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Seit der schweren Krankheit und lebensgefährlichen Operation, die er 1845 bestanden, hatte die körperliche Schwäche zugenommen. Spaziergänge in freier Luft hatte er schon früher selten gemacht, jetzt gab er sie ganz auf; nur an den heißesten Sommertagen pflegte er auszufahren. Im Jahre 1850 bezog er zum letzten Male seine Wohnung in Potsdam. Hier saß er fast den ganzen Tag auf dem geschützten Balkon in der Sonne. Dieser Luftgenuß gewährte ihm große Stärkung. Der Blick auf den grünen Park von Sanssouci war der letzte in jenes Narurreich, das ihn oft unwiderstehlich an sich gezogen hatte. Er, der einst die Nächte unter 135 freiem Himmel, im Walde durchwachte, war des Waldesrauschens so entwöhnt, daß er freie Luft und Bewegung scherzweise ein Vorurtheil schalt, und über den leisesten Zugwind in heftigen Zorn ausbrach. Damit und seinen übrigen körperlichen Gebrechen hing es zusammen, daß er auf Reisen die Eisenbahnen soviel als möglich vermied. Der schneidende Luftzug, der Kohlenstaub, das Gerassel der Schienen, das Menschengewirr, die Eile, Alles war ihm unerträglich und übertäubte ihn nervös bis zur Krankheit. Ihn verdroß die fabrikmäßige Hast, mit der das Reisen betrieben wurde, der Untergang aller Reisepoesie, in der ihm das Leben stets am glänzendsten erschienen war. Darum blieb er bei dem alten Reisewagen, und der Eisenbahn zum Trotz fuhr er nach Potsdam nie anders als auf der einsamen Poststraße.
Am 7. Januar 1851 las er in einer kleinen Gesellschaft Goethe's Singspiel: »Scherz, List und Rache.« Wie öfter in dieser Zeit wurde er von heftigem Husten unterbrochen, der sich krampfhaft steigerte. Verstimmt schlug er nach dem dritten Acte das Buch zu. Es war seine letzte Vorlesung. Zustände nervöser Abspannung, besonders nach lebhafter Unterhaltung, wurden jetzt häufiger. Zugleich war eine Verschleimung der Brust eingetreten, die den Athem versetzte. Im März verfiel er in eine langwierige Krankheit, welche ihn dem Tode nahe brachte. Die Lebensfunctionen schienen aufgehört zu haben. Einmal erwartete man mit Gewißheit vor Anbruch des Morgens seinen Tod. Aber es war die Krisis; auch jetzt noch rang sich die starke Lebenskraft durch. Man bewachte und pflegte ihn mit unermüdlicher Sorgfalt. Der König schickte einen seiner Leibärzte, den Dr. Grimm, durch den er sich über Tieck's Befinden Bericht abstatten ließ. Sein unermüdlicher Hausarzt war der Regimentsarzt Dr. Hauck. Nach Monate langem Schwanken 136 genas er so weit, als es noch möglich war. Zum Alter gesellte sich die Schwäche der Krankheit; sie war unüberwindlich. Er vermochte ohne Unterstützung nicht mehr zu gehen, und befand sich nur einen Theil des Tages außerhalb des Bettes. Immer später erhob er sich, immer früher verlangte er dahin zurück; zuletzt verließ er es nur in den Mittagsstunden, endlich gar nicht mehr. Sobald er es sich im Bette bequem gemacht hatte, ward er wieder gesprächig und heiter, und leuchtend blitzte die geistige Kraft auf.
Es machte einen trüben Eindruck, den Mann auf den ärmlichsten Raum des Daseins beschränkt und in jeder freien Bewegung schmerzlich gehemmt zu sehen, dem einst das Leben nicht weit genug schien. Doch längst war er im Leiden geübt, und auch mit dieser Weise befreundete er sich. Von der letzten Höhe des Wegs schaute er aus einem andern Gesichtspunkte auf das Leben zurück, das in neuer Beleuchtung wie ein durchmessenes Land, von dem der Wanderer Abschied nimmt, hinter ihm lag. Noch einmal machte er seinen Umkreis durch. Zunächst in der Lectüre; Shakspeare und Ben Jonson, Calderon und Lope, Tasso und Goethe, alle Geister seiner Jugend rief er auf. Er sagte, er habe versuchen wollen, welchen Eindruck das Buch in seiner jetzigen Lage auf ihn machen werde. Auch die Bibel las er von Anfang an durch. Abwechselungen gewährten die neuesten Erscheinungen der Literatur, die er flüchtig durchlief, seine Bücherkataloge und die Zusendungen von Freunden. Auf einem kleinen Tische, neben dem alterthümlichen Himmelbette, an dessen unterm Ende ein Lehnstuhl für den Besuchenden stand, lagen die nächsten Bücher, sein unentbehrlicher Rothstift und das übrige gelehrte Handwerkszeug.
