Freuden« seine jugendlichen Versuche in der Musik; »Der junge Tischlermeister« seine Schülerfahrten nach Jessen und Wittenberg; die Geschichte »Peter Leberecht's« eine Charakteristik seines Jugendfreundes Piesker unter dem Namen Liesker; die Novelle »Das Zauberschloß« die Schilderung eines andern Schulgenossen Namens Schwieger. Den Mann mit dem rothen Rocke, der die fixe Idee hat, die Pygmäen mit seiner Peitsche verfolgen zu müssen, der in den »Reisenden« erscheint, hatte er als Schüler auf einer Hochzeit in einem berliner Bürgerhause gesehen. Die Erinnerungen an Franken und seine Irrfahrten im Fichtelgebirge mit Wackenroder hat er im »Jungen Tischler« niedergelegt; der Mondsüchtige, der jene mondbeglänzte Zaubernacht im Fichtelgebirge schildert, ist er. Die Eindrücke, welche er in Nürnberg empfing, liegen dem »Sternbald« zu Grunde; sein Abenteuer im Lager der Reichstruppen bei Fürth erzählt er in den Gesprächen im »Phantasus«. Die muthwillige Täuschung Wackenroder's, daß der Hund lesen gelernt habe, läßt er dem alten Labitte im »Hexensabbath« widerfahren. Die Nachtscene, die er in Göttingen beim Lesen des »Macbeth« erlebte, schildert er im »Lovell«; von seinen Studien des Spanischen in dieser Zeit spricht er im »Zauberschloß«. Die Abenteuer mit jener Ophelia und dem Irrsinnigen, der sich für einen Sohn Friedrich's des Großen hielt, erzählt er in den »Reisenden« und im »Jungen Tischler«; die Geschichte 152 mit dem Bergmann im »Alten vom Berge«, der nie ein Kornfeld gesehen hatte, erlebte er in Andreasberg am Harz.
Einzelne Erlebnisse aus der spätern Zeit bis zur Umsiedelung nach Dresden gibt er an folgenden Stellen: In den »Abendgesprächen« die Vision von 1798, als er seiner Braut bis Tegel entgegenging; in der »Gelehrten Gesellschaft« eine Schilderung seines literarischen Lebens mit Wackenroder, Bernhardi und Andern; in der Novelle »Waldeinsamkeit« spricht er von der Entstehung des »Blonden Ekbert«; ebenda finden sich Erinnerungen an Jena. Die satirisch-phantastischen Lustspiele schildern sein Verhältniß zur damaligen literarischen Welt; seine Liebhaberei für Bleisoldaten übertrug er auf den alten König im »Zerbino«; in den »Briefen über Shakspeare« und den Gesprächen im »Phantasus« berichtet er von seiner Theaterleidenschaft. Von dem Eindrucke, den Jakob Böhme's Schriften auf ihn machten, erzählt er in der Person des Pfarrers Watelet in den »Cevennen«, dessen religiöse Ansichten die seinen sind. Seine Reise durch Deutschland im Jahre 1803 mit Burgsdorff, seine damaligen Verhältnisse und Stimmungen stellt er in der »Sommerreise« dar und im »Jungen Tischler«; das musikalische Leben in der Familie des Grafen Finkenstein in den »Musikalischen Leiden und Freuden«. Reichardt's Buch »Napoleon Bonaparte und das französische Volk unter seinem Consulate« gab Veranlassung zu der Novelle »Der Geheimnißvolle«. Ein dichterisches Tagebuch seiner italienischen Reise enthalten die »Reisegedichte eines Kranken«; den Eindruck der Musik in der päpstlichen Kapelle gibt er in den »Musikalischen Leiden und Freuden«, Erinnerungen an das deutsche Liebhabertheater in Rom im »Jungen Tischler«, an seinen Aufenthalt in Florenz im »Pokal«. Krankheit und Leben in München wird geschildert in den Gesprächen im »Phantasus« und im »Liebeszauber«. Die Scenerie für 153 die Gesellschaft im »Phantasus« ist aus dem Leben in Ziebingen entnommen; der blödsinnige Theophilus ist eine Gestalt, der er dort begegnete. Der Held der »Zopfnovelle«, der sich für einen Ziethen'schen Husaren hält, ohne jemals Soldat gewesen zu sein, ist eine historische Person. Er war Verwalter in Ziebingen, und wirklich stellte man zu seiner Beruhigung Nachforschungen in Berlin an, in Folge deren seine wunderliche Selbsttäuschung entdeckt wurde. Anekdoten aus dem Leben Fichte's und Oehlenschläger's, deren Zeuge er selbst war, gibt er in den »Uebereilungen«, seine Erfahrungen vom Somnambulismus erzählt er in den »Wundersüchtigen«.
