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Jedes Jahr bringt neue Schriften, die es unternehmen, die reichste Zeit unserer dichterischen Literatur kritisch aufzuklären oder übersichtlich darzustellen, und jedes Jahr lichtet stärker die Reihen ihrer Theilnehmer und Zeugen. Der Bücher, welche über die neuere deutsche Poesie und ihre großen Charaktere reden wollen, sind immer mehr, der Menschen, welche aus eigener Anschauung davon reden können, immer weniger geworden. In den kritischen Gesammtausgaben, Varianten und Nachlesen, in den Erklärungen und Denkwürdigkeiten der Dichter hat sich bereits ein gelehrter Niederschlag jener vollen Bewegung angesammelt. Das lebendige Heute ist zum stillen Gestern geworden, von dem wir erzählen, damit der kommende Morgen, über dem eine andere Sonne scheint, sich seiner erinnern möge. Das sind die Zeichen der Zeit.
Die letzten Jahre haben wiederum zwei Männer mit sich genommen, welche Führer der romantischen Periode VIII gewesen sind. Im Jahre 1853 starb Tieck, 1854 Schelling. Ihr Leben liegt abgeschlossen vor uns, und für den Dichter wie für den Philosophen der Natur beginnt die Geschichte. Dieses Buch ist dem Andenken Tieck's gewidmet.
Ludwig Tieck gehört zu den hervorragendsten Erscheinungen unserer neuern Literatur, der eigenthümliche und selbständige Dichter neben und nach Goethe und Schiller, der Zeitgenosse und Freund großer und bedeutender Männer, der Mitstreiter merkwürdiger Kämpfe, der Zeuge aller folgereichen Wandlungen, welche der deutsche Geist seit dem Ausgange des vorigen Jahrhunderts erfahren hat. Als er starb, blickte er auf sechzig Jahre literarischer Thätigkeit zurück. Wie Klopstock und Wieland von Bodmer bis auf Tieck und Heinrich von Kleist, wie Goethe von Gottsched und Klopstock bis auf Heine und Börne, so reichte sein Leben von dem Jahre, wo der »Götz von Berlichingen« erschien bis auf Hebbel und Redwitz herab. Er war ein seltener und eigen gearteter Mensch, dessen Wesen man nicht besser bezeichnen kann, als mit dem Worte, welches er selbst oft anwandte: er hatte nicht nur gesehen, gehört, geschrieben und gedichtet, er hatte gelebt, in sich erlebt. Das Leben eines solchen Mannes erscheint merkwürdig genug, um auch die Erinnerungen zu sammeln, welche nicht unmittelbar in seinen Werken liegen.
Diese Ausgabe hat sich das folgende Lebensbild gestellt. Freilich sind ihm sehr fühlbare Schranken gesetzt, innerhalb deren es sich halten muß. Nicht etwa durch das, was ich von meiner Kenntniß Tieck's zurückzuhalten hätte, dessen ist nur wenig, und dieses Wenige nicht eben erheblich; vielmehr sind es die Lücken dieser IX Kenntniß selbst, welche sich bemerklich machen. Die Grundlage der gegebenen Darstellung ist eine Reihe gelegentlicher mündlicher Mittheilungen Tieck's, auf deren Vervollständigung aus andern Quellen, wenigstens für die frühern Abschnitte seines Lebens, nicht mehr zu rechnen ist. Es lebt Niemand mehr, der von Tieck's Jugend, seinem Bildungsgange und ersten Eintritt in die Literatur aus eigener Erfahrung Kunde hätte; die Wenigen, welche von der Zeit der romantischen Dichtungen zu sagen wissen, lassen sich mit Namen aufzählen; in den Denkwürdigkeiten älterer Zeitgenossen erscheint er nur vorübergehend, und auch diese Andeutungen reichen kaum über den Aufenthalt in Jena zurück. Einige Mal erwähnt seiner Goethe in Briefen, Jahresheften, Kritiken und Gesprächen, dann Schiller, Fichte, F. Schlegel, Gries, Körner, Philipp Otto Runge, Solger, dieser allerdings ausführlich, Bettina in ihren Briefen, Steffens, Laun, Oehlenschläger, der Schauspieler Lange, Karl Förster, Carus, Holtei, Strombeck und Immermann in ihren Denkwürdigkeiten und Tagebüchern. Die letzten Fünf kannten ihn in der dresdener Zeit, die Andern begegneten ihm früher, doch fast alle erst in dem Lebensabschnitte zwischen Jena und Dresden. Zahlreicher sind die Berichte literarischer Touristen über einzelne Besuche bei Tieck und oberflächliche Berührungen mit ihm; sie gehören sämmtlich der spätern Zeit an. Nach diesen Angaben ein Bild zu entwerfen, ist nicht möglich; wer es dennoch unternehmen wollte, würde kaum einen matten Umriß erhalten.
