Rudolf Köpke
Ludwig Tieck
Rudolf Köpke

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5. Ein hoffnungsvoller junger Mensch.

Unter solchen Anregungen und den wiederholten Versuchen, seine noch unklaren Empfindungen Andern begreiflich zu machen, hatte er sich allmälig eine gewisse Mündigkeit gewonnen, die immer zuversichtlicher hervortrat. Er war den mittlern Schulkreisen entwachsen. An die Stelle des wunderlichen Subrector Stilke und des Prorector Pleßmann, welcher durch seine unbedachten Aeußerungen im Geschmack der irischen Bulls zur Zielscheibe des allgemeinen Schulwitzes geworden war, traten andere Lehrer, die anregender wirkten, vor Allen Gedike selbst.

Es war ein bedeutender Abschnitt in diesem Stillleben, als Ludwig im Jahre 1788, funfzehn Jahre alt, in die oberste Classe des Gymnasiums, die sogenannte Prima, hinaufrückte. Hier hörte die geringschätzige Anrede mit »Er« auf; sie wurde durch das rücksichtvollere »Sie« ersetzt. Nur Gedike wandte diese höflichere Form ungern an. Sie schien mit seiner Würde unvereinbar, und er suchte sich damit zu helfen, daß er zu dem Angeredeten wie von einer dritten Person sprach. Auch genoß man sonst mancher Vergünstigung. Man erschien mit dem Stocke in der Hand, kam auch wol gestiefelt und gespornt in das Lehrzimmer. Genug, die Kinderschuhe waren ausgezogen, und nicht ohne hohes Selbstgefühl faltete man das Gesicht zu männlichem Ernste. Denn man war ja ein hoffnungsvoller junger Mensch geworden, der sich für die tiefern Studien der Wissenschaft vorbereitete. In Allem herrschte größere Freiheit, und selten griffen die Lehrer mehr ein, als unbedingt nothwendig war.

Wichtig war es, daß man nun auch den Herrn Rath, 47 das war Gedike's amtlicher Schultitel, von einer mildern Seite kennen lernte. Hatte man ihn früher nur als Donnerer gesehen und gehört, so war er jetzt Lehrer und Führer im innersten Heiligthume. In den obersten Classen ertheilte er eine Reihe von Lehrstunden, in denen er einen griechischen Dichter oder Geschichtschreiber erklärte, Uebungen in freier Rede anstellte, und auf die allgemeine Durchbildung seiner Zöglinge hinzuwirken suchte. Und hier erschien er doch als eine bedeutende, in hohem Grade anregende Persönlichkeit. Man fühlte seine überwiegende Kraft, die bei allen Sonderbarkeiten auch den Widerstrebenden zur Anerkennung zwang. Seine Aeußerungen waren scharf, entschieden und zutreffend. Was er that und sagte, prägte sich bis in die kleinsten Züge seiner Schüler für die Lebenszeit ein. War er bisweilen rauh, ja hart und ungerecht, so hatte er auch Augenblicke, in denen er vom Kothurn herabstieg. Wie ein alter Löwe ließ er dann in halb humoristischer, überdreister Weise fast mit sich spielen. Doch nichts machte einen tiefern Eindruck, als wenn Gefühlserschütterungen den starken Mann unerwartet überkamen, und gegen seinen Willen den Damm steifer Haltung durchbrachen. Er, der sonst so abgemessen, war dann weich und liebenswürdig. Als er den Schülern einst Engel's »Traum des Galilei« vorlas, überwältigte ihn die steigende Rührung, seine Stimme schwankte; nur mit Mühe konnte er die Vorlesung zu Ende führen. In solchen Augenblicken söhnte man sich mit seinen Härten aus.

Ludwig wagte in diesen freien Gebieten mit seinen eigenen Gedanken mehr ans Licht zu treten, und streifte die letzten Wahrzeichen kindischer Unreife ab. Zu den schwersten Prüfungen des Schullebens gehörten für ihn die sogenannten deutschen Aufsätze. Unbefangen schrieb er zu Hause seine Verse und Komödien, sie gingen ihm trefflich von der Hand; 48 aber jene deutschen Abhandlungen, die nach einer Aufgabe des Lehrers gearbeitet wurden, blieben für ihn, wie für viele seiner Genossen, lange Zeit ein Gegenstand des Schreckens und eine reiche Quelle geistiger Martern. Die Anforderungen schienen so unerschwinglich, seine eigenen Kräfte so gering. Er hatte nicht den Muth, sich dem Zuge seines Geistes zu überlassen, und in kindischer Angst, die etwas von sittlicher Scheu hatte, hütete er seine innersten Gedanken wie einen verborgenen Schatz. Sie erschienen ihm bald zu erhaben, bald zu kindisch, um sie preisgeben zu können.