Endlich haben die dresdener Verhältnisse den Stoff für die »Vogelscheuche« geliefert, in der mehrere literarische Persönlichkeiten jener Zeit auftreten; ebendaher ist die Dichterin im »Zauberschloß«. Von seinen Besuchen in Sesenheim, Stratford und bei Ulrich Hegner erzählt er im »Mondsüchtigen«. »Dichterleben« und der »Tod des Dichters« enthalten eine Reihe von Selbstbekenntnissen und Schilderungen im Munde Shakspeare's und Camoens'. Die Ansichten über die altenglische Bühne entwickelt er als Professor im »Jungen Tischler«, den er auch sonst mit manchen seiner Eigenthümlichkeiten ausgestattet hat. Seinen prosaischen Jugendfreund Piesker, wie er ihn später in Dresden wiedersah, schildert er als Beskow in der »Reise ins Blaue«; seine Stellung zum Jungen Deutschland bespricht er ebenda, und im »Wassermensch«, »Eigensinn und Laune« »Vogelscheuche« und »Liebeswerben«.
Den Stoff zu Novellen gaben auch Anekdoten, welche Freunde ihm erzählt hatten, so zum »Wassermensch«, »Eigensinn und Laune«, »Die Klausenburg«, »Der Weihnachtsabend«; die Veranlassung zum »Funfzehnten November« ein 154 Kupferstich in einem holländischen Buche, der eine Ueberschwemmung darstellte.
Ueberall, was man auch berühren möge, treten eigene Erlebnisse und Erfahrungen entgegen. Der Stoff aus dem Leben drängte sich ihm von allen Seiten herzu, niemals war er darum verlegen, eher war es ihm zu viel, was er Alles noch aussprechen und darstellen wollte. War er im Zuge der Arbeit, so reichten Zeit und Kraft kaum hin. Er arbeitete unendlich rasch und leicht, namentlich in seiner Jugend, wo er oft mit kühner Sorglosigkeit die Dinge unter der Feder entstehen ließ. Alles Verbessern, Feilen und Putzen im Einzelnen war ihm verdrießlich. Selten corrigirte er, noch seltener entwarf er Concepte. Alles, was er schrieb, war aus einem Gusse; wie er es vorher innerlich bei sich festgestellt hatte, so sprach er es aus. Diesen Charakter des Flüssigen und Fertigen tragen auch seine Manuscripte. Zu dem, was einmal fertig war, kehrte er ungern zurück.
Man kann darum nicht sagen, daß er übereilt gearbeitet habe; die Vorbereitungen währten vielmehr oft sehr lange. Er kannte keine abgemessene Methode des Arbeitens; thatsächlich aber lag sie in einem steten Wechsel von träumerischem Nachdenken und Versinken und dem angestrengtesten mechanischen Schreiben. Hatte er sich unter vielen Plänen und Gestalten, die ihm vorschwebten, endlich für einen entschieden, so fing er an den Stoff innerlich zu durcharbeiten und zu bilden, indem er scheinbar müßig und versunken seine Umgebung völlig vergaß. In solchen Zeiten ward Alles lebendig vor seiner Seele bis in das Einzelne hinein; er machte es, wie er zu sagen pflegte, im Kopfe fertig. Endlich kamen die Massen in Fluß, der Durchbruch trat ein. Hier entschieden nicht selten äußere Veranlassungen, eine bevorstehende Reise, das Drängen der Buchhändler, die sich um seine 155 Novellen für ihre Taschenbücher bewarben. Nun begann er zu schreiben, ohne einen Freund zu sehen und zu sprechen, ohne sich vom Stuhle zu erheben; kaum daß er sich Zeit zum Essen ließ. So schrieb er in wenigen Tagen Novellen von vielen Bogen nieder. Mit unglaublicher Eile flog die Feder über das Papier hin.