Was Tieck's Freunde so oft mit Bedauern ausgesprochen haben, kann auch hier nur wiederholt werden: er selbst hat keine Denkwürdigkeiten hinterlassen. Und X warum gerade er nicht, in einer Zeit, die so manches Buch dieser Art aufzuweisen hat, in dem Vieles breit erzählt wird, was kaum des Erlebens, geschweige denn des Andenkens werth war? Warum er nicht, bei seiner Schärfe und Feinheit der Beobachtung, bei dieser Meisterschaft der Charakteristik und Erzählung? Die Antwort auf diese Frage liegt in seiner eigensten Natur, in der Verkettung von Umständen, die manche seiner liebsten Pläne über die ersten Versuche der Ausführung nicht hinauskommen ließ. Er war durchaus frei von der eiteln Absichtlichkeit, die von Allem, was sie thut, auch von dem Kleinsten, der Welt glaubt Rechenschaft schuldig zu sein, die spricht, um von sich zu schreiben, und schreibt, um von sich sprechen zu machen. Solange er noch dichterisch schuf, und mit jeder neuen Erfahrung immer neue Gestalten in ihm aufstiegen, solange er mit zahlreichen Freunden in ununterbrochenem geistigen Austausche stand, war ihm die Gegenwart viel zu gehaltvoll und wichtig, als daß er von der Vergangenheit hätte ausführlich sprechen sollen. Dafür hatte er noch keine Ruhe gewonnen. Aeltere Freunde bezeugen, daß er in der frühern Zeit in Dresden nur selten, und zufälliger Veranlassung oder dringender Aufforderung folgend, auf seine jüngern Jahre zurückgekommen sei, und auch dann meistens nur kurz, ohne in genauere Schilderungen einzugehen. Er war darin vielleicht zu sorglos.
Dennoch konnten Anregungen, über einzelne Lebensabschnitte zu sprechen, nicht ausbleiben. Die nächste lag in seiner Dichtung selbst. Die Novellen enthielten überall Erlebtes, sie wurden mitunter zu persönlichen Bekenntnissen; die Gespräche im »Phantasus«, ein XI Theil der lyrischen Gedichte waren reich an einzelnen Zügen aus seinem Leben. Aber man mußte damit bereits vertraut sein, um die Denkwürdigkeiten in dieser Gestalt zu erkennen. Auch der Briefwechsel mit Solger, den er mit dessen Nachlaß herausgegeben hatte, enthielt manches merkwürdige Zeugniß über seinen Bildungsgang. Endlich begann er seine Schriften zu sammeln, eine Durchsicht derselben und ein Rückblick auf die Vergangenheit ward nothwendig. Zu manchen hatte er sich öffentlich nie bekannt, andere waren verschollen, andere gemisdeutet worden. Von einer Gesammtausgabe der Dichtungen ließ sich die Pflicht über ihre Entstehung, d. h. über einzelne wichtige Punkte seines Lebens Erläuterungen zu geben, kaum trennen. In den Jahren 1828 und 1829 schrieb er daher die Einleitungen zu dem ersten, sechsten und elften Bande der Schriften, die auch in dieser fragmentarischen Form für Theile seiner Denkwürdigkeiten gelten können. Nur sind sie mehr literarisch als rein historisch, sie schließen sich der aufgestellten Reihenfolge der Schriften an, welche nicht die chronologische ist, man bewegt sich daher mehr im Kreise, als daß man auf der geraden Linie der Lebensentwickelung fortschritte.
Nachdem Tieck das sechzigste Jahr zurückgelegt hatte, scheint ihm der Gedanke, sein Leben zum Gegenstande besonderer Darstellung zu machen, zum ersten Male näher getreten zu sein. Die früheste Andeutung findet sich 1838 in einem Briefe an seinen Bruder, den er auffordert, zu diesem Zwecke die Erinnerungen ihrer Kindheit und der spätern Jahre zu sammeln, und ihm die darauf bezüglichen Notizen zu übersenden. Die schiefen und einseitigen Urtheile, die er zu allen Zeiten erfahren hatte, die XII böswilligen Verdächtigungen, die abgeschmackten Märchen, die nicht ohne Erfolg über ihn in Umlauf gebracht worden waren, wollte er durch eine einfache Darstellung des Thatsächlichen widerlegen. Leider kam es nicht dazu, nicht einmal zu einer vorläufigen Sammlung des Stoffs für eine spätere Bearbeitung. Die ihm auch damals noch näherstehende dichterische Production, häusliches Unglück, Krankheit, der Wechsel des Wohnsitzes und altgewohnter Verhältnisse, Mangel an Entschluß traten hemmend entgegen. Dennoch lag ihm dieser Plan bis in die letzten Jahre am Herzen. Immer noch hoffte er auf den Augenblick, wo er sich kräftiger fühlen werde, und zur Ausführung schreiten könne. Früher als dieser Augenblick ist der Tod gekommen.