In diesen Nöthen nahm er seine Zuflucht zum Vater. Der verständige und gutmüthige Mann ließ sich auch in der Regel bereit finden, die Arbeit bei Seite zu legen, um mit dem Sohne deutsche Aufsätze zu schmieden. In seiner Weise zog er sich aus dem Handel. Meistens kleidete er den gegebenen Satz in einen Brief ein, und im Geschmacke der moralischen Wochenschriften begann er gut bürgerlich mit den Worten: »Werthgeschätzter Freund! Sie haben gewünscht, meine Gedanken über die Nachtheile und Vortheile des Kriegs kennen zu lernen, ich theile Ihnen dieselben in diesen Zeilen in der Kürze mit.« Diesmal sollten Gedanken über die Einsamkeit niedergeschrieben werden. In seiner gewohnten Weise hob der Vater an. Plötzlich unterbrach er sich mitten im Satze: »Was weiß ich von der Einsamkeit! Was für Gedanken soll ich auch darüber haben? Ich habe immer mit Menschen gelebt und verkehrt. Der dumme Junge schreibt nichts als Verse und Komödien und anderes thörichtes Zeug, und nun weiß er nicht einmal etwas über die Einsamkeit zu sagen. Mach' deine Geschichten allein, und laß mich ungeschoren!« Damit wandte er sich um.

Bestürzt blieb Ludwig zurück; er glaubte sich verloren. Aber was half es? Bis zum andern Morgen mußten die 49 Gedanken über die Einsamkeit herbeigeschafft werden. Voll verzweifelten Muthes legte er allein Hand ans Werk. Die Angst entfesselte seine Kräfte, er überließ sich den Bildern seiner Phantasie, und die steife Abhandlung gestaltete sich unwillkürlich zu einer kleinen Erzählung. Er schilderte einen Edelmann, der sich im Winter auf sein neugekauftes Landgut begibt, und in der erstarrten Natur in tiefer Abgeschiedenheit lebt. Der Frühling erwacht und verleiht der Einsamkeit hellere Farben und heitere Züge, und glücklich im Genusse einer friedlichen Natur durchlebt jener Mann auf seiner Scholle Sommer und Herbst. In diesen Naturbildern waren die Gedanken über die Einsamkeit lebendig geworden. Mit Zittern sah Ludwig dem Urtheile entgegen. Die Verdammung seines Machwerks stand ihm als unausweichliches Verhängniß fest. Endlich erschien die schwere Stunde. Seine Arbeit wurde für die Letzt verspart; offenbar sollte ein abschreckendes Beispiel für alle Schwachmatiker aufgestellt werden. Mit steigendem Herzklopfen vernahm er endlich die Worte des Lehrers: »Ich habe hier noch eine Arbeit von ganz besonderer Art.« Er war auf das Schrecklichste gefaßt. Doch wie staunte er, als er seine Erzählung über alles Erwarten gut, ja musterhaft nennen hörte. Eine schwere Last fiel von seinem Herzen; er war vor sich selbst gerechtfertigt.

Jetzt verwandelte sich die kindische Zaghaftigkeit in spielende Keckheit und Uebermuth. Mit der kühnen Sicherheit des Gelingens war er in jedem Augenblick bereit, was er irgend dachte und fühlte auf das Papier zu werfen. Seine Gabe phantasievoller Auffassung und Darstellung fand Anerkennung, und bald wurde er der allgemeine Helfer in der Noth. In den tausendfachen Aengsten und Plagen der Aufsätze und freien Reden sollte er helfen, rathen, Pläne und Entwürfe, ja ganze Abhandlungen und Reden machen. 50 Selten ließ er sich lange bitten. Zu seiner Gutmüthigkeit gesellte sich die übermüthige Lust, die Lehrer irrezuführen und in immer neuer Gestalt vor ihnen zu erscheinen. In Zwischenminuten und Freistunden war er bereit, seine Gedanken frischweg niederzuschreiben für Andere, denen schon die Zumuthung, überhaupt Gedanken haben zu sollen, schmerzliches Kopfweh verursachte. In Zeiten dringender Noth lernte der Tagesredner in der Nacht vorher Seite für Seite auswendig, was soeben aus Ludwig's Feder geflossen war, und hatte dann wol, wenn er im entscheidenden Augenblicke vor Gedike's Richterstuhl stand und die Versammlung feierlich anreden sollte, Alles vergessen, was er seinem harten Kopfe mit Mühe aufgenöthigt hatte.