Bei dieser zuströmenden Fülle konnte er sich nie zum dictiren bequemen; bei der Ungeduld, mit welcher er schrieb, war ihm der Umweg durch die Feder eines Dritten viel zu lang. Nur wenn er selbst dazu griff, fand er das rechte Wort. Die Stenographie, welche ihm in Berlin empfohlen wurde, wies er mistrauisch ab, und erst in den letzten Jahren, als er an das Bett gefesselt war, entschloß er sich zu dictiren, doch beschränkte er sich meist nur auf Briefe.
Tieck's Methode zu arbeiten hing mit seinem Wesen genau zusammen, nur eine bedeutende Kraft konnte so arbeiten; doch fühlte er die Nachtheile, welche damit verbunden waren, sehr wohl. Wie er sich des Aufschiebens anklagte, so in vertrauten Briefen, auch seiner Art zu arbeiten; er könne seinen Stimmungen nicht gebieten, er versinke in Träumerei und arbeite dann wieder zu viel und zu rasch; nur Weniges von dem sei geschehen, was seine jugendliche Phantasie ihm als möglich gezeigt habe, das Beste sei unterblieben aus Uebermuth im Projectiren; der Mensch sei unersättlich in Plänen. Es fehlte an einem gewissen Gleichgewichte zwischen Ausführung und Entwurf; das Durcharbeiten desselben in der Phantasie verzehrte einen Theil der Kraft, und begünstigte am liebsten immer die neuesten Pläne und Stoffe.
In gelegentlichen mündlichen und schriftlichen Aeußerungen, in Briefen oder auch öffentlich, entwickelte er daher einen unendlichen Reichthum von Plänen. In solchen Andeutungen nahm er dann die Freude, welche er sich von ihrer 156 Ausführung versprach, vorweg. Was er wollte stand klar und fest ausgeprägt vor seiner Seele, er sah das noch nicht Gewordene, und die Lebhaftigkeit der Phantasie ließ ihn die Linie übersehen, welche Gedanken und Ausführung trennte.
Von den Ausführungen solcher Entwürfe ist wenig vorhanden, denn nur in seltenen Fällen kam er bis zum Anfange derselben. Ein Plan, der neben dem Sternbald entstand, war, in einem Romane »Alma«, den er ein Buch der Liebe nannte, ein Gegenstück zu jenem zu geben. Seit 1797 trug er sich mit diesem Gedanken, seine theilweise Ausführung ist jedoch später und fällt in die Jahre 1803–6. Er klagte oft, daß diese Papiere verloren gegangen seien. Erhalten sind die unter dem Namen »Alma« in die Gedichtsammlung aufgenommenen Sonette und Liebesgedichte. Die religiösen Fragen wollte er 1892 in einem andern Roman erörtern, dessen Skizze er in der Novelle »Die Sommerreise« aufbewahrt hat. Lyrische Abschnitte aus einer dramatischen Bearbeitung der »Magelone« finden sich unter seinen Gedichten. Einen Faust begann er in der ziebinger Periode zu dichten, der sich ebenfalls nicht erhalten hat. Einige andere Bruchstücke gibt der literarische Nachlaß. Doch sind davon nur der »Anti-Faust«, die dramatisirte »Melusine« und ein Ansatz zu einer »Märchennovelle« aus der spätesten Zeit erwähnenswerth. Wirklich angefangene und nicht vollendete Dichtungen hat er daher sicher nicht mehr hinterlassen als andere unserer Dichter, als Lessing, Schiller, Goethe.