Noch 1850 dictirte er eine freie Uebersetzung von Sheridan's »Nebenbuhlern«. Dann begann er die Revision der 137 Novellen für die neue Gesammtausgabe, deren erste Lieferungen er noch sah. Sein letzter literarischer Plan war, eine Auswahl seiner Briefe zu geben, die er zu diesem Zwecke nochmals durchging. Das Letzte, was er für den Druck schrieb im Spätherbst 1852, war das kurze Vorwort zu den Märchen von Wahl. Der herzliche Zuruf: »So fahre denn wohl, du liebes Büchelchen!« war sein Abschiedswort für die Literatur.
Seit er keine geselligen Kreise mehr bildete, ward die Zahl der Freunde, die sich an seinem Bette versammelten, immer geringer. Die Gegenwart von mehr als etwa Dreien konnte er ohnehin nicht ertragen. Dennoch blieb er mit der Außenwelt in Verbindung. Regelmäßig gegen Abend kam früher sein Bruder, der die letzten Stunden des Tages bei ihm zubrachte. Es war interessant zu hören, wie ihre Erinnerungen sie in Scherz und Ernst auf alte Zeiten zurückleiteten. Auch er war geistvoll, in den verschiedensten Zweigen des Wissens reich an Kenntnissen, sicher in seinem Urtheile, mit den ausgezeichnetsten Personen hatte er Umgang gehabt, seine Unterhaltung war beredt und anziehend. Man mußte es tief bedauern, daß Schwäche des Charakters und ungünstige Umstände ein so reiches Talent nicht hatten zur vollen Entwickelung kommen lassen. Nach schwerer Krankheit war er 1851 gestorben. Auch Tieck's ältester und treuester Freund, F. von Raumer, besuchte ihn täglich. Oft kam er unmittelbar von parlamentarischen oder literarischen Kämpfen, und lebendig und frisch wußte er stets Neues zu berichten, wie es draußen in der Welt hergehe, und manches bewegte Gespräch zu veranlassen. In allen praktischen Dingen war er seit langer Zeit der vertrauteste Rathgeber. Aehnlich stand der Graf York-Wartenburg, ein Freund aus der dresdener Zeit, der in Leben und Dichtung an 138 Allem, was Tieck betraf, den lebhaftesten Antheil nahm; so oft er in Berlin war, besuchte er ihn. Sein Neffe, G. Waagen, Director bei dem Museum, berichtete ihm von Kunstsachen; andere treue Freunde, der Hofrath Teichmann vom Theater, der Professor Werder von Philosophie und Literatur. Auch manche Jüngere fanden sich ein, und Alle brachten herbei, was sie vermochten. So ward er mit Allem, was den Tag beschäftigte, auch mit dessen Launen und Wunderlichkeiten bekannt, und selbst über das eben auftauchende Unwesen des Tischrückens und der Klopfgeister lächelte er noch sarkastisch.