Zuweilen spielte Ludwig selbst die schadenfrohe Rolle des Zufalls. In eine Schulrede, die er ebenfalls für einen minder schlagfertigen Genossen gearbeitet hatte, ließ er einen starken Anachronismus einfließen. Zu allgemeinstem Beifalle wurde die Rede gehalten. Der Richter erklärte sich befriedigt; die Schüler wurden aufgefordert, ihre Einwürfe vorzutragen. Von jenem Anachronismus war keine Rede. Mit vollster Anerkennung der trefflichen Rede erlaubte sich Ludwig, bescheiden darauf hinzudeuten. Unwillig wies ihn Gedike zurück. »Ich habe den Anachronismus auch bemerkt, aber bei solchen Leistungen hängt man sich nicht an Kleinigkeiten. Tieck mag erst eine solche Rede halten, dann kann er sie so kritisiren!« Mit schweigender Ironie gab Ludwig zu, er freilich könne eine solche Rede nicht zu Stande bringen.

Solche Aeußerungen und manches kecke Urtheil, welches er sich über die Gegenstände des Unterrichts erlaubte, wenn er z. B. den Virgil für einen Manieristen erklärte, brachte ihn mit der Zeit in den Ruf eines eigensinnigen Sonderlings, der ein Gelüste habe, die Lehrer zu durchkreuzen und durch 51 wunderliche Meinungen irrezuführen. In vielen Fällen hielt man für Eitelkeit, was nur eine unbewußte Kundgebung der eigensten Natur war, die man nicht zu fassen wußte. Spielend hatte er sich die Masse stofflichen Wissens angeeignet, die den minder Fähigen nach einem folgerechten Lehrgange beigebracht werden mußte. Dieser aber langweilte und ärgerte ihn. Es war ihm verdrießlich, zu sehen, wie die große Mehrzahl seiner Schulgenossen die Worte des Lehrers so lange nachsprachen, bis sie den Sinn derselben begriffen zu haben wähnten. Noch ärgerlicher waren ihm die Begabteren, welche mit Beflissenheit ihre eigene Ueberzeugung verbargen, um sich durch ein gläubiges Annehmen der Lehrsätze in Gunst zu setzen. Jenes schien ihm einfältig, dieses verächtlich. Auf keine Weise aber konnte er sich selbst dem hergebrachten Verfahren anbequemen. Er hielt es für äußerlich, geistlos, ja tyrannisch. Nicht nach einem allgemeinen stehenden Grundrisse können Leben und Bildung mitgetheilt werden, nur aus der innersten Natur des Einzelnen gehen sie hervor. An sich selbst muß der Mensch die Dinge erleben, an sich selbst ihr Wesen und ihre Einwirkung erfahren, sie zu seinem Eigenthume machen. Nur was man innerlich erlebt hat, lernt und weiß man in Wahrheit; dies allein steht fest für alle Zeiten und führt zur rechten Bildung. Leeres Nachbeten kann nur eine erheuchelte, falsche Bildung geben, welche den Geist ertödtet, während sie ihn zu wecken vorgibt.

Diese und ähnliche Gedanken bildeten sich bei ihm zu einer immer klarern Ueberzeugung aus. Freilich galt dies bald für ketzerisch, und mußte einer Schulweisheit gegenüber doppelt anstößig sein, die in ihrem Aufklärungsstolze meinte, das Geheimniß der Bildung entdeckt zu haben, und durch unfehlbare Mittel dazu zwingen wollte.

Aber er besaß für die Schwächen der Lehrer ein 52 schärferes Auge als seine Mitschüler. Schnell faßte er sie auf und in vorwitzigem Humor spielte er mit ihnen. Schon war ihm der Herr Rath keine über allem Zweifel stehende Macht mehr. Gedike's hochgespannte Würde, sein steifer Ernst, dessen die kleinen menschlichen Schwächen zu spotten schienen, machte einen komischen Eindruck auf ihn. Mit seinem dichterischen Geschmacke und ästhetischen Urtheilen war er längst nicht mehr einverstanden. Es ging ihm in der Schule wie mit den Ansichten seines Vaters. Oft wurde das wahrhaft dichterisch Empfundene und Ausgesprochene gewöhnlich gescholten, um das in der That Gewöhnliche für Poesie zu erklären. Bei dem Lesen der griechischen Tragiker wollte ihm weder aus den allgemeinern Versicherungen und Anpreisungen der edeln Simplicität der Alten, und noch weniger aus der trockenen Weise, in der man sie behandelte, ihre Größe und Erhabenheit einleuchten. Stets hörte er in unbedingtem Tone davon reden, und doch wußte man nicht anschaulich oder fühlbar zu machen, worin diese eigentlich bestehe. Denn einzelne schöne Züge, die ihn wirklich tief ergriffen, wollte man als solche nicht anerkennen, oder schien sie nicht hinreichend zu würdigen.