Dennoch hat eine scharfe Kritik gerade bei ihm einen bedeutenden Nachdruck darauf gelegt; sie hat seinen Genius nicht nach dem gemessen, was er wirklich gethan und vollendet hat, vielmehr nach dem, was er thun wollte, was er unvollendet zurückgelassen hat. Es gibt kein ungerechteres Verfahren, als einem großen Dichter danach seine Stelle in der Literatur 157 anweisen zu wollen. Diese Kritik glaubt erwiesen zu haben, daß Tieck's Dichtungen seinem eigenen Wesen nach nur Fragmente sein konnten. Werfen wir solchen Behauptungen gegenüber einen Blick auf das Thatsächliche.
Tieck hat nach Ausweis des angehängten Verzeichnisses seiner Werke 23 vollendete dramatische Dichtungen hinterlassen, von denen fünf zuerst durch den Nachlaß bekannt geworden, und drei vollständig mitgetheilt worden sind. Zwei von jenen 23 Dramen bestehen jedes aus zwei fünfactigen Theilen nebst einem Vorspiel, »Octavian« und »Fortunat«, eines, »Herr von Fuchs«, ist eine freie Bearbeitung nach Ben Jonson; alle Uebersetzungen sind von dieser Zählung ausgeschlossen. Auf so viel abgeschlossene und zum Theil sehr umfassende Dichtungen kommen vier nicht vollendete; der »Anti-Faust«, »Magelone«, »Melusine« und das »Donauweib«.
Der erzählenden Poesie im weitesten Sinne gehören 75 vollendete Dichtungen an, davon kommen 38 auf die spätere Novelle, 37 auf die ältere Erzählung und den Roman, mit Einschluß der »Vittoria Accorombona«. Diesen stehen nur drei Fragmente gegenüber, der Roman »Sternbald«, die»Cevennen« und das im Nachlaß mitgetheilte Bruchstück »Hüttenmeister«. Daß die Anlage des Phantasus nicht zur Ausführung gelangte, wird nicht in Betracht kommen, denn es ist ein Sammelwerk, das jeden Augenblick abgebrochen werden konnte, und die einfassende Gesprächsnovelle ist wesentlich abgeschlossen.
Außerdem hat er 16 Skizzen über Kunst in dem lyrischen Tone Wackenroder's geschrieben, 45 kritisch literarische und literarhistorische Abhandlungen, die er in der Form von Briefen, Recensionen, Einleitungen und Vorreden gab; davon verfaßte er 23 als Herausgeber oder Vorredner für Schriftsteller der neuern Zeit und für verstorbene oder noch lebende Freunde. Dazu kommen 167 dramaturgische Kritiken, 158 Abhandlungen und Anzeigen größern oder kleinern Umfanges, ferner ein starker Band lyrischer Gedichte, und endlich die Anmerkungen zum Shakspeare, und die Bearbeitungen und Uebersetzungen aus dem Altdeutschen, Englischen und Spanischen.
Also neben umfassenden kritischen und literarhistorischen Arbeiten, zahlreichen Uebersetzungen und lyrischen Gedichten stehen 98 vollendete, zum Theil große Dichtungen, in dramatischer oder erzählender Form, und ihnen gegenüber sieben unvollendete! Kann man ein funfzigjähriges Dichterleben besser auskaufen? Fürwahr, es gehört die Verblendung einer übersichtigen Kritik dazu um zu behaupten, Tieck habe seinem Wesen nach nichts vollenden können!