Zum Glück reicht Tieck's Wort über das Grab hinaus. Er hinterließ ein Vermächtniß, das wenigstens einen theilweisen Ersatz gewährt. Mag dieser immerhin dürftig und mangelhaft erscheinen im Vergleiche mit dem, was Tieck selbst hätte geben können; er wird beachtenswerth, wenn man darin die Reste eines unwiderbringlich verlorenen Reichthums sieht.
Hier ist der Punkt, wo die eigenthümliche Beschaffenheit des Stoffs, der in diesem Buche niedergelegt ist, von meinen persönlichen Beziehungen zu Tieck zu reden gebietet.
Im Anfange des Mai 1849 hatte ich das Glück, ihn zum ersten Male zu sehen. Mit allgemeiner Spannung blickte man in diesen Tagen auf den Ausgang des revolutionären Kampfes in Dresden; die gemeinsame Theilnahme für dortige Zustände hatte mich zu ihm geführt. Die außerordentlichen Verhältnisse erleichterten die Bekanntschaft; man hatte damals das Bedürfniß, über XIII gewisse Punkte, namentlich über die politischen Tagesfragen sich in der Kürze zu verständigen, und so erfolgte auch hier die Annäherung leicht. Mehr noch that Tieck's wohlwollendes Entgegenkommen. Ich habe erfahren, was Alle erfahren haben, die ihm ohne vorgefaßte Meinung und ohne Ansprüche genaht sind. Seine edle Natürlichkeit und Unbefangenheit, die vollkommene Freiheit von Allem, was falscher Würde ähnlich sah, oder der Absicht, ein Uebergewicht fühlbar zu machen, seine Wahrheit und reine Güte, der einfache und geistig befreiende Ton seines Gesprächs, Alles trug dazu bei, die Fesseln der Zurückhaltung, durch die der Unbekannte dem berühmten Manne gegenüber sich leicht gehemmt fühlt, bald zu lösen. Aus den ersten Berührungen erwuchs ein Verkehr, der bis zu seinem Tode ohne Unterbrechung fortgesetzt wurde, der mich vier Jahre hindurch wöchentlich mehrere Male, zuletzt fast täglich, oft Stunden lang in sein Haus führte. Als die politische Spannung sich gelegt hatte, traten in der Unterhaltung immer mehr die Gedanken und Gegenstände hervor, welche die schönste Zeit seines Lebens erfüllt hatten, und auch jetzt noch seine wärmste Theilnahme besaßen. Es waren Dichtung und Literatur, die heimische wie die fremde, die vergangene wie die gegenwärtige, das Verständniß und die Kritik der Dichter und ihrer Werke, die Kunst, die Wissenschaft, und alle große Fragen, die vom Tage nicht abhängen, und stets neu erscheinen, weil sie uralt sind.
Bald nahmen diese Gespräche noch einen andern Charakter an. Unbemerkt gewannen sie die Farbe historischer Erinnerungen, deren Mittelpunkt Tieck selbst war. Zufällige Veranlassungen, naheliegende Erörterungen der XIV Novellen oder der ältern Dichtungen leiteten zuerst darauf hin, einzelne Züge in leichten Andeutungen oder humoristischen Anekdoten mitzutheilen. Allmälig gestalteten sich diese Umrisse zu festern Bildern, besonders seit er die tödtliche Krankheit im Frühjahr 1851 noch einmal überwunden hatte. Jetzt wurden ihm diese Rückblicke auf die frühere Zeit fast zum Bedürfniß, und die mündliche Erzählung vor Zuhörern, von deren aufrichtigster Theilnahme er überzeugt sein konnte, ersetzte seinem Gefühle wenigstens entfernt, was ihm eine Aufzeichnung der Erinnerungen gewesen wäre. Absichtslos, wie Stimmung und Gedächtniß den Stoff zuführten, hatte er zuerst einzelne Punkte aus seinem Leben besprochen, nun begann er auf Ergänzung und Abrundung, und nach manchen Seiten hin auf eine gewisse Vollständigkeit zu denken. Endlich hatte er in mannichfach verschlungenen Episoden eine Reihe von Bildern aus seiner Jugendzeit, seiner Aeltern und Lehrer, Gefährten und Freunde, seiner innern Kämpfe, seiner Verbindungen mit den Dichtern des vorigen und des gegenwärtigen Jahrhunderts gegeben. Es waren gesprochene Novellen, ein unendlich reiches Leben entfaltete sich in ihnen, und wie überall bei ihm paarte sich auch hier der anmuthig spielende Scherz mit dem tiefen Ernste.