In diesem Sinne trat er einmal als Vertheidiger des Aeschylus gegen Gedike's ästhetische Kritik auf. Man las den »Gefesselten Prometheus«. Es wurde jener Monolog besprochen, in dem der gefesselte Titan den heiligen Aether, die Winde und Ströme und das ruhelose Lachen der Meereswellen zu Zeugen seines Leidens anruft. Gedike schloß die Erklärung damit ab, daß diese Anrufung des lachenden Meeres undichterisch, ja geschmacklos sei. Ludwig wollte darin gerade im Gegentheil eine dichterische, tiefe Naturanschauung eines großen Geistes finden, und wies zugleich auf die sinnlich anschauliche Malerei hin, die in diesem Verse liege. 53 Abermals unterbrach ihn Gedike mit den Worten: »Unser Tieck will Alles besser wissen, selbst als die gelehrten Commentatoren. Er muß immer etwas Apartes haben!«

Tiefer, bis zum Gefühle schmerzlichster Kränkung empfand Ludwig andere Misverständnisse, die er umsoweniger begreifen konnte, als er in bester Ueberzeugung seine innersten Gedanken ausgesprochen hatte.

Einer der beliebtesten Lehrer war der Conrector Weißer. Der einfache, natürliche Ton, den er anschlug, die ungezwungene Freundlichkeit, mit welcher er auf die Gedanken der Schüler einging und ihr Herz zu öffnen wußte, wirkte auf diese wohlthuend und gewinnend, während Gedike's befehlende Strenge sie auf ihre Grenzen zurückwies. Ursprünglich Theolog, war er ein entschiedener Anhänger der Aufklärung, und stand wegen seines Rationalismus bei manchen Amtsgenossen, auch bei Gedike selbst, nicht im besten Ansehen. Einst hatte er in den deutschen Stunden den Tod des Sokrates zu schildern aufgegeben. Ludwig hatte die Aufgabe in dichterisch darstellender Weise gelöst, und sie zugleich für eine Verherrlichung der griechischen Heroenmythen benutzt. In dem kindlichen und phantasievollen Glauben an ein hohes, gewaltiges Heldengeschlecht, das, wenn auch menschlich geboren und leidend, dennoch in die Götterwelt einzutreten vermag, schien ihm in dichterischem Sinnbilde die Vermittelung zwischen Gott und Mensch angedeutet zu sein. Tiefsinnig hatte der griechische Volksglaube die Nothwendigkeit einer solchen Vermittelung geahnt, während der nüchterne Verstand diese Kluft als eine nicht auszufüllende ansah. Aehnliche Ansichten hatte Ludwig seinem sterbenden Sokrates in den Mund gelegt, und ihn zu jenem Volksglauben sich bekennen lassen.

Weißer war über die Reife und Durchbildung, welche 54 aus dieser Abhandlung sprach, nicht wenig erstaunt. Er erkannte den werdenden Dichter darin, und glaubte sie Gedike mittheilen zu müssen. Dieser wollte sie indeß keineswegs loben und, vielleicht gerade auf Grund jener Empfehlung, sonderbarerweise Spuren des Atheismus darin finden. Bald darauf geschah es, daß Ludwig in einer Lehrstunde, in welcher Gedike mit den Schülern den Plutarch las, zum Erklären des Textes aufgefordert wurde und dabei ziemlich schlecht bestand. Der Schluß der Stunde befreite ihn endlich aus der peinlichen Lage, und Gedike endete seine eindringliche Strafrede mit den Worten: »Nun, wer nicht an Gott glaubt, braucht sich ja auch auf den Plutarch nicht vorzubereiten!« Dieser Vorwurf, bei dieser Gelegenheit gemacht, wirkte auf Ludwig vernichtend. Seine tiefste Ueberzeugung fühlte er in der ungerechtesten Weise verkannt, und der schneidende Hohn, der sich beigesellte, verletzte ihn bis zur Empörung. Er brach in heftiges Weinen aus. Theilnehmend sprachen ihm die Mitschüler zu, ohne seine leidenschaftliche Bewegung zu begreifen. Endlich sagte er: »Ihr versteht mich nicht! Die persönliche Kränkung, die mir widerfahren ist, könnte ich verschmerzen; daß aber eine solche Roheit möglich sei, habe ich nicht geglaubt.«

