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Bald mußte ein großer Entschluß gefaßt werden. Es hieß: »Der Junge muß in die Schule!« Die tägliche Arbeit ließ den Aeltern keine Muße ihn hinreichend zu beschäftigen, oder auch nur ihn stets zu beaufsichtigen. Zunächst brachte man den kaum fünfjährigen Knaben zu einem alten gutmüthigen Ehepaar, das in der nahegelegenen Fischerstraße eine 15 A-b-c-Schule für Knaben und Mädchen im ersten Kindesalter hielt. Noch mußte man Morgens bei regnigem und trübem Wetter das Kind auf dem Arme in die Schule tragen. Da gesellte sich als erster Gespiele ein Pudel zu ihm, in dessen zottigen Haaren es die rothen, erstarrten Hände wärmte. Die beiden guten Alten, das hohe Zimmer mit seinen Bänken, die Kinderscharen, der Pudel erschienen ihm so anziehend, daß es jeden Morgen nach dieser neuen Welt sehnlichst verlangte.
Die Zeit dieses spielenden Versuchs ging bald vorüber. Kraft und Muthwille des Knaben begann in Ludwig zu erwachen, er konnte sich jetzt ältern Spielgenossen zugesellen. Der Vater übergab ihn der sogenannten Französischen Schule für Knaben, die ebenfalls in der nächsten Nachbarschaft, in der Grünstraße lag. Hier wurde neben dem gewöhnlichen ersten Unterrichte auch Französisch gelehrt, freilich ohne sonderliche Gewähr für seine Richtigkeit. Der Schulhalter war ein ehemaliger Schneidergeselle, den sein Gewerbe nach Paris geführt hatte. Hier meinte er hinreichende Kenntnisse der Sprache erworben zu haben, um die berliner Schuljugend im Französischen abrichten zu können, und da er es einträglich genug fand, von seinen Zöglingen einen Thaler Schulgeld monatlich zu erheben, so hatte er ein für alle mal die Nadel mit der Ruthe vertauscht.
Aber nun folgte der wichtigste, entscheidende Schritt, der in ein reiferes Leben hineinführen sollte. Dies war der Uebergang zur gelehrten Schule, zum Gymnasium. Mit dem Entschlusse, den Sohn das Gymnasium besuchen zu lassen, hatte der Vater stillschweigend seine Anerkennung des unverkennbaren Talents ausgesprochen. Diese Anlagen sollten, wenn auch mit Opfern, ausgebildet werden; der Sohn sollte etwas Besseres werden als der Vater gewesen. Die Wahl 16 unter den gelehrten Anstalten war nicht schwer. Einen merkwürdigen und hervorragenden Mann gab es damals unter den berliner Schulmännern, welcher sich bereits ein allgemein anerkanntes Ansehen erworben hatte, Friedrich Gedike. Es war ein rastloser und eigenthümlicher Mann, der durch seine trefflichen Anschläge, seine planmäßigen und erfolgreichen Einrichtungen, allmälig zum Reformator des gesammten Schulwesens geworden war. Man pries sich glücklich einen so aufgeklärten Gelehrten zu besitzen, der ganz den Beruf hatte, die veralteten Formen des Unterrichts nach den Anforderungen der neuen Zeit, die auf dem Gebiete der Schulen an Lehren und Versuchen so reich war, neu zu gestalten. Seit 1779 Director einer städtischen höhern Lehranstalt, des Friedrichsgymnasiums auf dem Werder, hatte er durch seine Geschicklichkeit der früher verwahrlosten Schule binnen wenigen Jahren einen ungewöhnlichen Ruf verschafft.
Es war um Johanni 1782, als der Vater den neunjährigen Knaben dem berühmten Lehrer zuführte, der ihn feierlich für Quinta reif erklärte. Somit war Ludwig ein Gymnasiast, ein Quintaner geworden; er trat in die gelehrte Welt ein. Lateinisch sollte getrieben werden, Griechisch stand in Aussicht, die Anforderungen steigerten sich auf allen Seiten. Er gesellte sich zu einer Schar älterer Knaben, die gewitzigt durch alle Listen und Abenteuer des Schülerlebens, stets bereit waren, ihren jungen Muth an Jedem zu kühlen, der nicht im Stande war ihnen handgreiflich zu beweisen, selbst Quintanermuth könne seinen Meister finden. Wie sauer machten sie nicht manchem Lehrer das Leben; wie manchen Kampf fochten sie nicht in der Schulstube oder auf Straßen und Plätzen aus!