Wer den Zauber der Rede Tieck's jemals selbst erfahren hat, wird es erklärlich finden, daß im Genusse des Augenblicks die schriftliche Aufzeichnung dieser Gespräche nicht der nächste Gedanke war. Doch gemahnt durch die wiederkehrende Todesgefahr, entschloß ich mich noch zu rechter Zeit zu dem schweren Versuche, der jetzt zur historischen Pflicht ward. Während der letzten zwei Lebensjahre Tieck's habe ich alle wichtigen XV Unterhaltungen mit ihm aufgezeichnet, und es wird kaum einen bedeutendern Punkt geben, der in dieser Zeit nicht wiederholt zur Sprache gekommen wäre. Ich darf behaupten, daß durch den spätern Beginn der Aufzeichnung am Stoff nichts Wesentliches verloren gegangen ist. Auf Tieck's Erzählungen selbst hat sie keinen Einfluß gehabt, er wußte nichts davon, der Gedanke einer künftigen Veröffentlichung dieser Gespräche lag ihm bis kurze Zeit vor seinem Tode fern. Sie waren durchaus unbefangen; von einer Absicht, einem bewußten Vorbereiten oder Zurechtmachen ist nie die Rede gewesen. Aber darum entbehren diese Erinnerungen nicht der Autorisation. Als ich mir im April 1853 die wachsende Todesgefahr nicht länger verhehlen konnte, ward es Pflicht, ihm eine vollständige Mittheilung über die niedergeschriebenen Notizen zu machen. Ich sagte ihm, daß ich diese kleinsten Theile seines Lebens aufgelesen und gesammelt hätte. Lächelnd erwiderte er: »Das freut mich zu hören. Sie sind ein wahrhafter Mann, und werden es so wiedererzählen, wie ich es Ihnen gesagt habe. Es werden dadurch viele Lügen widerlegt werden, die über mich in Umlauf gekommen sind.« In diesen Worten liegt die Berechtigung der folgenden Darstellung. Ich habe sie als einen letzten Willen, als ein Vermächtniß angesehen, dessen Vollziehung für mich nicht allein zur Pflicht der Pietät, sondern auch der historischen Gerechtigkeit ward. So faßte er es selbst auf, und schloß die Augen in der Zuversicht, daß diese Erinnerungen ein Bild seines Lebens geben würden, wenn er selbst auch über diesen letzten Wunsch hinweggehoben sei.
Schon früher hatte Tieck die mündlichen Erzählungen in anderer Weise ergänzt. Lange beschäftigte ihn der Gedanke, XVI eine Auswahl des reichhaltigen Briefwechsels herauszugeben, in dem er während eines langen literarischen Lebens mit den verschiedensten Männern gestanden hatte. Diese Sammlung, soweit sie ihn persönlich betrifft, beginnt mit dem Jahre 1792 und enthält der großen Mehrzahl nach Briefe, die an ihn gerichtet sind. In chronologischer Reihenfolge theilte er mir die einzelnen Bände mit zur Durchsicht und vorläufigen Bezeichnung des etwa Auszuwählenden. An jeden wichtigen Brief knüpften sich Erläuterungen und häufig neue Erzählungen. Dies war in den Wintermonaten von 1852 auf 1853. Als ich den letzten Band zurückzugeben kam, war er wenige Stunden zuvor gestorben.
So ist es zu verstehen, wenn ich dieses Buch »Erinnerungen aus dem Leben des Dichters nach dessen mündlichen und schriftlichen Mittheilungen« genannt habe.