Gern und oft führte er aus, wie er immer reich an Freunden gewesen sei, und wie es zum Wesen der Freundschaft gehöre, mit einem jeden ein besonderes und eigenthümliches Leben zu führen; wie sich das auch auf Gleichgültigeres erstrecke, denn was er dem Einen leicht, fast unwillkürlich mittheile, komme ihm bei der Unterhaltung mit einem Andern nicht in den Sinn. Dann ließ er alle bei sich vorüberziehen, Wackenroder, Novalis, Fr. Schlegel, Solger, und wie er so lange sie alle überlebt habe. In diesem Sinne schrieb er schon 1832 an Raumer: »Ist es nicht die Seligkeit der Freundschaft, daß wir von jedem echten Freunde auf eine ganz eigene, andere Art geliebt werden, wie wir jedem denn auch mit einer eigenthümlichen Liebe entgegenkommen? – – Wie hätte z. B. A. W. Schlegel die Liebe brauchen können, mit welcher ich Novalis zugethan war? Wackenroder hätte mit meinen Solger'schen Geistesergüssen nichts anzufangen gewußt, und Solger hätte sich gewiß zurückgezogen, wäre ihm eine Freundschaft wie zu Wackenroder in mir entgegengetreten. – Je mehr wahre Freunde der Mensch hat, je reicher gestaltet und entwickelt er sich selbst. Nur der selbst reiche Mensch kann auch viele reichbegabte Freunde haben.«
139 Die angenehmste Unterhaltung, vielleicht der letzte Genuß, der ihm geblieben, waren im vertrauten Gespräche seine Erinnerungen. Das ganze Leben rollte sich vor dem Blicke auf, und in der Erzählung jugendlicher Kämpfe und Abenteuer, von seinem ersten Dichten und Ahnen ward er wieder jung. Jene ältern Männer, die er damals gesehen und gekannt hatte, standen in seiner Phantasie als Greise da; er war der Jüngling, er war kühn, unternehmend und hoffnungsvoll. Die Zeiten verschwanden in dieser Entzückung, seine Umgebung vergaß er, und übertrug die Bezeichnung »der alte Herr« auf lebende Personen, welche jünger waren als er. Neben den Freuden der Jugend durchlebte er auch alle Schmerzen und Verluste, die er erlitten, jeden Kummer, den er an und mit Freunden und Verwandten erfahren hatte, und alte Wunden brachen auf. Dann vergrub er sich in verzehrenden Gram und Schwermuth. Indem er der Geschlechter gedachte, welche an ihm vorübergegangen waren, sagte er: »Ich fühle, was die Schrift sagen will, wenn sie die Patriarchen alt und lebenssatt nennt. Man hat endlich auch des Lebens genug. Welche Augenblicke kommen nicht in einsamen und schlaflosen Nächten, wo alle Erfahrungen und Verluste an uns vorübergehen! Ich habe meine nächsten Angehörigen und Freunde verloren. Alles, was ich mit ihnen erlebt habe, wie ihr Verlust, ist mir wie gestern. Man kann wol zu Zeiten heiter sein, aber dergleichen verschmerzt sich nicht.«
Diese gramvollen Erinnerungen, die ihn Tage und Nächte lang beschäftigten, führten ihn wieder auf wohlbekannte allgemeine Betrachtungen. Wie räthselhaft waren nicht Talent, Glück und Unglück im Leben vertheilt! Was wollte das Uebel, das Böse in der Welt, was war Gottes Rathschluß mit ihr? Es waren dieselben Fragen, vor denen er als Jüngling gestanden hatte. Doch zwischen jetzt und damals lag 140 ein langes Leben, sein Ergebniß war eine fromme und demüthige Weisheit. Stets schloß er mit dem Gedanken hingebender Resignation ab. Wohin immer Zweifel und Forschung führen, was er auch erlebt habe, oder die Zukunft ihm bringen möge, er stehe in der Macht und Hand Gottes, was sein unendlicher Rathschluß ihm zutheile, sei das Beste. Seit er diese Hingebung an einen heiligen Willen gewonnen, könne er die ruhige und versöhnte Stimmung nie ganz verlieren, auch wenn sie von Zweifeln angefochten werde, sie sei der Anfang der wahren Weisheit. In diesem Glauben söhnte er sich mit allen Schmerzen aus, die ihm so reichlich zu Theil geworden waren. Es war dieselbe Ansicht, die er 1832 in einem Briefe an Raumer aussprach: »Und warum sollen wir denn unsere Schmerzen nicht ausdulden, sind sie nicht unser kostbarstes Gut? Ohne die echten wäre ja unser Leben nur ein Spiel und die Freude nüchtern.«
Blickte er auf die hellen Seiten des Lebens, auf das, was ihm vor vielen Andern geworden war, wog er Schmerz und Freude, Verlust und Besitz gegeneinander ab, so schloß die Rechnung mit tiefster Demuth und der frommsten Dankbarkeit gegen Gott. Was hatte er gethan, um diese reichen Talente, diese Entzückungen zu verdienen? Warum war es gerade ihm gegeben? »Alles ist Wohlthat und unverdiente Gnade«, sagte er.