In diesen Strudel wurde auch Ludwig hineingerissen. 17 Anfangs hatte seine Frühreife, seine Altverständigkeit und Zierlichkeit, denn er galt für ein schönes Kind, ihn zum Gegenstand der Bewunderung und Liebkosung, zum kindischen Spielwerke der ältern Schüler gemacht. Bald aber ward er dieser duldenden Rolle überdrüssig, und begann ebenfalls seine Fäuste zu regen. Da sollte er den gefeierten Director auch als furchtbaren Donnerer kennen lernen.
Einst war in den Lehrstunden ein schriftlicher Aufruf zum Kampfe gegen die elenden Collegiaten, d. h. gegen die Zöglinge des benachbarten französischen Collège, von Hand zu Hand gegangen. Jeder brave Quintaner wurde darin aufgefordert, sich um vier Uhr Nachmittags, mit einem Rohrstocke bewaffnet, auf dem Lustgarten einzufinden. Die Einstimmenden sollten ihre Namen unterzeichnen. Ludwig glaubte nicht zurückbleiben zu dürfen, auch er war ein braver Quintaner. Wirklich traf man zur bestimmten Stunde auf den Feind. Doch plötzlich nahm die Schlacht eine für beide Heere unerwartete Wendung. Auf dem Lustgarten lagen zahlreiche Quadersteine verstreut, die bearbeitet werden sollten. In diesen Engpässen war man sich kaum begegnet, als höhere Kräfte in den Kampf der Helden eingriffen. Hinter jenen Steinen erhoben sich einige handfeste Steinmetzgesellen, die blindlings zufahrend aus der Schar der Collegiaten Einzelne herausgriffen, und an den Zöpfen mit starker Faust in die Lüfte erhoben. Die Werderschen, so unvermuthet durch ein gigantisches Geschlecht unterstützt, nahmen ihres Vortheils wahr, und hieben auf die zappelnden Collegiaten unter lautem Jubel unbarmherzig ein. Einer der Kämpfer, der Sohn eines Bauraths Moser, hatte diese furchtbaren Bundesgenossen in der Stille angeworben. Ludwig konnte in das allgemeine Siegesgeschrei nicht einstimmen. Nie hatte er braven Quintanern solche Tücke und Hinterlist zugetraut. Voll 18 Entrüstung verließ er sogleich den Kampfplatz und ging nach Hause.
Auch ereilte die Nemesis die Verräther früh genug. Das Actenstück, welches den Beweis der Verschwörung enthielt, war in des Directors Hand gefallen. Untersuchung, strengste Strafe waren zu erwarten. Am nächsten Morgen trat Gedike als Richter in die Classe Quinta, der Pedell hinter ihm mit dem Blitze bewaffnet. Nach einer donnernden Strafrede wurden die Uebelthäter nach der Reihenfolge ihrer Unterschriften aufgerufen, verhört und die Strafe an ihnen vollzogen. Mit innerstem Zagen sah sich auch Ludwig von den Schwingungen des verhängnißvollen Stockes näher und näher umkreist. Endlich hörte er auch seinen Namen. »Und Er, einfältiger Mensch«, donnerte Gedike ihn an, »der erst seit wenigen Monaten in der Schule ist, hat sich auch zu solchem Unfug verleiten lassen? Schämt Er sich nicht?« Die handgreiflich drohende Gefahr gab dem bestürzten Knaben einen unerwarteten Muth. Mit angstvoller Entschlossenheit rief er: »Herr Director, ich bitte Sie, hören Sie mich an!« Wirklich hielt der Richter in seinem Strafgericht inne, und lieh der Vertheidigungsrede ein geneigtes Ohr. Mit altkluger Beredtsamkeit stellte Ludwig dar, wie sich die Sache eigentlich verhalten habe, und schloß mit einer Berufung auf das Zeugniß seiner Mitschüler. Da diese seine Aussage unterstützten, entließ ihn Gedike mit den Worten: »Das ist sein Glück!« denen sich eine eindringliche Warnung für die Zukunft anschloß.