Tieck's Erzählungen waren nicht vollständig, aber durchaus glaubwürdig. Nicht von jedem Lebensabschnitte sprach er mit gleicher Ausführlichkeit und gleichem Behagen. Mit besonderer Vorliebe verweilte er bei dem Knaben- und Jünglingsalter, in allgemeinern Zügen stellte er die spätere Zeit hin. Dort war Alles neu, frisch, glänzend, er selbst noch ein Werdender, den auch der Kampf förderte; hier hatte das Leben eine festere Gestalt gewonnen, und zwanzig Jahre gleichmäßigen Daseins erschienen in der Erinnerung wie der ruhige Fluß mit sanften Ufern, den man still hinabgefahren ist. Manches, was ihn zu tief bewegte, erwähnte er selten, und dann nur mit wenigen Worten, so den Tod seiner Tochter Dorothea; Anderes mochte seinem Gedächtnisse ganz entschwunden sein. Einfach, arglos und edel erscheint er in XVII diesen Erinnerungen; wie über seine Dichtungen, urtheilte er über sich und sein Leben durchaus unbefangen. Welchen Grund hätte er auch haben können vor Zuhörern, deren Beifall oder Misbilligung für ihn eine geringe Bedeutung haben mußte, am Rande des Grabes, in dieser absichtslosen Selbstbetrachtung sich anders darzustellen, als er im Augenblicke sich wirklich erschien? Im Einzelnen blieben sich die Grundzüge der Erzählungen immer gleich, so oft er auch auf denselben Punkt zurückkommen mochte. Führte er Personen redend ein, so geschah es in den Wiederholungen stets mit denselben Worten. Manche kleine Züge finden in den ebenso absichtlosen Aufzeichnungen Anderer eine unerwartete Bestätigung. Von dieser Seite könnte nur der übertriebene Zweifel die historische Treue und Aufrichtigkeit in Frage stellen.
Doch Tieck selbst kannte das eigenthümliche Wesen der historischen Ueberlieferung sehr wohl. Von ihr sagt er in der Einleitung zu seinem Shakspeare-Buche (»Ludwig Tieck's nachgelassene Schriften«, II, 119): »Wenn wir uns nur sichere Rechenschaft geben könnten, daß unser Standpunkt selbst nicht viel bestimmt und richtet, und doch aus unserm Auge die Perspective der Linien und der Luft sich bildet.« Konnte der Greis die Zustände seines jugendlichen Lebens so wiedergeben, wie sie wirklich waren, oder vielmehr nur so, wie sie ihm nach vielen dazwischenliegenden Wandlungen erschienen, wie er sie aus seinem jetzigen Standpunkte sah? Es ist dieselbe Frage, welche Goethe ebenso tiefsinnig als vorsichtig beantwortete, wenn er auf dem Titel seines Buchs »Aus meinem Leben« den Zusatz machte: »Wahrheit und Dichtung.« Schwerlich wird der Mensch sich und die Dinge, bei denen er betheiligt ist, XVIII durch ein vollkommen reines Medium zu sehen vermögen; bald wird es zu hell, bald zu dunkel gefärbt sein. Zuerst betrachtet er sie mit Leidenschaft, nachher versteht er seine eigene Leidenschaft nicht mehr. Glücklich, wer im hohen Alter gehaltvolle Erlebnisse mit einem so treuen, durch Lust und Schmerz befestigten Gedächtnisse, mit so viel jugendlichem Feuer und Theilnahme, mit so überzeugender Gegenständlichkeit darzustellen vermag, wie es Tieck in diesen Gesprächen gethan.
Für den Nacherzähler ist es unendlich schwer, solche Mittheilungen ohne den geringsten Verlust an Zuverlässigkeit, doch mit gleicher Frische und Lebendigkeit wiederzugeben. Das Letzte wird kaum Jemand verlangen. Um wie Tieck, wenn auch aus seinem Munde zu erzählen, müßte man Tieck selbst sein. Schon das wörtlich treue Aufzeichnen eines Gesprächs, das vielleicht bei einem Bücherkatalog anfing, und bei der Resignation aufhörte, die ihm der Anfang der Weisheit war, erschien in hohem Grade schwierig. War es doch bisweilen schon, wenn die Hausthür sich schloß, kaum mehr möglich, den Faden wiederaufzufinden, der durch diese verschlungenen Gänge geführt hatte. Zwar hatte sich mir alles Wichtige, oft die Worte selbst wol eingeprägt, aber bei dieser Fülle mußte auch das treueste und willigste Gedächtniß eine gewisse Einbuße erleiden. Und wie sollte dieser Stoff benutzt werden? An Vorbildern fehlte es nicht. Am nächsten lag es, an »Eckermann's Gespräche mit Goethe« zu denken. Aber diese Gespräche mit Tieck waren zum großen Theil historische Erinnerungen. Sollte ich jede Unterhaltung unter ihrem Tagesdatum mit dialogischer Treue wiederzugeben versuchen, eine an die andere reihen, um so eine dennoch nur zweifelhafte XIX Authentie herzustellen? Ich konnte mich nicht dazu entschließen. Ich hätte im Dialog als zweite Person neben Tieck treten, ich hätte eine ungeordnete Masse biographischen Materials geben müssen, in dem der Erzähler chronologisch vorwärts und rückwärts ging, Episoden einschaltete, sich häufig unterbrach, durch literarische Kritiken, durch humoristische oder tiefsinnige Beobachtungen, die an das Nächste wie an das Fernste anknüpften. Durch den Geist, mit dem der Sprechende Alles zu durchhauchen wußte, durch Ton und Blick, durch die Dramatik des Vortrags erhielt dieses scheinbar wirre Gewebe einen unendlichen Reiz, um so reizender, je mannichfaltiger es sich verschlang. Wie schwerfällig, wie breit und dennoch dürftig würde sich dies Alles in dem geschriebenen Worte des Nacherzählers dargestellt haben! Es wäre gewesen, was die kalte, harte, farblose Type ist im Vergleiche mit dem bewegten Leben. Man würde mir schließlich gesagt haben, es sei ein schätzbares Material, dessen Verarbeitung zu einem lesbaren Buche eine geschicktere Hand übernehmen müsse. Der Bearbeiter würde sich bald gefunden haben, wahrscheinlich ein solcher, der den vollen Eindruck der Persönlichkeit, wie ich ihn empfangen hatte, nicht besaß, der Tieck vielleicht gar nicht einmal gekannt hätte. Endlich eine Sonderung der Gespräche nach Stoffen wäre einer halben Verarbeitung gleichgekommen, es wäre auch damit nichts gewonnen gewesen.