Wie auch immer Anerkennung und Misverständniß, Erfolg und Kränkung miteinander wechseln mochten, darin mußten am Ende alle, auch die ungünstigsten Stimmen sich vereinen, daß, wenn Ludwig auch schwer zu leiten sein mochte, man doch ein seltenes, mit sich selbst ringendes Talent vor sich habe, welches seinen Weg suche, und für die Zukunft Großes zu versprechen scheine. Gewiß, wenn irgend Einer den Namen eines hoffnungsvollen jungen Menschen verdiente, den man sonst mit einem gewissen Nachdruck nur sogenannten wohlgesitteten Schülern zu ertheilen pflegte, so war es der funfzehnjährige Ludwig Tieck.

55 Ein hoffnungsvoller junger Mensch gehörte nicht mehr der Schulstube allein an. Auch das gesellige Leben machte Ansprüche an ihn. Man verlangte nicht allein Kenntnisse, er sollte sie geltend machen können. Er sollte mit Menschen verkehren, gesellschaftliche Kreise betreten, eine Unterhaltung in artigen Wendungen führen, durch gesellige Künste das Seine zur allgemeinen Heiterkeit beitragen, und allen diesen Anforderungen in sichern und zierlichen Formen genügen können. Mit einem Worte, der hoffnungsvolle junge Mensch sollte in die Welt eintreten. Dazu war aber Ausbildung geselliger Eigenschaften, und körperliche Haltung und Gewandtheit unerläßlich.

Auch darauf war der sorgsame und verständige Vater bedacht. Eines Tages fragte er: »Nun, Ludwig, hast du nicht Lust, Musik zu lernen?« Für einen hoffnungsvollen jungen Menschen war das zuerst nöthig. In der Frage des Vaters schien sich die Aussicht auf Abwechselung, eine angenehme Unterhaltung und manche neue Erfahrung darzubieten. Ohne weiter zu wissen, worauf es ankomme, antwortete er, mit der Geige möge er wol einen Versuch machen. Gesagt, gethan. Ein Musikmeister erschien bald darauf; der Unterricht nahm seinen Anfang. Es war ein guter, stiller und in seiner Kunst sehr tüchtiger Mann, aber der Weg, welchen er einschlug, war der sonderbarste. Sei es, daß er die Langeweile des musikalischen A-b-c scheute, oder daß er eine ungemessene Vorstellung von der Fähigkeit seines Schülers hatte, ohne ihn über Werth und Bedeutung der Noten aufzuklären, legte er ihm in einer der ersten Stunden die bekannte Melodie: »Blühe, liebes Veilchen!« vor. Er selbst spielte sie so lange ab, bis Ludwig sie mit dem Gehör aufgefaßt hatte und leidlich nachzuspielen vermochte. Mit einigen Griffen, die er nothdürftig erlernt hatte, sollte er sich 56 nun weiterhelfen. Sogleich ging man zu schwerern Stücken über. Da es ihm an allem Verständniß fehlte, auch sein Gehör keineswegs sicher war, so lahmte der Unterricht bald in der kläglichsten Weise. Die Uebungen, das ihm ganz räthselhafte Notenschreiben setzte seine Geduld auf eine harte Probe; das Instrument selbst ward ihm verhaßt. Die dabei nothwendige Haltung des Kopfes kam ihm abgeschmackt vor, die sägende Bewegung der Hand lächerlich, der schrillende Ton der Geige, seinem Ohre so nahe, schnitt ihm durch Mark und Bein. Unwillkürlich verzog er bei gewissen Tönen den Mund grimassenhaft, die sonderbarsten Gesichtsverzerrungen wurden ihm zur Gewohnheit. An eine Beendigung dieser musikalischen Leiden war nicht zu denken, die Kunstübungen waren einmal begonnen, streng mußten sie daher nach dem Willen des Vaters durchgeführt und erduldet werden.