Stets hat man es mit Recht am meisten bedauert, daß er gerade die Novelle, in der die Novelle über sich selbst hinausgeht, und zu einem ebenso tiefsinnigen als großartigen historischen Gemälde sich erhebt, nicht zum Abschlusse geführt habe, den »Aufruhr in den Cevennen«. Es ging ihm auch hier wie öfter; die günstige Constellation, die er abwartete, in der seine Stimmung mit den Umständen zusammentreffen sollte, erschien nicht. Später bedauerte er oft, daß er nicht zur Vollendung gekommen sei, da er den Schluß bei sich ganz durchgearbeitet habe. Er hatte die weitere Entwickelung der Fabel im Kopfe fertig, und bisweilen sprach er davon in allgemeinen Andeutungen. Der alte Parlamentsrath Beauvais, Edmund's Vater, wird in seinem Zufluchtsorte im Gebirge durch den humoristischen Musikus entdeckt, der sich rühmt ihn durch seine geheime Wissenschaft erkannt zu haben, während ihn der Hund Hektor auf die Spur des Verfolgten geleitet hat. Der alte Beauvais wird gefesselt von den königlichen Truppen fortgeführt, und es ergibt sich Gelegenheit, die Grausamkeit des Marschalls Montrevel und 159 der Verfolger in ihrem ganzen Umfange noch einmal zu schildern. Edmund beschließt seinen Vater mit Hülfe der Genossen zu befreien. Dies geschieht bei jener geheimnißvollen Esche, von der der Jäger Favart im Anfange erzählt. Hier hat einst in den Zeiten der ersten Religionskämpfe ein hugenottisch gesinnter Sohn seinen altgläubigen Vater durch einen Schuß getödtet. Dieser hatte flüchtend den Baum erstiegen, und stürzt nun hinab auf den Sohn, der über seine That wahnsinnig wird. An derselben Stelle befreit jetzt der Hugenott Edmund seinen Vater; der Baum ist entsühnt. Edmund macht sich von seiner Partei los, der er innerlich nicht mehr ganz angehört; er flieht mit Vater und Schwester nach Genf; Christine folgt ihnen. An die Stelle des grausamen Montrevel tritt Villars, der den Abschluß dieser Bewegungen herbeiführt. Dies ungefähr sollte der Inhalt des dritten und vierten Abschnitts sein.
Es mag kühn sein dem Dichter gegenüber, der sein Werk fortsetzen wollte, die Ansicht festzuhalten, daß es in sich schon jetzt vollendet, abgeschlossen sei. Ist dem so, möchte man vermuthen, vielleicht eben darum sei es zu einer äußern Fortsetzung nicht gekommen. Die verschiedenen Punkte, durch welche das religiöse Bewußtsein, der Glaube sich hindurch bewegen kann, sind alle berührt; vom Atheismus bis zur schwärmerischen Vision haben alle Formen ihre Darstellung gefunden. Edmund erscheint zuerst als katholischer Fanatiker, der außerhalb seiner uralt historischen Kirche kein Heil sieht, und die Unterwerfung des Glaubensbedürfnisses und Gewissens unter ihre unwandelbaren Gesetze erzwingen will. Er schlägt um, und wird camisardischer Schwärmer; nun findet er das Heil allein in den Visionen und Offenbarungen, die ihm persönlich zu Theil werden. An die Stelle der historisch gläubigen Starrheit tritt schwärmerische Zerfahrenheit, aber 160 er bleibt ein religiöser Verfolger, nur von dem andern Extrem geht er aus. Da lernt er durch den alten Geistlichen das milde und versöhnende Christenthum kennen, das Christenthum der That, das über den Gegensätzen steht, er ahnt, daß er aus einem schweren Irrthum in den andern verfallen sei, er wendet sich innerlich von seinen neuen Glaubensgenossen ab, und auf jenen Weg des Friedens und der Versöhnung fühlt er sich hingezogen. Soweit liegt die Entwickelung in dem was Tieck gegeben hat, klar und deutlich vor. Sollte darin nicht ein wesentlicher innerer Abschluß erkennbar sein?