Diese Frömmigkeit war stets eine Grundstimmung seines Herzens, aber niemals hatte er sie auf der Zunge getragen, sondern als sein Heiligstes, was er nur den vertrautesten Freunden zeigte, in sich verschlossen. Nach der Feier seines sechzigsten Geburtstags schrieb er an Raumer: »Wesentlich ist mein Leben ein glückliches gewesen. Diese tödtlichen Krankheiten habe ich überstanden, und bin gesunder und kräftiger als Viele meines Alters. Mir ward es 141 vergönnt, das Schöne und Große zu sehen und zu erkennen. Der Enthusiasmus, der mich auf meine Bahn getrieben hat, war kein vorübergehender Jugendrausch, die Vorzeit ist mir verständlich geworden, die Natur mir befreundet, und viele große Geister der Weltgeschichte und Kunst sind mir kein stummes Räthsel. Meine Arbeiten haben auf meine Zeit und edle Gemüther eingewirkt.« Im Jahre 1831 schrieb er an denselben Freund: »So viele Menschen wissen ihres Jammers und der Anklage kein Ende, und ich weiß in Dankbarkeit gegen Gott keine Ausdrücke zu finden, über so unermeßliches Glück, dessen er mich gewürdigt hat; – daß weder Andacht, noch Idee, noch Kunstverständniß, ohne Gnade, ohne jene unmittelbare Vereinigung mit dem Göttlichen, zu dem mein Ich nichts thun kann, in mir aufgeht, und daß ich doch täglich so in verschiedener Gestaltung, die Ewigkeit in dem Unnennbaren in meinem Innern fühle. Wodurch habe ich es verdient, daß die Gnade mich so vor Tausenden, vor Millionen ausgewählt hat? Dies Geheimniß bleibt unerforschlich. Der also, der so viel für mich unwidersprechlich gethan hat, wird mich nicht fallen lassen, wenn ich seine Gnade nicht sündlich misbrauche. Das Innerste, der Geist dessen, was ich gedacht, gearbeitet, geschaut, jede Begeisterung und Entzückung folgt mir nach, oder vielmehr, ich finde sie da wieder, von wo sie mir auf Augenblicke in meine Seele herabstieg.«
Wenn er in den letzten Tagen in einem ähnlichen erhabenen Tone sprach, schien eine höhere Weihe und Entzückung auf ihm zu ruhen; er hatte mit der Erde abgeschlossen. Diese tiefe Ruhe theilte sich allmächtig mit, und wer an seinem Bette saß, fühlte sich auf einer geistigen Höhe, zu der das verworrene Geschrei des gewöhnlichen Lebens nicht mehr hinaufreichte.
142 In solchen Gesprächen kam er häufig auf die Lehren des Christenthums. Er beugte sich vor ihrer Heiligkeit und Einfachheit, ihrem Tiefsinn und ihrer reinigenden Kraft; sie waren ihm das Höchste, was die Welt gesehen. Wenn er am Gemeindeleben keinen Antheil nahm, so hatte das den nächsten Grund in seiner Kränklichkeit. Die dröhnenden Töne der Orgel übten einen Druck auf die Nerven aus, dem er nicht widerstehen konnte. Auch manche Predigt fand er trivial und gewöhnlich. Sein Standpunkt konnte kein anderer sein, als der evangelischer Freiheit, darum erhob er sich über den confessionellen Kampf. Allein aus einer echt protestantischen Ueberzeugung ging früher seine Anerkennung des Katholicismus hervor, welche ihm so oft die Anklage, daß er ein heimlicher Katholik sei, zugezogen hatte. Nichts war unwahrer. Geistige Freiheit und Selbstbestimmung vertheidigte er zu allen Zeiten, und vor allem im Heiligthum religiöser Ueberzeugung und des Glaubens. Die Herrschaft und amtliche Bevormundung durch Priester, die Verketzerung und Verfolgungssucht war ihm als beschränkt und unchristlich in allen Gestalten zuwider. Das Höchste sah er in der christlichen Milde und Duldung, welche allein den Zwiespalt des Lebens thatsächlich auszugleichen vermag.Die Behauptung, Tieck sei zur katholischen Kirche übergetreten, bedarf für diejenigen, welche mit seinem Bildungsgange, dem Wesen seiner Dichtung und seines Charakters vertraut sind, keiner Widerlegung. Da eine solche Kenntniß indeß nur bei Wenigen vorauszusetzen war, so hat jene Behauptung nicht allein früher allgemein Eingang gefunden, sondern auch heute ist sie gedruckt zu lesen; vor noch nicht langer Zeit hat eine östreichische Zeitung darüber die abgeschmacktesten Märchen aufgetischt. Damit das Leben des romantischen Dichters durch dergleichen romanhafte Traditionen oder Erfindungen nicht vollends ein mythisches werde, mögen folgende Punkte hier hervorgehoben werden: 1) Weder Tieck's Anerkennung der katholischen Kirche noch sein Charakter war von der Art, daß ein Uebertritt zu derselben für ihn eine nothwendige Consequenz gewesen wäre. Die Beweise dafür liegen in der vorstehenden Lebensgeschichte. 