Eines Sonntags, ein Tag, den der Vater durch allerlei häusliche Untersuchungen auszuzeichnen pflegte, wollte er sich auch von den Fortschritten seines Sohnes in der Musik überzeugen. Ludwig sollte vorspielen. Im guten Glauben an das, was er im Schweiße seines Angesichts gelernt hatte, trug er einige beliebte Melodien vor, mit denen er sich am besten abzufinden meinte. Schweigend hatte der Vater zugehört, endlich sagte er: »Mein Sohn, du hast in der That Fortschritte gemacht; freilich nicht im Violinspielen, aber doch im Gesichterschneiden. Wo in aller Welt hast du diese abgeschmackten Fratzen her?« Zuletzt behauptete er gar, in Folge dieser heillosen Musik heftige Zahnschmerzen bekommen zu haben.

Ludwig hatte sich durch sein Kratzen auf der Geige auch dem Ohre der übrigen Hausbewohner bemerklich gemacht, und bald galt er für einen Violinvirtuosen. In dem obern Stockwerke wohnte der Stadtsecretär Laspeyres, dessen 57 aufwachsende hübsche Tochter als Hausgenossin auch seine Aufmerksamkeit erregt hatte. Sonntags pflegte sie Besuche einiger jungen Freundinnen zu empfangen, und so erging einmal die Bitte, ob Monsieur Tieck nicht die Güte haben wollte, mit seiner Violine heraufzukommen. Da der Geburtstag der Mademoiselle sei, wünschten die jungen Damen ein Tänzchen zu machen. Gern folgte er dieser schmeichelhaften Einladung.

Die Mutter empfing ihn mit Entschuldigungen und artigen Worten über sein Spiel. Bei diesen hohen Erwartungen wurde ihm schon unheimlich zu Muthe. Mehr noch, als er in vollem Lichterglanze, in dem Kreise der jungen, zierlichen Damen stand, die ihn über sein Spiel, welche Tänze er vorzutragen wisse, auszufragen anfingen. Zagend setzte er seine Geige an, und unter obligatem Gesichterschneiden begann er seine Tänze abzuspielen. Man fand die Manier des jungen Künstlers höchst eigenthümlich. Ohne Takt haspelte er seine Stücke ab, nichts wollte passen. Man wunderte sich, man kicherte, unwillig mußte man den eben begonnenen Tanz aufgeben; er endete mit der vollsten Verwirrung. Endlich dankte man Ludwig für seine Bemühungen und bat ihn, sie einzustellen. Voll Zorn über diese Demüthigung, die ihn in einem so anmuthigen Damenkreise treffen mußte, die Geige und seinen Meister verwünschend, zog er sich still und ohne Geräusch zurück.

Von diesen musikalischen Leiden befreite ihn erst eine spätere Zeit. Er mußte die Schule zweier Meister durchmachen, obgleich es dem Vater nicht entgehen konnte, daß es dem begabten Sohne an jedem Berufe für die Ausübung der Musik und, bisjetzt wenigstens, auch an dem äußern Sinne für dieselbe fehlte. Besser ging es in der ebenfalls unerläßlichen Tanzstunde, in der Haltung und Anstand gelehrt werden sollte. Der Tanzmeister führte Ludwig sogar als einen seiner besten Scholaren vor, wenngleich dieser auch hier das Plagen mit dem Takte unerträglich fand, und die Musik eher für die Feindin als die Begleiterin des Tanzes halten wollte.

Neben diesen gefälligen Künsten kamen die ritterlichen an die Reihe. An die Stelle knabenhafter Raufereien trat auch hier der Unterricht. Ludwig war gesund, kräftig, hoch aufgeschossen. In den sanften, ja weichen Zügen seines Gesichts würde man weder die bedeutende Körperkraft, die er besaß, noch den aufflammenden Muth gesucht haben, mit dem er sie zu Zeiten zur Anwendung brachte. Zuerst leitete ihn das Vergnügen an der Ausbildung seiner Kräfte, dann die bestimmte Absicht, auch in diesen Künsten sich frei und sicher zu bewegen.