So gewichtige Erfahrungen brachte Ludwig nicht umsonst nach Hause. Hier wurde er der Führer der jüngern, gelehrigen Geschwister zu manchem kecken, muthwilligen Streiche. Bruder und Schwester, nur durch einen geringen Unterschied der Jahre von ihm getrennt, wurden die selbständigen Gefährten seines Lebens. Nicht minder früh, nur nach einer 19 andern Seite hin, entwickelte sich Friedrich's Talent. Auch er wurde später Schüler des Werderschen Gymnasiums, doch das schulgerechte Lernen war nicht seine Sache. Man klagte über seine geringe Gelehrigkeit, seine Trägheit. Konnten ihm die Schulkünste keine sonderliche Theilnahme abgewinnen, so zeigte er dagegen viel Anstelligkeit und Geschicklichkeit nach außen hin, namentlich eine entschiedene Gabe für Zeichnen und künstlerisches Gestalten. Die Schwester war in ihren Anlagen dem ältern Bruder ähnlich. Sie war heiter und lebhaft, keck und leichtsinnig, schnell und scharf in ihrer Auffassung, schlagend in ihren Antworten, besaß einen frühreifen Witz und eine unwiderstehliche Neigung zum Spott. Sie war eine stets bereite und helfende Theilnehmerin der Späße und Anschläge ihrer Brüder, mit denen sie auch muthig die Leiden theilte. Die Kinder stritten und zankten, jagten sich in Haus und Hof mit Katzen und Hunden umher, prellten die geängstigten Thiere in auf- und zuklappenden Regenschirmen, und übten tausend Eulenspiegeleien aus.
Es waren die Jahre gekommen, in denen die Strenge der väterlichen Zucht immer fühlbarer wurde. Auch hier zeigte sich der Vater als Mann von altem Schlage, von ganzem Schrot und Korn. Die volle Gewalt des Vaters und Meisters, Furcht und Gehorsam, das galt in seinem Hause als oberstes Gesetz. Wehe dem Untergebenen, über den sich das Ungewitter seines Zorns entlud, der nicht selten unerwartet in jäher Weise hervorbrach. Da ruhte die Hand väterlicher Züchtigung oft schwer auf Ludwig. Ueberhaupt schien es eine Erziehungsregel des Vaters, gegen die Kinder kurz, streng und abweisend aufzutreten. Niemals lobte er; er ließ gewähren, und seine Billigung sprach er meist durch Stillschweigen aus. Mit scharfem Tadel konnte er bei kleinen Dingen herausfahren, aber doch wieder mit jenem 20 verhüllten Gefühle väterlicher Liebe, das auch durch die Züchtigung hindurchschimmerte. War er einmal bei besonders guter Laune, so zog er die Kinder wieder heran und erlaubte ihnen wol, sich in kleinen Wortwechseln mit ihm zu versuchen, nur mußten sie in den gesetzmäßigen Schranken bleiben. Dazu reizten ihn namentlich Ludwig's altkluge Fragen und Antworten, den er dadurch als seinen Liebling auszeichnete. Von einem solchen Vorzuge hatte dieser unter der züchtigenden Hand des Vaters keine Ahnung, und er staunte nicht wenig, als ihm in späterer Zeit, da er zum Jünglinge geworden war, der Vater das Geständniß ablegte, er sei eigentlich sein Liebling gewesen.