»Aber Shakspeare!« ruft die schadenfrohe Kritik weiter; »wie war es mit seinem vielbelobten und lang versprochenen Buche über Shakspeare?« Ja wol, in seiner überschwänglichen Begeisterung für Shakspeare hat er oft von seinem Dichter und dem Buche über ihn gesprochen. Glaubte er doch hier eine Aufgabe seines Lebens zu finden! Die Einleitung zum »Sturm« gab er 1796 »als eine Probe einer größern Arbeit über Shakspeare« und schloß mit einem genauen Programm derselben; das altenglische Theater von 1811 ist ihm ein Supplement, um über Shakspeare in seinem Buche gründlich zu sprechen; die Andeutungen der Vorrede zur »Vorschule« 1823 hofft er ebendort genügend auszuführen, 1828 in der Einleitung zu Lenz erwähnt er wieder dieses Werkes. Oft sprach er so davon, als sei es vollendet, als werde es binnen kurzer Zeit erscheinen; und rührend war es in seinen letzten Jahren ihn klagen zu hören, wie Krankheit und Widerwärtigkeiten ihn immer noch nicht zur Vollendung seines Buches über Shakspeare hätten gelangen lassen. Wie eine Fata Morgana war die Idee dieses Werks vor ihm hergegangen durch das Leben. Wie oft glaubte er sie zu ergreifen, und stets floh sie von neuem in die Ferne, bis 161 sie an den Grenzen mit dem Leben selbst untersank! Es war ein unablässiges Streben nach einem Ziele, mit gleicher Begeisterung bis an das Ende; ein Streben ohne zu erreichen, die menschliche Schwäche in großer menschlicher Kraft. Seine Gründlichkeit ebenso sehr als das Voraneilen seiner Phantasie ließen diesen Lieblingsgedanken nicht zur Ausführung kommen.
Zu der Gesellschaft in der Phantasusnovelle gehört auch der gelehrte Alterthumsforscher, dem der humoristische Kritiker nachsagt, er gehöre zu den gründlichen Deutschen, welche nie aus den Vorbereitungen herauskommen, und vor lauter Gründlichkeit die Sache kaum an der Oberfläche berühren. Tieck schilderte hier eine Seite seiner Natur. Der Name Shakspeare schloß für ihn alle Poesie, alle Begeisterung, alles Höchste und Größte in sich. Nicht ohne Weihe und lange Vorbereitung glaubte er dieses Heiligthum betreten zu dürfen. Alle Hülfsmittel, deren er habhaft werden konnte, zog er von nah und fern herbei, aber immer noch nicht schienen sie ausreichend. Unaufhörlich las, studirte und erwog er den Sinn des Dichters, aber er glaubte in die Tiefe noch nicht ganz hinabgetaucht zu sein, sie ganz ermessen zu haben. Immer weiter zog er die Grenzen der Aufgabe. Die Entwickelung Shakspeare's wuchs ihm zur Geschichte des englischen Dramas, der abendländischen Poesie und Cultur empor, die Welt lag in Shakspeare. Dann ward er über seinen Vorbereitungen ungeduldig; er sah in den Keimen schon die vollen Früchte. Im Kopfe hatte er sein Buch fertig, es schien nur nöthig die Hand zu erheben, um es zu vollenden, und die Vollendung galt ihm als Pflicht der Pietät gegen den großen Geist, in dessen Zauberkreis er sich magisch gefesselt fühlte. Er faßte es als Opfer des Danks, das er zu bringen habe. Ebenso sprach er von der Pflicht, ein Buch 162 über Cervantes, über Goethe und Fleck zu schreiben. Er wollte Zeugniß ablegen für die Geister, die auf ihn gewirkt hatten, und alle Welt sollte ihre Größe erkennen, wie er sie erkannte.
Aber die Kritik erweckte ihn aus solchen Verzückungen. Von Zeit zu Zeit rückte sie ihm die Frage vor, wie es denn mit dem mysteriösen Buche stehe; sie ging zur Vermuthung über, es existire überhaupt wol nur in seinem Kopfe, und meinte endlich, es sei das nicht zu beklagen, sein Buch würde ein antiquirtes gewesen sein, denn längst sei man über ihn und seine Shakspearegrillen hinweggeschritten. An Tieck's romantischer Kritik wollten Tagesschriftsteller, kritische Philologen und buchgelehrte Literarhistoriker zu Rittern werden.