Frühzeitig hatte er seine erste Ritterprobe nicht ohne Gefahr bestanden. Auch darin hatte der Vater einen freiern Sinn, daß er hin und wieder einen Philistergaul bestieg, um Ausflüge und kleine Geschäftsreisen in der Umgegend Berlins zu machen. Eines Abends war Ludwig hinausgegangen, den Vater, der mit einem andern Meister von einem benachbarten Städtchen zurückkehrte, am Brandenburger Thore zu erwarten. Zur bestimmten Stunde trafen die beiden Reiter ein. Der Vater stieg von seinem Gaul ab, und da ängstliche Sorge nicht seine Sache war, forderte er den Sohn auf, sich auch im Sattel zu versuchen. Dieser ließ sich das nicht zwei mal sagen, schwang sich kecklich auf, und ohne die nöthigen Anweisungen abzuwarten, begann er das Pferd übermüthig in die Weichen zu stoßen. Der Gaul warf sich mit einem gewaltigen Sprunge herum, in weitem Bogen flog Ludwig's Hut auf die Erde, und das scheue Thier jagte auf dem Wege nach Charlottenburg an Wagen und Spaziergängern in gestrecktem Laufe vorüber. »Wohin so eilig, junger Herr?« rief man dem verwegenen Reiter aus einem Wagen 59 zu, an dem er hinstreifte. »Das weiß Gott allein!« rief er zurück. Endlich auf dem Platze bei den Puppen, wie ihn die Volkssprache wegen der dort aufgestellten Bildsäulen nannte, gelang es einigen hülfreichen Händen, des Thieres Herr zu werden.

Athemlos vor Angst und Eile, keuchten jetzt auch die beiden Meister heran. So rasch als es ihre stattliche Leibesfülle erlaubte, waren sie dem jungen Heißsporn gefolgt. Unsanft riß ihn der Vater vom Gaule herab mit seiner beliebten Anrede: »Du bist und bleibst doch ein dummer Junge! Wie unbesonnen war es, das Pferd so zu reizen! Es konnte dir das Leben kosten!« Nach diesen ersten wenig ermuthigenden Erfahrungen wurde Ludwig später ein eifriger Kunde der berliner Pferdeverleiher, und bald galt er für einen kühnen und sichern Reiter.

Einige Zeit darauf machte er eine Bekanntschaft, die ihm bei allen Uebungen dieser Art trefflich zu Statten kam, ihm aber auch zugleich einen überraschenden Blick in die tiefern Schatten des Lebens eröffnete. In der Nachbarschaft des Vaterhauses lag ein Soldat von einem der berliner Grenadierregimenter im Quartier. Ludwig hatte ihn häufig an der Thür vorübergehen sehen, und das blasse ausdrucksvolle Gesicht war seiner Aufmerksamkeit nicht entgangen. Die größere Sauberkeit der Uniform, die ganze Haltung verrieth einen Menschen, der offenbar weit über der großen Masse gewöhnlicher Soldaten stand. Weitere Nachforschungen ergaben, es sei ein Gemeiner, der sogenannte Freidienste thue was schon auf bessere Verhältnisse schließen ließ.

Bei der nächsten günstigen Gelegenheit knüpfte Ludwig ein Gespräch mit dem Grenadier an. Er hieß Daschieri und stammte aus einer gebildeten Familie in Modena. Mit Gewandtheit, geselliger Bildung und manchen Kenntnissen 60 ausgestattet, hatte er als junger Mann den abenteuernden Cavalier gespielt, sich an Badeörtern und Spielbanken aufgehalten, und war schließlich in allerlei ärgerliche Händel verwickelt worden. Ohne Mittel, von Gläubigern verfolgt, fiel er in Strasburg preußischen Werbern in die Hände. Man hatte ihm die Möglichkeit vorgespiegelt, in kurzer Zeit Offizier zu werden, er hatte Handgeld genommen, und war auf das preußische Gebiet abgeführt worden. Jetzt begann die Enttäuschung. Als Gemeiner wurde er in ein Grenadierregiment in Berlin eingereiht, und zu einer Capitulation von sieben Jahren genöthigt. Nun erst war er völlig unglücklich, in einem fremden Lande, abgeschnitten von jeder Verbindung mit den Seinen. Bei einer gewissen Bildung an einen Haufen Menschen gefesselt, der zum Theil der Auswurf der verschiedensten Länder war, körperlichen Anstrengungen und den Mishandlungen roher Unteroffiziere preisgegeben, verfiel er in einen verzehrenden Gram. Aber alles Streuben gegen die eiserne Strenge der Zucht konnte seine Lage nur verschlimmern; er mußte seinen Nacken beugen. Da er sich pünktlich im Dienste, und außerdem still, ordentlich und gewandt zeigte, auch durch kleine Nebenverdienste im Besitz einiges Geldes war, so behandelte man ihn als einen Soldaten besserer Art, und ließ ihm einige Erleichterungen zu Theil werden. Nach Ablauf der Capitulation hoffte er seiner Dienste entlassen zu werden, aber halb mit Ueberredung, halb mit Gewalt hatte man ihn genöthigt sie zu erneuern.