Indessen fehlte es im fernern Verlaufe des Schullebens nicht an manchem glänzenden Erfolge, der Ludwig bei Lehrern und Schülern in den Ruf eines Genies brachte. Das verdankte er zunächst der Lebhaftigkeit seiner Phantasie und seinem ungewöhnlichen Gedächtnisse, das auch nur einmal Gehörtes oder flüchtig Aufgefaßtes leicht und sicher bewahrte. Erst auf dem Wege zur Schule pflegte er die Lehrstücke zu überlesen. Wie die Buchstaben wurden ihm die Zahlen lebendig. Die Figuren, welche durch verschlungene Rechenexempel gebildet wurden, jede einzelne Ziffer darin, schwebte ihm deutlich vor der Seele. Den Rücken gegen die große Wandtafel gewendet, konnte er sie Stelle für Stelle ohne den mindesten Anstoß wiederholen. Dergleichen hatte der Lehrer in seiner Schulerfahrung noch nicht erlebt, er sah darin eine psychologisch merkwürdige Erscheinung. Er ließ Ludwig in die Mitte des Zimmers treten, auf seinen Befehl erhoben sich die übrigen Schüler von ihren Sitzen und mußten sich drei mal tief verneigen. Es war die erste Huldigung, welche dem Genius dargebracht wurde.
Ob diese Huldigung angemessen sei, war freilich eine 21 andere Frage. Doch scheint erziehende Weisheit eben nicht die Stärke dieses Lehrers gewesen zu sein. Er gehörte zu jenen wunderlichen Originalen der ältern Schulwelt, deren Gewissen weit, und deren Art und Weise oft die sonderbarste war. In seinen Händen blieb Ludwig fürs erste; die untern Lehrstufen hatte er schnell zurückgelegt, nun fing er an langsamer seines Weges zu gehen, je mehr die Anforderungen, die gemacht wurden, mit seinen Kräften in das rechte Gleichgewicht traten.
Viel Veranlassung zu bedenklichen Zweifeln gab dem Knaben zunächst der Subrector Stilke; das war jener Lehrer, dessen Liebling er im Anfange zu sein schien. Es war ein Mann der strengen, kirchlichen Form. Mit den Schülern pflegte er in der Regel im Tone demüthiger Frömmigkeit und väterlicher Milde zu sprechen. In sanftester Weise rief er die Sträflinge zu sich heran. Wie zufällig klemmte er den Frevler zwischen seinen Knien ein, liebkosend streichelte er ihm die Backen mit den Worten: »Siehst du, mein Kind, das mußt du nicht wieder thun. Du kränkst und betrübst damit deinen guten, alten Lehrer, der dich doch so sehr liebt!« Diese liebevollen Ermahnungen unterbrach er dann durch einige plötzlich treffende Backenschläge von rechts und links, die unter sanftem Zureden und liebkosendem Streicheln in regelmäßigem Takte wiederkehrten. Wie die Milde des guten, alten Lehrers, ward auch bald seine Frömmigkeit verdächtig. Des Morgens wurde der Unterricht mit einem Gebete, das der Lehrer sprach, eröffnet. Einst kam der Subrector Stilke, der die erste Lehrstunde zu halten hatte, statt um acht, kurz vor neun Uhr. Mit feierlicher Miene trat er vor die versammelten Schüler hin, legte seine Taschenuhr auf den Tisch, und begann das Gebet mit folgenden Worten: »Allwissender Gott, vor dessen Blicken nichts verborgen ist, 22 du weißt, daß meine Uhr heute Morgen unerwartet stehen geblieben ist, und daß ich darum nicht zu rechter Zeit kommen konnte.«
Die heller sehenden Schüler durchschauten bald dieses Wesen. Die Einen bequemten sich ihm augendienerisch, die Andern trieben übermüthig ihren Spott damit. Auch Ludwig blieb in kecken Bemerkungen nicht zurück. Bald hatte er die Gunst seines Subrectors verscherzt, und der Zorn des Lehrers ging endlich in eine Art von Haß über, der keinen Anstand nahm, den leichtfertigen Knaben in allem Ernste des Atheismus anzuklagen. Da diese und andere Anklagen auf alle möglichen Schulfrevel endlich auch zu des Directors Ohren kamen, zog sich allmälig kein geringes Unwetter über Ludwig's Haupte zusammen.