2) Die Dichtung, welche Tieck 1802 entwarf, und deren Skizze er in der Novelle »Die Sommerreise« mittheilt, ist beweisend für seine Stellung zu beiden Confessionen, selbst in der Zeit, wo er noch mit dem »Octavian« beschäftigt war. Wer so bestimmt das allgemein Religiöse von der historischen katholischen Kirche unterschied, konnte nicht versucht sein, sich in diese aufnehmen zu lassen. 3) Im Jahre 1803 forderte der zum Katholicismus übergetretene Norweger Möller Tieck brieflich aun, seinem Beispiele zu folgen. Dieser Brief findet sich in Tieck's Papieren. 4) Die Briefe, welche aus der Zeit seines Aufenthalts in Rom vorhanden sind, enthalten keine Spur eines etwa erfolgten Uebertritts; an einer Stelle findet er es nöthig, dem Gerüchte zu widersprechen, als sei seine Schwester katholisch geworden. 5) Als er im Herbste 1806 aus Italien zurückkehrte, besuchte er in Heidelberg Voß, und sagte in einem Gespräche zu diesem: »Mein Hauptzweck war Forschung der römisch-katholischen Religion; sie schien mir ein fast erstorbener Baum, aus dessen Wurzel jedoch, wenn sie gepflegt würde, ein neuer Baum steigen könnte, mit ursprünglicher Kraft; ich habe geforscht, und faul war die Wurzel bis zu den äußersten Fäserchen.« So bezeugt Voß selbst, Tieck's Ankläger, in der Schrift: »Bestätigung der Stolberg'schen Umtriebe«, S. 113. Diese Aeußerung steht in vollem Einklange mit Tieck's damaliger Entwickelung; sie spricht den Rückzug vom katholischen Enthusiasmus entschieden aus. Voß war viel zu sehr mit der Aufspürung geheimer, im Dunkeln schleichender Umtriebe beschäftigt, als daß er einer so einfachen Versicherung hätte glauben sollen; sie war nach seinem Sinne ein jesuitisches Manöver, obgleich Tieck sie freiwillig, wie Voß bezeugt, gethan hatte. Voß wußte es besser. Ein »berühmter Baumeister« hat ihm aus Tieck's Munde die Aeußerung erzählt: Wer in der Kunst sich heben wolle zum Ideal, müsse katholisch werden; »eine aus Italien kommende Beobachterin« hatte ihm erzählt, Tieck sei katholisch geworden, und die Kirche und den Prälaten genannt. Daß damals auch Personen, die Tieck näher standen, und seinen Uebertritt zur katholischen Kirche wünschten, davon nichts weiter zu berichten wußten als dasselbe Gerücht, welches man in Heidelberg kannte, ergibt sich aus dem Briefe von Dorothea Schlegel an Karoline Paulus vom 1. Dec. 1805, wo es heißt: »Daß Tieck katholisch geworden sei, haben wir auch durch das Gerücht erfahren, officiell aber noch nichts.« »H. E. G. Paulus und seine Zeit, von Reichlin-Meldegg«, II, 334. Als Tieck bei einem spätern Aufenthalte in Heidelberg Voß seinen Besuch ankündete, mit dem Zusatze, er werde sich rechtfertigen, verbat sich dieser den Besuch. Voß' Haß des Romantischen ging in offene Feindseligkeit auch gegen Tieck über. In dem oben erwähnten Buche, das 1820 erschien, nennt er ihn einen »nicht namenlosen Kompan« der romantischen Schule, »einen redseligen Lobpreiser des Mittelalters«, einen Mann, »der vielleicht noch heute wie Protestant mitgeht«. Aber vielleicht hat Niemand mehr dazu beigetragen, der Meinung, Tieck sei im Geheimen Mitglied der katholischen Kirche, Kraft und Verbreitung zu geben als Voß. 6) Niemals hat Tieck in den mündlichen Mittheilungen, auf denen diese Lebensbeschreibung ruht, die leiseste Andeutung eines Uebertritts gemacht. 7) Er hat auch keine Andeutung der Art gegen den Prediger Sydow gemacht, als er ihn aufforderte, an seinem Grabe zu sprechen. 8) Die katholische Kirche hat ihn als den ihren nicht in Anspruch genommen. Sie würde ihn unfehlbar noch auf dem Todtenbette zurückgefordert haben, wenn er ihr überhaupt jemals angehört hätte, denn sie hat ein gutes Gedächtniß. Somit mag denn die oft wiederholte Behauptung endlich abgethan sein!