In diesen aufreibenden Leiden fand Daschieri unerwartet in seinem jungen Nachbarn einen warmen und ergebenen Freund, der ihm mit dem vollen Gefühle der Theilnahme entgegenkam. Konnte er von ihm auch keine Hülfe erwarten, so war es doch eine große Erleichterung, in stillen 61 Freistunden sein Herz ausschütten zu dürfen, denn auch Klagen waren streng untersagt, und er hatte doch soviel zu klagen, wie er aus Furcht vor Desertion auf Schritt und Tritt belauert werde, ja nicht einmal nach Hause schreiben dürfe. In minder trüben Stunden wußte er auch manches Anziehende von Ländern und Menschen zu erzählen. Immer vertraulicher verkehrte Ludwig mit dem eigenthümlichen Manne, und beschloß endlich, in den mancherlei nützlichen Künsten, in denen er bewandert war, sein Schüler zu werden. Er lernte die Anfangsgründe des Italienischen von ihm und kam bald so weit, den Tasso lesen zu können. Da sein Lehrer kein ungeschickter Flötenbläser war, so wurde er zu neuen musikalischen Versuchen angeregt, und griff selbst zur Flöte. Mit aller Lust des Jünglings aber ließ er sich in das Waffenhandwerk einweihen. Er lernte das Stichrappier führen, das ihm eine edlere und zierlichere Waffe schien als der Hieber, und ließ sich auch in andern militärischen Handgriffen unterweisen. Dafür wurde dem Lehrer im älterlichem Hause manche Unterstützung und Erleichterung zu Theil.

Endlich war Daschieri's Capitulation abermals abgelaufen. Jetzt hoffte er befreit zu werden, doch sein Capitän war anderer Meinung. Es kam zwischen Beiden zu einem heftigen Wortwechsel, und Daschieri wurde wegen Widersetzlichkeit zu einer bedeutenden Anzahl von Fuchtelhieben verurtheilt. Er erlag unter der Klinge des Unteroffiziers, und wurde halbtodt in das Lazareth gebracht, wo er heftig erkrankte. Ludwig und der Vater waren von diesem neuen Misgeschick tief ergriffen. Soweit es erlaubt war, suchte man die Lage des Unglücklichen zu erleichtern. Ludwig besuchte ihn und saß tröstend und unterhaltend an seinem Bette. Endlich hörte auch dies auf. Daschieri verfiel in eine Frieselkrankheit; bald darauf starb er.

62 Es war ein Ereigniß, welches Ludwig auf das tiefste erschütterte. Was er hier als unmittelbarer Zeuge gehört, gesehen, erlebt hatte, warf einen breiten, dunkeln Schatten auf sein so empfängliches Gemüth, auf seine rege Phantasie, auf das Leben selbst. Solche Erfahrungen dienten dazu, in seiner Seele schwermüthige Betrachtungen vollends heraufzuführen, die wie ferne Gewitterwolken am Himmel des Jugendlebens hingen. Wie verhaßt erschien ihm jetzt das Soldatenwesen, dessen glänzende Außenseite er bisher knabenhaft angestaunt hatte; wie tyrannisch diese eiserne Ordnung, die jeden Willen mit unerbittlicher Strenge zerbrach; wie todt und nüchtern dieses tägliche Herumdrehen im Kreise einförmiger Thätigkeit! Wie hatte er sich dagegen gewöhnt, in freiester Ungebundenheit nach Laune und Willkür sich zu bewegen, nur auf Das zu horchen, was sein Genius ihm zuflüsterte, nur die Bilder zu sehen, die seine Phantasie ihm vorzauberte.

Manche andere Erlebnisse steigerten noch diesen Widerwillen. Wenn er in der Abendstunde die Stadt verlassen wollte, hatte man ihn am Thore angehalten und genöthigt, sich auszuweisen. Man sah in dem schlanken Primaner einen jugendlichen Rekruten, der in Civilkleidern desertiren wolle. Beleidigend wurden für ihn die übermüthigen Reden junger Offiziere, mit denen er bisweilen in dem Italienerladen von Sala Unter den Linden zusammentraf. Da hieß es in den Stunden der Parade: »Die Kerle draußen haben lange genug Ruhe gehabt; wir wollen ihnen mit der Fuchtel Motion machen.« Alle diese Erfahrungen ließen einen tiefen Eindruck für Ludwig's Leben zurück. Niemals hat er sich mit dem militärischen Wesen auszusöhnen vermocht. 63



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