Jene Vermuthung hat sich als unrichtig erwiesen, und wie weit die neue Kritik mit ihren Behauptungen Recht hat wird sich erweisen, wenn die kritischen Acten über Shakspeare geschlossen sind. Tieck's Blick ist auch hier bis zuletzt klar geblieben. Wenige Monate vor seinem Tode, als ihm der Band des Collier'schen Shakspeare aus London zugesandt wurde, welcher die neu aufgefundenen Emendationen enthält, sagte er: »Ich kann nichts Besonderes darin sehen; die guten Verbesserungen kannte man schon lange, und die neuen sind entbehrlich.« Hier stimmte er mit der Ansicht des Kritikers überein, der ihn selbst der schärfsten Censur unterworfen hatte.
Die neue Shakspearekritik ist gegen ihn ebenso undankbar als ungerecht gewesen. Sie selbst steht auf dem Boden, den er und Schlegel geschaffen haben, ihr Dasein verdankt sie zum Theil seiner begeisterten Prophetie, seinen unermüdlichen kritisch dichterischen Betrachtungen des Dichters, in Briefen, Abhandlungen, dramaturgischen Kritiken, literarhistorischen Einleitungen, Anmerkungen, Gesprächen und Novellen. Auch 163 hier mied er die abgemessene Straße des Systems, er wandelte lieber auf den verschlungenen Pfaden des Dichters. Die neue Kritik verlangt Princip, Consequenz, Classification der Zeugnisse, Codices, Ausgaben, Lesarten, es ist die historisch philologische Kritik. Die seine war die intuitive, anschauende des Dichters, durch alle Umhüllungen suchte sie geradeswegs in das Herz der großen Erscheinung zu dringen. Die Worte zählende Kritik machte ihn ungeduldig; wie der Geist zum Geiste sprach wollte er hören. In diesem Sinne hat er für die Erkenntniß Shakspeare's unendlich viel gethan; mehr vielleicht als sein vollendetes Buch bewirkt hätte.
In der innigen Verbindung von Poesie und Kritik liegt der Schwerpunkt seiner nicht leicht zu fassenden und darzustellenden Eigenthümlichkeit. Man könnte Tieck mit Lessing zusammenstellen. So unendlich verschieden sie sind, deutet gerade dieser Gegensatz auf eine innere Beziehung beider hin. Lessing kam von der Seite der Kritik zur Poesie; ihr allein wollte er Alles verdanken was er vermochte; Tieck erklärte die Poesie für seine unbeschränkte Herrscherin, die wol Gesetze zu geben, aber keine andern als die eigenen anzuerkennen habe. Von der Poesie kam er zur Kritik. Lessing war ein dichtender Kritiker, Tieck ein kritisirender Dichter. Häufig zieht er die Kritik in die Dichtung hinein, in die humoristischen Lustspiele der ersten, in die Novellen der zweiten Periode, seine Ironie trägt ein kritisches Element in sich. Dagegen erhebt sich die Poesie in der Kritik; seine Studien englischer, spanischer, deutscher Dichter ruhen überall auf dichterischer Begeisterung. Seinen Kritiken gibt er gern eine künstlerische Form. Ueber Shakspeare schreibt er Briefe und Novellen, die Charakteristik des Goethe'schen Zeitalters gestaltet sich ebenfalls fast zur Novelle. Die Einleitung zur »Insel Felsenburg« und andere Kritiken werden zum Gespräch.
164 In seinen Dichtungen erscheint die Kritik oft als eine literarhistorische, und setzt darum die Kenntniß mancher einzelner Beziehungen voraus, und seine Ansichten tragen den Stempel abweichender Eigenthümlichkeit. Daraus hat ein großer Theil seiner Beurtheiler die Meinung hergeleitet, Tieck's Dichtungen seien unpopulär. Diesen Glaubenssatz hat man mit Vorliebe weiter ausgeführt; er suche das Aparte, Absonderliche, Grillenhafte, er sei ein aristokratischer Dichter für die Geistreichen, für ästhetische Theecirkel, nicht für das Volk. Nimmermehr könne es sich mit seinen Märchen und Novellen befreunden!