Es blieb somit nur Eines übrig, den Weg zu gehen, den ich gegangen bin, erfüllt von der lebendigen und dankbaren Erinnerung an den befreundeten Dichter, geleitet von meinen Aufzeichnungen, die Bearbeitung des Stoffs selbst zu übernehmen. Dies empfahl sich umsomehr, da mir außer den mündlichen Mittheilungen Tieck's XX noch andere Quellen zu Gebote standen. Ich kannte nach seinen eigenen Angaben die biographischen Bestandtheile der Dichtungen; aus den Briefen ergaben sich manche werthvolle und charakteristische Züge, und zugleich gestaltete sich aus ihnen ein chronologisches Fachwerk, in welches sich die einzelnen Erzählungen mitunter trefflich einfügten; in den letzten vier Jahren seines Lebens hatte ich ihn selbst oft genug gesehen und beobachtet, um seine Eigenthümlichkeit kennen zu lernen. Endlich über manche frühere und spätere Momente war ich im Besitze der glaubwürdigsten Zeugnisse und Notizen, die ich seinen Freunden und den Personen verdankte, die Jahre lang zu seiner nächsten Umgebung gehört hatten. Wenn ich hier von der Unterstützung und Förderung spreche, welche ich durch Andere erfahren, habe ich vor Allen Friedrich von Raumer auf das dankbarste zu nennen, der in der warmen Theilnahme an diesen Erinnerungen die treue Freundschaft, die ihn mit dem Dichter im Leben verband, auch nach dessen Tode bewährt hat. Ihm verdanke ich die Benutzung seines höchst gehaltreichen Briefwechsels mit Tieck, eine Anzahl Briefe Tieck's an F. Schlegel, mündliche Ueberlieferungen und Berichtigungen, Rath und Hülfe aller Art, wie sie nur der Freund und historische Augenzeuge zu geben vermag. Für Anderes bin ich einem zweiten ältern Freunde Tieck's, F. von der Hagen, seinem Neffen G. Waagen, und seinen spätern Freunden Loebell und Carus dankbar verpflichtet. Den beiden Letzten doppelt, da sie mir verstattet haben, ihre Mittheilungen meinem Buche unmittelbar beizufügen. Auch aus diesen Quellen ergab sich eine nicht unbeträchtliche Masse des Stoffs.
Bei der Bearbeitung war es zunächst gerathen, die XXI Gespräche allgemeinen, nicht biographischen Inhalts auszusondern und in einem eigenen Abschnitte zu sammeln. Hier habe ich Tieck's Worte getreu wiedergegeben, wie ich sie aufgezeichnet und im Gedächtnisse bewahrte. Ich glaube nicht, daß sie durch die Umwandlung des Dialogs in den Monolog, die sich aus dem eingenommenen Standpunkte mit einer gewissen Nothwendigkeit ergab, irgendwie erheblich gelitten haben. Hoffentlich wird das sechste Buch den Reichthum dieser Unterhaltungen wenigstens ahnen lassen. Die Jugendbilder im ersten Buche ruhen ausschließlich auf Tieck's Erzählungen. Diese bilden auch den Hauptbestandtheil des zweiten, doch kommen hier manche Ergänzungen aus den Briefen hinzu, welche bei der fragmentarischen Beschaffenheit der Erzählungen aus der spätern Zeit im dritten und vierten Buche besonders wichtig wurden. Das fünfte hat sich vorzugsweise aus mündlicher Ueberlieferung und eigener Anschauung ergeben.