Während des Unterrichts machte Gedike regelmäßig die Runde durch das Schulgebäude. Im Vorübergehen warf er einen spähenden Blick in die Schulzimmer durch ein in der Thür angebrachtes Schiebefenster. Nicht selten erschien er zum Troste und zur Rettung manches bedrängten Candidaten, und griff als deus ex machina mit gewaltiger Schicksalshand die hervorragenden Häupter der Schulhelden heraus. So stand er auch eines Tages plötzlich in der Mitte der Tertianer, als das Völkchen lustig über Tisch und Bänke setzte. Der Erste, der als Sühnopfer fiel, war Ludwig. Sein Maß war voll; zur Strafe mußte er nach Quarta ins Exil wandern. Für die Schulzeugnisse hatten solche Frevel nicht die besten Folgen. Es gehörte zu Gedike's eigenthümlichen Mitteln, die Stufenfolge derselben durch grelle Farben zu versinnlichen. So brachte Ludwig zum großen Zorn des Vaters die schmachvolle gelbe Nummer vier nach Hause, auf welche natürlich ein neues, härteres Strafgericht folgte.
Wenn Ludwig den Zorn des großen Schulherrn zu 23 leiden hatte, so wurde ihm dafür auch einmal die Genugthuung zu sehen, daß unter Umständen auch diese Macht in ein bedenkliches Schwanken gerathen konnte. Oft geschah es, daß auswärtige Schulmänner den berühmten Reformator besuchten, um seine Weise an Ort und Stelle kennen zu lernen. Einst erschien, von Gedike selbst begleitet, ein ernster stattlicher Mann, in einem langen, grauen Rocke. Er setzte sich als Zuhörer auf eine der Banken nieder, und breitete dabei die bauschigen Schöße seines Rocks mit vieler Würde aus. Einige Buben, die vorher mit einem Kaninchen ihren Muthwillen getrieben hatten, schoben ihm dieses leise in die Tasche, während er aufmerksam dem Gange des Unterrichts folgte. Mit Schrecken fühlte er plötzlich in seinem Rocke etwas Lebendiges rascheln. Entsetzt fährt er in die Höhe und mit den Händen in die Tasche. Die Gegenwart des Schulherrschers konnte einen allgemeinen Aufstand, in den Spott und Schrecken sich mischten, nicht hemmen. Glühend vor Zorn und Beschämung donnerte er dazwischen. Voll Verwirrung bemühte sich der Fremde das Kaninchen aus dem Abgrunde der Tasche heraufzuholen. Da trat einer der boshaften Uebelthäter, sich zierlich verneigend, auf ihn zu und sagte: »Erlauben Sie, mein Herr, daß ich Ihnen behülflich bin. Kaninchen faßt man immer bei den Ohren.«
Dergleichen Vorfälle hemmten indeß weder Ludwig's Wissenstrieb noch seine fernere Entwickelung. Vielmehr war er dem Schulunterrichte in manchen Punkten voraus. Er hatte bereits die Anfangsgründe des Griechischen von einem nachhelfenden Primaner erlernt. Es war sein sehnlichster Wunsch, den Homer, namentlich die »Odyssee«, von der er Mancherlei gehört hatte, was seine Phantasie ungemein anregte, in der Ursprache lesen zu können. Der Vater, der an Lehr- und Bildungsmitteln herbeischaffte, was ihm in seiner Lage irgend 24 möglich war, ruhte nicht eher, als bis er seinen Ludwig mit der Damm'schen Uebersetzung des Homer überraschen konnte. Dieser nahm das Buch mit Dank an, sagte aber voll altkluger Selbstüberwindung: »Ich bitte Sie, lieber Vater, dieses Buch für jetzt zurückzulegen. Binnen kurzer Zeit werde ich die ›Odyssee‹ in griechischer Sprache bei Herrn Griese lesen, dann hoffe ich diese Uebersetzung besser nutzen zu können.«
Herr Griese war nämlich ein alter Candidat der Theologie, der kümmerlich von Privatunterricht lebte. Halb aus Mitleiden hatte der gutmüthige Vater ihm die Aufsicht über die häuslichen Arbeiten des Sohnes und die griechischen Lehrstunden übertragen. Dafür aß denn Herr Griese einige Male in der Woche an dem Tische des gastfreien Bürgers. Nur war es übel, auch seine Kenntnisse waren ziemlich kümmerlich, und es dauerte nicht lange, so zeigte sich die volle Ueberlegenheit des Schülers. Vor allem gab der Lehrer bei dem Lesen des Homer, worauf er sich aus einer halbverstandenen lateinischen Uebersetzung vorbereitete, die kläglichsten Blößen. Einst erzählte er seinem Zögling ausführlich, wie Aegisth den Orestes ermordet habe, und dafür nach seinem Tode göttlich verehrt worden sei. »Bester Herr Griese«, rief der Knabe, »das ist unmöglich! Umgekehrt war es!« Herr Griese stutzte, machte aber doch einige nicht ganz glückliche Versuche, seine eigenthümliche Meinung zu vertheidigen. Im Hintergrunde des Zimmers saß der Vater behaglich in seinem Lehnstuhle, und lachte in sich hinein über seinen klugen Sohn, der bereits den Lehrer aus dem Felde schlug.