Im März 1853 besuchte ihn der Prediger Sydow, den er von Potsdam her kannte. Tieck hatte manche persönliche Berührung mit ihm gehabt, und ihm bei seiner Reise nach England Empfehlungen an einige Würdenträger der dortigen Kirche mitgegeben. Die theologische Richtung desselben war ihm bekannt; er wußte, daß er der Schule Schleiermacher's angehöre. Das Gespräch, welches jetzt geführt wurde, faßte er im Hinblick auf sein vielleicht nahe bevorstehendes Ende auf. »Ich wünsche«, sagte er, »daß Sie an meinem Grabe sprechen, und nicht etwa einer von den Zeloten.« Nachdem 143 ihm die Zusicherung des letzten Dienstes geworden, sprach er bald darauf denselben Wunsch gegen Raumer aus, den er als nächsten Freund verpflichtete, für die Vollziehung seines Willens Sorge zu tragen. Das letzte Wort, das über ihn als Mensch gesagt wurde, sollte ein Wort der Versöhnung sein.
Immer näher rückte der Augenblick des Scheidens, auf den er sich innerlich seit Jahren vorbereitet hatte. War doch sein Leben seit lange nur ein Abschied vom Leben gewesen! Oft wenn er den Freunden die Hand drückte, war es ihm, als sei es zum letzten Male geschehen. Und jetzt schlug die Stunde. In den Wintermonaten hatten die körperlichen Kräfte abgenommen. Die gewohnten Nahrungs- und Stärkungsmittel widerstanden ihm, oder versagten ihre Dienste. Der Austern und Spargel, die er leidenschaftlich gern gegessen hatte, ward er überdrüssig; der leichte Frankenwein, den er zu trinken pflegte, erhitzte und machte ihm Beschwerde. Seit der letzten Krankheit war das, was er zu sich nahm, auf das geringste Maß herabgesunken, und die Appetitlosigkeit stieg bis zum Widerwillen gegen das Essen überhaupt. Da häufig dabei ein Verschlucken, dann lang anhaltender und heftiger Krampfhusten eintrat, war es ihm zur Pein und ein Gegenstand ängstlicher Besorgniß geworden. Den Mangel der Nahrungsmittel ersetzte noch ein gesunder und regelmäßiger Schlaf; nach einer ruhigen Nacht fühlte er sich immer zu heiterm Gespräch aufgelegt.
Es war in der Osterwoche, als sich ähnliche Anzeichen, wie sie der letzten schweren Krankheit vorangegangen waren, einstellten; Beklemmungen, starke Schleimansammlung auf der Brust, Luftlosigkeit, Beschwerde beim Sprechen und steigende Schwäche. Aber das Leben siegte noch für einen Augenblick. Am 29. März dictirte er einen Brief, in dem er die 144 Hoffnung auf literarische Arbeiten aussprach. »Diese Krankheitsstimmung wird vorübergehen«, sagte er darin. Schon am folgenden Tage kehrte sie mit verdoppelter Gewalt zurück. Die krankhaften Beklemmungen stiegen bis zur Gefahr des Erstickens, die Schwäche ging in Ohnmacht über, eine tödtliche Erstarrung trat ein. Als der herbeieilende Arzt einen Aderlaß verordnete, floß das Blut erst nach wiederholten Versuchen an beiden Armen. Mehrere Stunden währte die Todesgefahr. Endlich trat eine Gegenwirkung ein; die sinkenden Kräfte sammelten sich, aber die Hoffnung, das fliehende Leben festzuhalten, war gering.
Noch kämpfte der Frühling mit einem rauhen Nachwinter. Man tröstete sich, die warme Sonne werde ihn befreien von dem Drucke, der auf ihm lastete. Das Bedürfniß geistiger Mittheilung erwachte wieder, und er setzte es durch, daß seinen Freunden der Zutritt verstattet wurde. Er hatte sich in diesen Tagen sehr verändert. Die Athemzüge gingen in einen bald röchelnden, bald pfeifenden Ton über, die sonst so klangvolle Stimme war rauh und heiser, das Gesicht kleiner geworden, ein wehmüthig schmerzlicher Zug um den Mund gab ihm einen fremden Ausdruck. Er versuchte die Unterhaltung in gewohnter Weise zu beginnen; es ging nicht mehr. Nach wenigen Minuten mußte er, was er sonst nie that, das Zeichen zum Aufbruch geben. Er sprach über seinen Zustand, und klagte über schweren und doch häufig unterbrochenen Schlaf. In den Stunden unruhigen Wachens hatte er zu den Büchern gegriffen, die ihn zuletzt beschäftigten. Geistig war er klar wie nur sonst, und gern kehrte er zu frühern Gedanken zurück. Von Lessing sagte er: »Welch' eine Natur! Nie hat einer die Skeptik edler und würdiger verkündet, und doch die Fundamente nicht berührt!« Seinen oft wiederholten, aus tiefem Herzen kommenden 145 Abschiedsworten: »Leben Sie wohl, leben Sie recht wohl!« fühlte man die Todesschauer an. In einigen Unterredungen mit Raumer machte er die letzten irdischen Dinge ab. Seinen Diener hatte er schon früher der Gnade des Königs empfohlen.