Die Darstellung im Einzelnen war durch die verschiedene Natur des Stoffs bedingt. Wenn das eng begrenzte, doch tief bewegte Jugendleben, und das berliner Kleinleben jener Zeit interessiren sollte, so mußte ich es mit vollstem Eingehen, so weit es mir erinnerlich war, zu schildern versuchen, während die spätere Zeit weder nach dem vorliegenden Stoffe, noch ihrem Charakter nach ein gleiches Verfahren erlaubte. Daher die fast novellistische Haltung der ersten, die literarhistorische der letzten Bücher. Ich bemerke ausdrücklich, in jene Bilder ist kein Zug aufgenommen, der nicht von Tieck selbst angedeutet worden wäre; das gilt namentlich durchgehend von den geschilderten Seelenzuständen. Man halte sie nicht für psychologisirende Phantasiegemälde; gerade in dieser Weise pflegte er seine XXII frühesten innern Kämpfe zu schildern. Spätere Darstellungen ähnlicher Zustände sind aus Briefen geschöpft. Wo Personen redend eingeführt sind, gehören ihre Worte Tieck an, ebenso die bisweilen vorkommenden Urtheile über mehr oder minder bekannte Charaktere seiner Jugendzeit. Dagegen die Verbindung des Einzelnen, die chronologische Gruppirung zerstreuter Bestandtheile, die oft nicht leicht war, weil Tieck bei der freien Bewegung des Gesprächs an ein chronologisches Aufreihen am wenigsten dachte, die Sammlung unter leitende Gesichtspunkte, die Herstellung eines historischen Charakterbildes, welches an einigen Stellen in einen fernen Hintergrund blicken läßt und sich zum Zeitbilde erweitert, dies Alles gehört mir ausschließlich an. Also nicht Tieck's Denkwürdigkeiten, seine Lebensgeschichte gebe ich; ich gebe sie unter der Verantwortlichkeit, wie sie überall dem Geschichtschreiber zufällt, der einen überlieferten Stoff darzustellen versucht. Bei der abweichenden Natur des meinen, schien diese Auseinandersetzung unerläßlich.
Noch ein Wort habe ich zu sagen. Wenn ich eine Charakteristik Tieck's zu entwerfen versuchte, konnte ich ihn nur so darstellen, wie er mir in einem mehrjährigen Umgange als Mensch, und in seinen Werken als Dichter erschienen war, deren höchste Werthschätzung seit frühen Jahren bei mir feststand, lange vorher, ehe ich eine Ahnung davon hatte, ihm jemals persönlich nahe zu treten. Diese Lebensgeschichte ist somit unbeabsichtigt zu einer literarhistorischen Würdigung und Vertheidigung Tieck's geworden. »Oder vielmehr zu einer Verherrlichung«, werden Andere hinzusetzen. Ich habe nichts dawider, denn ich bin mir bewußt, XXIII meinen Stoff gegeben zu haben, wie ich ihn fand und wie er sich mir darstellte. Immerhin aber wird es gut sein, auch einmal den andern Theil zu hören, nachdem so manches ungerechte und verkehrte Urtheil im Namen der Kritik und der historischen Gerechtigkeit mit der Miene der Unfehlbarkeit über ihn gefällt worden ist. Seine Beurtheiler sind in vielen Fällen Verurtheiler gewesen. Es ist nicht zu viel behauptet, kein anderer großer deutscher Dichter ist härter, undankbarer behandelt worden. Es wäre wol der Mühe werth, eine Galerie der Kritiken zu sammeln, die von der »Allgemeinen deutschen Bibliothek« bis auf die »Halleschen Jahrbücher« über ihn erschienen sind, und bis auf den Augenblick, wo die Feuilletonisten ihm die Grabrede gehalten haben. Haben doch manche Kritiker erst durch seinen Tod die beruhigende Ueberzeugung gewonnen, daß nunmehr auch die Romantik wirklich todt und völlig überwunden sei.