Neben dem Griechischen sollte aber das Französische nicht vernachlässigt werden. Auch dafür wußte der Vater ein Mittel. Ludwig mußte den Gottesdienst der französischen Colonie besuchen. Von früher Zeit an hatten die Aeltern mit Strenge auf einen regelmäßigen Besuch der Kirche 25 gehalten. Zuerst hatten sie die Kinder alle Sonntage in die Petrikirche geführt, in deren Sprengel sie wohnten; dann hatte man sie im Vertrauen auf ihren Gehorsam dorthin allein gehen lassen. Endlich meinte der Vater auch diese Stunden nützlich machen zu können. Die Erbauung war hier freilich gering. Oft bestand die hörende Gemeinde aus keinem Dutzend Menschen. In späterer Zeit, als der sogenannte junge Ancillon anfing einen größern Kreis von Zuhörern um sich zu sammeln, zog auch Ludwig diesen geistvollen und feurigen Redner allen Andern vor.
Doch nicht nur in Haus und Schule, zu Zeiten mehr noch draußen, auf Straßen und Plätzen, vor den Thoren sammelten sich die Kinder. Da gab es allerlei lustige Abenteuer, da sah und hörte man, was Alle anging, die Stadt, das Land, man sah das öffentliche Leben jener Tage.
Zu den Volksfesten, an denen die Knaben mit vollstem Jubel theilnahmen, gehörte das Weihnachtsfest und der Weihnachtsmarkt, der Mittelpunkt des berliner Volkslebens. Dann streiften sie einzeln und in ganzen Scharen zwischen den hell erleuchteten Verkaufsbuden auf dem Schloßplatze und in der nahgelegenen Breiten Straße umher. Tausendfaches gab es zu sehen und zu bewundern, manche Gelegenheit zu kleinen Erwerbungen, wenn es auch nur ein Pfefferkuchen oder ein Waldteufel gewesen wäre, und endlich fehlte es auch nicht in dem nächtlichen Dunkel hinter den Buden an stets willkommenen Kämpfen. Bei aller muthwilligen Stimmung hatte das Ganze dennoch einen zauberhaften, geheimnißvollen, ja rührenden Ausdruck. Wie glänzte Alles in dem Lichte festlicher Erwartung! In ihr ging schon Wochen vorher alles Wünschen und Hoffen der Kinderwelt auf. Auch beim Meister Tieck war das Weihnachtsfest eine große häusliche Freude. Es gab einen festlich geschmückten 26 Tannenbaum mit brennenden Lichtern besetzt, und Näschereien, nach denen man sonst das ganze Jahr vergeblich lüstern spähte. Unter allen Geschenken aber strahlten die unerläßlichen Soldaten von Zinn als das Anziehendste hervor, die unter Ludwig's Händen bald zu belebten Wesen wurden, zu einem ernsten Spielzeug, zu dem er auch in spätern Tagen in heiterer Laune gern zurückkehrte.