Am 25. April Vormittags forderte er heftig zu essen, es war ein letztes Aufflammen der Natur. Dann befahl er die Fenstervorhänge zu schließen, weil er schlafen wolle. Am Abend desselben Tages traf seine Tochter aus Schlesien ein, der man von seinem Zustande Nachricht gegeben hatte. In der folgenden Nacht traten Augenblicke der Betäubung ein, die zwar den angewandten Mitteln wich, aber eine noch schlimmere Wendung der Krankheit fürchten ließ. Am 27. April Nachmittags hatte er eine letzte Unterredung mit seiner Tochter. Er hatte mit der Erde abgeschlossen.
Seit dem Eintritt der Nacht sprach er nicht mehr. Die gereichten Medicamente vermochte er nicht mehr zu nehmen; er verfiel in einen dumpfen, betäubenden Schlaf. Gegen Morgen ward der Athem leiser; es war der Todesschlummer. Ein Viertel nach sechs Uhr am 28. April that er den letzten Athemzug. Sein Schmerzenslager war zur stillen Friedensstätte geworden. Das tiefe Auge, die beredte Lippe hatte sich geschlossen, aber auf dem Gesichte ruhte eine sanfte Verklärung. Es waren wieder die wohlbekannten Züge, mild und groß, die reine hohe Stirn. Es war das edelste Haupt!
So war denn der Traum des Lebens ausgeträumt, der dunkle Vorhang gehoben, vor dem er so oft zweifelnd und bangend, hoffend und glaubend gestanden hatte! Das Räthsel war gelöst. Was den Dichter in heiliger Begeisterung durchzuckte, der Glanz, der in einzelnen Strahlen sein geblendetes Auge getroffen hatte, war ihm ein Unvergängliches 146 geworden, das Geheimniß offenbart, die Schauer und Ahnungen Gottes erfüllt.
»Tieck ist gestorben!« so ging in den nächsten Tagen die Kunde von den Freunden in die weitern Kreise über; sie durchlief die öffentlichen Blätter in Berlin, in allen Gegenden Deutschlands. Lange hatten sie von dem greisen Dichter geschwiegen; sein Tod gab Veranlassung, noch einmal das Wort über ihn zu erheben, der Vergangenheit gehörte er jetzt an. Es war ein Ereigniß in der literarischen Welt, dessen abschließende Bedeutung unverkennbar war. Aus dem Geräusch handwerksmäßiger Tagesarbeit, der Erbitterung religiöser Streitfragen und politischer Kämpfe, und der Besorgniß allgemeiner Krisen wandte sich die Aufmerksamkeit für einen Augenblick zu dem Manne zurück, der in dem Garten der Poesie gelebt hatte. Das Haupt und der Fürst der Romantik, der letzte Dichter aus einer großen Zeit war gestorben! Bei den Aeltern stiegen die vergessenen Erinnerungen einer begeisterten Jugend auf, wo auch sie diesen nun verklungenen Zaubertönen gelauscht hatten!
