Rudolf Köpke
Ludwig Tieck
Rudolf Köpke

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9. Phantasus.

Seit dem Abschlusse des »Octavian« war beinah ein Jahrzehnd verflossen. Wie verschieden war es nicht von dem ersten, in dem jene Werke entstanden waren, welchen er seine Stelle unter Deutschlands Dichtern verdankte. War das frühere reich gewesen an Muth und Zuversicht, an Streben und Erfolg, und vor allem an dichterischen Schöpfungen, so war das zweite reich an Zweifeln, Schmerzen und Krankheit, an bittern Erfahrungen und Entsagung. Der Dichter war zum Dulder geworden. Die Poesie, welche ihm sonst tröstend zur Seite gestanden hatte, schien verstummt.

Was hätte auch Großes unter diesen unaufhörlichen Schmerzen entstehen sollen? Bei einzelnen Gedichten, Versuchen und Entwürfen war es geblieben. Mehr in den Werken Anderer als in den eigenen lebte er. Das Studium, welches sich mit gelehrter und literarischer Forschung verband, hielt ihn aufrecht, und gewährte ihm Trost und Zerstreuung. Zwei Bücher gingen daraus hervor. Im Jahre 1811 erschien das »Altenglische Theater«, im folgenden Jahre »Ulrich's von Lichtenstein Frauendienst«. Diese Bearbeitung gab ein Lebensbild aus dem deutschen Mittelalter, und jene Sammlung verwirklichte endlich einen Theil des Plans, den er in frühern Jahren in Göttingen entworfen hatte. Die Uebersetzung älterer englischer Dramen sollte das Verständniß der Zeit Shakspeare's eröffnen; doch nahmen seine Arbeiten jetzt eine andere Stellung ein. In diesen zwanzig Jahren war Schlegel's Uebersetzung des Shakspeare erschienen. Aber umsomehr Veranlassung gab es, in die unbekannteren Gegenden einzuführen. Man sollte den großen Dichter im Zusammenhange mit 347 seinem Lande, mit Vorzeit und Mitwelt auffassen und würdigen lernen. Nur aus der Vergleichung mit dem, was Andere vor und neben ihm gethan, konnte die volle Erkenntniß hervorgehen.

Doch auch Tieck's dichtende Kraft ließ sich nicht verleugnen und noch weniger ertödten. Sie konnte gehemmt, aber nicht gebrochen werden.

Zuerst warf er einen Blick rückwärts, auf die Versuche und Dichtungen seiner Jugend. Sie waren ihm fremd geworden. Mängel und Einseitigkeiten ließen sich nicht verkennen. Vieles würde er jetzt anders aufgefaßt und dargestellt, Anderes gar nicht geschrieben haben. Dennoch schienen ihm manche der minder gelungenen als Zeugnisse seines Lebens des Erhaltens und Sammelns werth.

Schon 1810 hatte er den Plan zu einer solchen Sammlung gemacht, die auch äußerlich die Periode, welche hinter ihm lag, als eine abgeschlossene darstellen sollte. Einen Theil der verständigen Erzählungen, die ohne seinen Namen in den »Straußfedern« erschienen waren, die »Volksmärchen«, was er später im Tone derselben gedichtet, und die humoristisch-satirischen Spiele beabsichtigte er zusammenzustellen. Ausgeschlossen blieben die großen dramatischen Werke. Dagegen sollte eine Anzahl neuer Erzählungen und Dramen hinzukommen, und manches ältere Stück einer vollständigen Umarbeitung unterworfen werden, z. B. »Die sieben Weiber des Blaubart«. Diese Erzählung war bestimmt, den satirischen Stoff, der sich inzwischen angesammelt hatte, aufzunehmen. An den »Gestiefelten Kater« und die »Verkehrte Welt« sollte sich der »Anti-Faust« anschließen, und die Zahl aller Stücke, der Erzählungen und Dramen, auf funfzig gebracht werden. Sie alle wurden durch einen gemeinsamen und novellistischen Rahmen zu einem Ganzen verbunden. In einem 348 Kreise befreundeter Männer und Frauen werden diese Dichtungen vorgetragen. Der lesenden Personen sind sieben, verschieden nach Charakter und Ansichten, Neigung und Empfindungsweise. Dem entsprechen ihre Vorträge und die Art, wie sie an der allgemeinen Unterhaltung Theil nehmen. Indem sie sich gegenseitig bedingen, anziehen und abstoßen, entstehen unter ihnen selbst mannichfache Verhältnisse, die sich allmälig zu einem Ganzen runden. Aus den Gesprächen der Gesellschaft bildet sich eine neue Novelle, welche alle übrigen in sich schließt. Sie knüpfen die einzelnen Stücke aneinander, und ziehen sich als lyrisch begleitende Musik zwischen ihnen hindurch. Sie geben dem Dichter Gelegenheit, seine Ansichten über Kunst, Literatur und Alles, was ihm an Herzen liegt, auszusprechen, und Lebenserfahrungen und Episoden ungezwungen einzuflechten.

Zu den ältern Märchen und Volkssagen fügte er einige neue hinzu, die ähnlich zwar, doch schon ein anderes Element in sich trugen. Er selbst bezeichnete sie später als in seinem neuen Stile geschrieben. Waren die »Elfen« anmuthig und natürlich, so ging der »Liebeszauber« bis zur höchsten Steigerung des Entsetzens. Im »Pokal« verband sich das menschlich Rührende mit dem Wunderbaren.