Ein ähnlicher Ton wird in vielen Literaturgeschichten, berühmten und unberühmten, angeschlagen. Während es bei andern Dichtern eine Pflicht ist, von der man nicht gern abweicht, die Anerkennung der Kritik, das Positive dem Negativen vorangehen zu lassen, ist bei Tieck die umgekehrte Praxis zur Regel geworden. Man beginnt mit dem Tadel, man entwickelt, wie seine Richtung von Hause aus eine falsche gewesen sei, Mängel und Schwächen werden ausgemalt, bald gibt er zu viel, bald zu wenig, endlich läßt man unter neuen Clauseln eine halbe Anerkennung schmollend hinterherhinken. Den Dichterischen ist er zu kritisch, den Kritischen zu dichterisch, den Protestanten zu katholisch, den Katholiken zu protestantisch, den Aufgeklärten seiner Jugend zu religiös, den XXIV Frommen seines Alters zu aufgeklärt, den Liberalen galt er für servil, den Legitimen für einen Oppositionsmann. Sehr Wenigen hat er es recht machen können. Man sage nicht, in der Einstimmigkeit der verschiedensten Kritiker liege der Beweis für die Richtigkeit des Urtheils. Gerade die gleichlautende Verwerfung durch entgegengesetzte extreme Meinungen kann die Anerkennung enthalten.
Und woher diese auffallende Erscheinung? Ihr Grund ist nicht schwer aufzufinden. In einer von heftigen Parteikämpfen bewegten Zeit wollte er als Dichter frei bleiben, er wollte festhalten an der Poesie, die in keines Herrn äußerm Dienste steht; er verschmähte es, ein geläufiges Stichwort zu gebrauchen, um damit Anhänger und Bewunderer zu werben. »Und so fühle ich«, schreibt er im Jahre 1816 an Solger, »daß bei uns immer Alles, was ich das Rechte nennen möchte, sei es in Philosophie, Kunst oder Religion, als ein Eremit wohnt, dessen Pflicht es ist, keiner Gemeinde anzugehören« (»Solger's nachgelassene Schriften«, I, 392). Man hätte ihm Manches verziehen, wenn er nur zu irgendeiner Fahne geschworen hätte, aber unabhängig sein, und dennoch mitreden zu wollen, das konnten Parteien, Schulen und Sekten nicht ertragen. Darum haben sie ihn schließlich selbst zu einem Parteihaupte gemacht. Er ist stets er selbst geblieben, und wie man sich auch anstellen möge, weiter als sich selbst hervorzubringen, bringt es am Ende kein Mensch, sagt der Altmeister.
Also die Acten über Tieck und seine Dichtungen sind nicht geschlossen, wie oft das auch behauptet worden ist. Es lebt noch Mancher, der über die spätere Zeit auch nach diesem Buche wird berichten können. Dazu aber, daß XXV man ihn in seiner eigenen und vielseitigen Natur kennen lerne, wollen die Erinnerungen beitragen. Von seiner Jugendgeschichte und frühesten Stellung zum damaligen berliner Leben wußte man bisher wenig oder nichts. Sie ist zugleich ein Stück der Geschichte Berlins in den letzten Jahren des vorigen Jahrhunderts, und der Vaterstadt liegt es ob, nicht allein sein Grab oder das Geburtshaus zu bezeichnen, eine Straße, wie es geschehen, mit seinem Namen zu benennen, oder sein Bild zu errichten, sondern ihn in der deutschen Geisterwelt auf seiner hervorragenden Stelle anzuerkennen. Berlin nennt keinen größern Dichter den seinen.
Hiermit gebe ich dieses Buch aus der Hand, dessen Vollendung mir eine Pflicht der Pietät war, und das einen Theil meines eigenen Lebens enthält. Mir ist am besten bewußt, daß ich nicht Alles zu leisten vermochte, was die Aufgabe erfordert. Niemals bin ich mehr davon durchdrungen gewesen als jetzt, wo mir das edle Bild, in dessen Augen ich so oft geblickt habe, wiederum klar vor der Seele schwebt. Es ist der Uebergang vom unmittelbaren Dasein zur Geschichte, den ich erlebt habe. Wie es zu den erschütterndsten Erfahrungen gehört, das Leben, welches man als ein gegenwärtiges empfunden hat, erblassen, sich auflösen und zur Vergangenheit hinschwinden zu sehen, so ist es die schwerste Probe aller Geschichtschreibung, die Grundzüge desselben im Bilde herzustellen und von neuem zu beleben. Doch in dem Geiste wohnt eine Kraft, die über Mängel und Schwächen hinweghilft. Ich habe das Vertrauen, etwas von jenem frischen Lebenshauche, der die mündlichen Erzählungen durchwehte, werde auch noch in meiner Darstellung fühlbar sein.
XXVI So mag denn heute, an demselben Tage, an welchem Tieck vor zweiundachtzig Jahren das Licht der Welt erblickte, der Schlußstein diesem Denkmale eingefügt werden, welches ich auf seinem Grabe zu errichten unternommen habe.
Berlin, am 31. Mai 1855.
Rudolf Köpke.