Sonderbar! War es denn nicht seine Poesie, die niedertauchte in das erste nächste Element, in dem der Mensch athmet, in die Natur? Was könnte populärer sein als diese! War er es nicht, der den alten vergessenen oder verlachten Volkssagen nachging und sie wieder zu Ehren brachte? Sprach er nicht überall mit Begeisterung gerade von der Größe der Dichter, die volksthümlich waren? Behandelte er nicht in seinen Novellen, was die Geister der Gegenwart erfüllte? Und doch sollte er nichts Volksthümliches haben? Wo diese Vorwürfe nicht aus Unkenntniß, Misverstand oder Parteilichkeit hervorgegangen sind, ist ihr Grund in einer einseitigen Auffassung seiner kritischen Richtung zu suchen. Gegen diese Ansicht spricht die Wirkung seiner Dichtungen im Allgemeinen wie im Einzelnen. Männer, den verschiedensten Lebensstellungen angehörend, wurden von ihnen in früherer und späterer Zeit tief ergriffen, in manchen Charakteren fanden sie sich, ihre eigenen Seelenzustände so klar dargestellt, daß sie sich gedrungen fühlten ihm zu schreiben, und ihn am liebsten zu ihrem Gewissensrathe gemacht hätten. Es waren ihm völlig unbekannte Personen, keine Gelehrte, keine Literaturmenschen. Noch 1842 165 erhielt er einen Brief eines Bäckers in Karlsruhe, der ihm für den »Jungen Tischlermeister« als eine dichterische Verherrlichung des deutschen Handwerkerstandes dankte. Es ist Thatsache, daß andere seiner Novellen von Personen, die man sonst ungebildet zu nennen pflegt, mit Eifer und Vorliebe gelesen worden sind.
Und was ist es mit jenem Vorwurfe der Unpopularität? Es gibt Kritiker, die über Schiller den Stab brechen, eben weil er populär sei, die für Goethe's Größe einen Beweis in seiner weniger populären Haltung finden. Was ist populär, wahrhaft volksthümlich? Nicht dasjenige, was die Tageskritik dazu stempelt, was ein enger Kreis von Menschen, was eine bestimmte Bildungsclasse dafür erklärt; nicht dasjenige, was heute Recht haben muß, weil es morgen Unrecht haben wird, was heute besprochen wird und morgen vergessen ist. Auch nicht im charakterlos Allgemeinen, vielmehr in der Fülle des Eigenthümlichen, in dem Geschlechter und Zeiten sich wiederfinden, liegt das Volksthümliche.
Tieck kannte das Schwierige seiner Stellung zur Gegenwart: »Irgend etwas ist immer in Deutschland an der Tagesordnung«, schreibt er an Solger, »das leere Form, geistlose Mode und übertriebene Einseitigkeit wird, und immer sehen wir einige von den Besten eifrig Theil nehmen und sich verblenden, und dieselbe Nation, die für Viel- und Allseitigkeit schwärmt, kann immer vor irgendeiner neuen Verblendung nicht zur Besinnung kommen. Bei meiner Lust am Neuen, Seltsamen, Tiefsinnigen, Mystischen und allem Wunderlichen, lag auch stets in meiner Seele eine Lust am Zweifel und der kühlen Gewöhnlichkeit, und ein Ekel meines Herzens, mich freiwillig berauschen zu lassen, der mich immer von allen diesen Fieberkrankheiten zurückgehalten hat, sodaß ich (seit ich mich besonnen) weder an Revolution, Philanthropie, 166 Pestalozzi, Kantianismus, Fichtianismus noch Naturphilosophie als letztes einziges Wahrheitssystem gläubig, habe in diesen Formen untergehen können.«
Und so hat er es gehalten bis ans Ende. Stets hat er an die große unsichtbare Gemeinde der Geister geglaubt, die nicht ausstirbt, die lebt und wirkt zu allen Zeiten. Sie entscheidet wer und was volksthümlich sei; Tieck kann ihrem Ausspruche ruhig entgegensehen! 167