Den Stoff der beiden letzten Erzählungen verdankte er zum Theil äußern Umständen, die er zur dichterischen Wirkung zu erheben wußte. Als er in München lebte, hatte ein Haus, welches seiner Wohnung gegenüber lag, seine Aufmerksamkeit erregt. Ueber die enge Gasse blickte er in ein Zimmer, an dessen Fenster sich zuweilen ein junges Mädchen mit einem Kinde auf dem Arme zeigte. Sie pflegte mit demselben zu spielen und zu tändeln. Abends wurden die Fensterladen sorglich geschlossen, doch aus den Spalten drangen helle Lichtstreifen hervor. Auch jetzt noch war es 349 möglich, in das Innere des Zimmers zu sehen. Schattenhaft glitt sie am Fenster vorüber, oder saß mit dem Kinde beschäftigt hinter dem Lichte am Tisch. Der Einblick in die enge Häuslichkeit, die sich einfach gab, wie sie war, zog ihn an und beschäftigte ihn. Aus diesen abgerissenen Bildern gestaltete die dichtende Phantasie jene grauenvolle Geschichte, in welcher der Lichtstrahl aus den Fugen der Fensterladen hervorquillt und todtbringend auf den Beobachter fällt, der jenseit der Straße in nächtlicher Stille lauschend steht.

Die zweite Erzählung, »Der Pokal«, war aus einigen Nachrichten entstanden, welche ihm über die frühern Schicksale des Malers Müller zugegangen waren. Zu den Widerwärtigkeiten, welche diesen aus Deutschland vertrieben hatten, sollte die Auflösung eines Liebesverhältnisses gehört haben, in dem er mit einem jungen Mädchen höhern Standes gewesen war. Ränke und Zwischenträgereien hatten darauf hingearbeitet, und Müller's schroffes Wesen und Wunderlichkeit mochte die Folge eines so verbitterten Lebens sein. Einen geringfügigen Vorfall, den er selbst erlebt hatte, verflocht er in den Eingang der Erzählung. Als er eines Sonntags in Florenz bei herrlichem Wetter vor der Thür der Hauptkirche stand, und auf die Menge hinsah, welche über den Platz von verschiedenen Seiten heranströmte, fiel ihm die jugendliche Gestalt einer schönen Frau auf. Niedergeschlagenen Blicks ging sie die Stufen hinan. Doch bevor sie die oberste erreicht hatte, trat sie fehl. Er eilte der Strauchelnden entgegen, um sie zu unterstützen. Erröthend dankte sie und eilte in die Kirche.

»Phantasus« nannte er in einem einleitenden Gedicht diese Sammlung. Es war eine Erinnerung an ein ähnliches, in welchem er schon im »Sternbald« die Phantasie verherrlicht hatte, die Macht, aus der ihm seine Leiden und Freuden kamen.

350 Als der erste Band im Jahre 1812 erschien, erweckten die Personen des dialogischen Zwischenspiels bei Einigen mehr Theilnahme als die Erzählungen. Bei Bekannten und Unbekannten kehrte die Frage wieder, ob diese Charaktere aus dem Leben genommen seien. Wen stellen sie vor? Ist nicht Dieser oder Jener dahinter zu suchen? Schon wollten Manche herausgefunden haben, wer gemeint sei; Andere glaubten sich selbst wiederzuerkennen. Hatte er bei diesen Charakteristiken eine bestimmte Absicht, so war es die, die verschiedenen Seiten seiner Eigenthümlichkeit auszusprechen. Er selbst war der krankhaft reizbare Phantast, der Humorist, der Freund deutscher Poesie und Alterthums, der Enthusiast für Theater und dramatische Kunst. Daher hatte er eine Reihe einzelner Episoden aus seinem Leben eingeschaltet, und den Erzählern als Selbstbekenntnisse in den Mund gelegt. Als er endlich den Fragenden einige Aufschlüsse darüber gab, wie er es gemeint habe, waren sie wenig zufrieden. Hatten sie vorher Rechenschaft von ihm gefordert, warum er sie dargestellt habe, so hätten sie nun eine Geringschätzung darin finden mögen, daß er diese Absicht überhaupt nicht gehabt habe.

Die begonnene Sichtung der ältern Gedichte führte zu dem Plane, auch die größern einer nachträglichen Kritik zu unterwerfen. Eine zweite Ausgabe des »Lovell« erschien im folgenden Jahre. Nahe lag die Frage, ob auch der »Zerbino« einer Erneuerung bedürfe. Die Zustände der literarischen Welt, welche damals Bedeutung gehabt hatten, waren vorübergegangen, und die alten Thorheiten fast verschollen. Es konnte gerathen scheinen, das ganze Gedicht in die Gegenwart zu übersetzen. Auch hier gab es reichen Stoff. Aber das würde eine völlige Umgestaltung erfordert haben; das Gedicht selbst wäre ein anderes geworden. Herausgerissen 351 aus dem natürlichen Boden, in dem es gewachsen war, hätte es Ursprünglichkeit und historischen Charakter verloren. Daher schien es besser es bestehen zu lassen, wenn auch nicht ohne Commentar verständlich, doch eigenthümlich. So war es ein Zeugniß der Zeit, in welcher es entstand.



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