Am 1. Mai wurde er bestattet. An der Stelle, wo er so oft vor seinem Lesepulte eine lebensvolle Welt geschaffen hatte, stand der einfache Sarg, der die irdischen Reste einschloß. Das grüne, unverwelkliche Lorberreis lag darauf. Er hatte es wohl verdient! Kein prunkendes Leichengefolge hatte sich eingefunden; es handelte sich um keine Kundgebung, keine Parteiansicht. Die Anwesenden hatte Liebe, Freundschaft und Verehrung, oder die Anerkennung des großen Mannes herbeigeführt. In ihrer Mitte stand ein Altersgenosse des Dichters, A. von Humboldt, wie er Zeuge und Mitstreiter im Wettkampfe der größten Geister. Die Vertreter der Wissenschaft und der Künste, der Akademien, der Universität und Gymnasien, des Theaters und der Literatur, und 147 zahlreiche Freunde und Verehrer schlossen den Kreis, in dem sich mancher berühmte Name fand. Der Domchor stimmte den Choral an: »Wenn ich einmal muß scheiden«; der Prediger Sydow sprach in ergreifenden Worten den letzten Scheidegruß, wie sie nur aus dem Verständniß des Geistes und wahrer Verehrung hervorgehen können. Er stellte ihn dar als einen der Hochbegabten und Hervorragenden, die berufen sind, die großen Schlachten des Geistes zu schlagen. Und der Chor sang: »Ja, der Geist spricht, daß sie ruhen von ihrer Arbeit!« und »Christus ist die Auferstehung und das Leben!«
In langem Zuge bewegte sich das Trauergefolge durch die versammelte Menschenmenge, die Friedrichstraße hinab, dem Halleschen Thore zu. Der Wagen des Königs folgte dem Sarge unmittelbar. Auf dem Friedhofe der Dreifaltigkeitskirche, neben dem Grabe Schleiermacher's, nicht fern von seinem Freunde Steffens, war auch für Tieck die letzte Ruhestatt bereitet. Nach langen winterlichen Stürmen schien die Sonne zum ersten Male hell und warm. Sie brachte den Frühling, den klaren Himmel, und ihm die Ruhe. Als der Sarg eingesenkt wurde, und die Erdschollen auf die reichen Blumenkränze niederfielen, stieg oben im blauen Raume die Lerche auf; als die Trauernden den Kirchhof verließen, schlug die Nachtigall im jungen Grün. Die Natur blieb ihrem Dichter treu. Der Frühling hatte ihn an der Schwelle des Lebens empfangen, er gab ihm am Ausgange das letzte Geleit. Am 31. Mai 1773 war er geboren, achtzig Jahre später, am 1. Mai 1853, wurde er bestattet.
Da ruht er draußen aus der Anhöhe vor den Thoren seiner Vaterstadt, die ihn nun nicht wieder verlieren wird. Ueber dem Grabhügel rauscht traulich der Fliederbusch und die Pappel, und über Gebüsch und Felder blickst du hinab 148 zur Stadt, die mit ihren Häusern, Straßen und Thürmen sich ausbreitet unten zu seinen Füßen. Da braust der wogende Strom des Lebens fort, auf dem auch er kämpfte, bis er sanft zum Hafen geleitet wurde.
Sein Leben war ein volles menschliches, wie es nur Wenigen vergönnt ist. Gefühl, Phantasie und Dichterkraft trugen ihn empor, Kunst und Wissenschaft nannte er sein, und das Feuer höchster Begeisterung durchglühte ihn. Aber auch Leiden, Schmerz und die Angst der Verzweiflung, die nach dem Göttlichen sucht, waren ihm in hohem Maße zu Theil geworden. War er an Liebe und Freundschaft reich, so ist ihm auch Neid und Misgunst nicht erspart worden. Engherzigkeit und böser Wille haben ihn oft geschmäht, sie riefen ihm zu, daß er schon vergessen sei. Er ist nicht vergessen! Nur was irdisch an ihm war, deckt der Grabeshügel. Er lebt und wird leben im Garten der Poesie mit jenen großen Geistern, die seine entzückte Rede so oft gefeiert hat! Er lebt und wird leben, solange das Gedächtniß deutscher Dichtung lebt!
In den prophetischen und tiefsinnigen Worten seines sterbenden Dichters hat er auch auf sein Denkmal die Inschrift gesetzt: »Das ist eben das Uebermenschliche in den Schicksalen großer Helden und Volkslehrer und Wohlthäter der Menschen, daß man sie vergißt, wol verkennt; und die tiefe Rührung unsers Herzens, das schönste Gefühl unserer Anbetung aus der Ferne nach tausend Jahren noch, diese Huldigung der Urenkel und spätesten Nachkommen, die jedes Gemüth, welches der Erkenntniß des Großen und Schönen fähig ist, opfert; dieses, was nicht Gold, noch Ehre, noch Lob ist, diese stumme Bewunderung, in der die reinste Verehrung und ein heiliges Mitleid sich wundersam vermischen, ist jener Helden schönster Lohn. So sind sie nicht vergessen, 149 nicht verarmt, vertrieben, gestorben; die Geisterwelt ist ihre Heimat, der Palast, den sie bewohnen. Und jede gute That, jede schöne Regung, der Glaube an den Adel der Menschennatur wächst und blüht in diesem geweihten Boden!«