Gedanken ganz anderer Art wurden erregt, wenn diese bleiernen Heere in der That lebendig geworden schienen, und die Trommel in den Straßen Berlins die Soldaten Friedrich's zu Paraden und Revuen rief. Wenn die Garnison sich in allem Waffenglanze und ihrer ganzen Mustergültigkeit entfaltete, dann fühlte sich der Stolz des berliner Bürgers gehoben, und auch bei den Kindern erwachte die Ahnung, einem noch größern Ganzen als Schule und Haus anzugehören. Unter allen Gestalten, die bei solchen Gelegenheiten öffentlich auftraten, blieb immer die volksthümlichste der alte Fritz selbst. So oft er mit dem dreieckigen Hute und dem großen Krückstocke auf seinem alten Schimmel in bequemem Trabe durch die Straßen ritt, stürzte die Schul- und Straßenjugend von allen Seiten herbei. Eine Schar vorlauter Knaben überschlug sich in tausend tollkühnen Purzelbäumen unmittelbar vor dem Pferde, Mützen und Hüte flogen in die Luft, und unaufhörlich schrie Alles: »Der olle Fritz! der olle Fritz!« So geleiteten ihn die Scharen die Straßen auf und ab, ohne daß der König eine Miene verzog. Mit demselben Löwenauge, dessen zorniges Blitzen man sehr wohl kannte, sah er gleichmüthig auf das Treiben eines dreisten, aber doch nicht bösartigen Volkswitzes herab. Prächtiger, aber auch steifer ging es her, wenn er sich in seiner großen gläsernen Staatscarrosse zeigte, was nur einige Male im Jahre geschah. In langsam feierlichem Schritte fuhr er 27 dann mit vollem Prachtgespann durch die Straßen; voran die aufgeputzten Läufer, hinten auf der Carrosse die fremdartigen Haiducken, zu beiden Seiten des Kutschenschlages zahlreiche königliche Diener. Ernst und streng saß er selbst hinter den Glaswänden. Jedermann sollte seinen König sehen können. Auch in die Nähe der Roßstraße, des väterlichen Hauses kam dieser Prunkzug; er lenkte die Breite Straße hinab, am Kölnischen Rathhause vorbei.
Als großer Kriegsfürst, der dem verbündeten Europa siegreich widerstanden hatte, erschien der König an der Spitze seiner Truppen, die so manche Schlacht geschlagen, bei Paraden und Revuen. Wenn es vor einem der Thore Berlins, etwa vor dem Halleschen oder dem Prenzlauer, Heerschau und Manöver gab, dann strömte die berliner Bürgerwelt scharenweise hinaus. Auch Meister Tieck nahm sich die Zeit, seine Kinder zu solchen volksthümlichen Schauspielen zu führen. Zwischen der drängenden Menschenmasse, den einherjagenden Ordonnanzen und den manövrirenden Truppen trotzte man stundenlang dem Staube und der Sonnenglut, um den alten Fritz, umgeben von dem glänzenden Gefolge seiner berühmten Generale zu sehen.
Einst war Ludwig bei einem solchen Volksfeste vor dem Prenzlauer Thore durch die hin- und herwogenden Scharen der Zuschauer von seinem Vater getrennt worden. In demselben Augenblick erscholl ein tausendstimmiger Vivatruf; er kündete den König an. In der Mitte seiner Generale ritt er auf dem Feldwege heran, der zwischen höherliegenden Sandhügeln hohlwegartig dem Thore zuführte. Auch Ludwig wollte den alten Fritz sehen und in seinem Eifer nicht zurückbleiben. Behende schwang er sich an der schrägablaufenden Seitenwand des Hohlweges in die Höhe, und faßte in einer Vertiefung festen Fuß, welche der Regen 28 geklüfte hatte. Abgesondert von der Menge stand er Allen sichtbar, wie in einer Nische, über den Häuptern der Andern. Da nahte der König. Unter lautem Rufen schwenkte Ludwig seinen Hut. Plötzlich, in der vollen Begeisterung des Augenblicks, weicht der Sand unter seinen Füßen, er verliert das Gleichgewicht. Wenig fehlte, so wäre er aus seiner Grotte auf die vorbeireitende Generalität gestürzt. Sein lauter Ruf, die unwillkürliche Heftigkeit seiner Bewegungen erregten die Aufmerksamkeit des Königs. Dieser wendete sich halb von der Seite, und ein voller, fragender Blick des großen blauen Auges fiel auf Ludwig. Voll Schrecken gelang es ihm noch zu rechter Zeit das Gleichgewicht wiederzugewinnen, während der König mit seinen Generalen vorüberritt. Es war ein Erlebniß. Ludwig hat diesen tiefen Blick des alten Fritz, der auch auf ihn gefallen war, nie vergessen.