Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Das Leben, welches Ludwig im Hause des Kapellmeisters Reichardt kennen lernte, waren die Gedanken, Gefühle und Neigungen, welche die jüngere gebildete Mittelclasse Berlins beherrschten und leiteten. Es war ein künstlerisches Stillleben voll Sicherheit, Genuß und Selbstzufriedenheit. Der Gedanke einer allgemeinen, humanen Bildung, welche in der Literatur einen so siegreichen Ausdruck gewonnen hatte, erfüllte die Gemüther. Diese Bildung zu erwerben, war die vornehmste Pflicht.
Aber um sich zu bilden, sich weiterzuentwickeln, mußte man sich kennen und das eigene Herz ergründen, in dem die Geheimnisse der Menschheit verschlossen ruhten. So wurde man auf Selbstbeobachtung hingeführt. Gewiß hatte man Recht, die Selbsterkenntniß und die aufrichtige Arbeit an sich 91 selbst als die schwierigste und wichtigste aller Aufgaben zu bezeichnen; aber wie schmeichelte es nicht der Eigenliebe, als der Gegenstand tiefer und merkwürdiger Forschungen zu erscheinen! Die bedeutendsten Bildungsmittel fand man weniger in einzelnen Fachwissenschaften, als in einer populären Philosophie, in dem Gangbarsten, was man sich aus Kant's Lehren anzueignen suchte, in der Poesie und Literatur, in der Kunst und besonders in dem Theater. Das Kunstwerk studirte man, an ihm bildete man sich. Man mußte sich Rechenschaft geben von seinen Bedingungen, von seinem Wesen, seinen Einwirkungen auf die Bildung. Man mußte ein ästhetisch-philosophisches Urtheil haben, das war unerläßlich. Und was konnte zugleich angenehmer sein als ein Studium, welches die Genüsse der Kunst zur Pflicht machte? Aber indem man sich ihnen eifrig ergab, geschah es, daß man sich die Mühen des Studiums immer leichter machte, bis zuletzt der selbstgenugsame Genuß ausschließlich an seine Stelle getreten war. Die Gebildeten gewöhnten sich, auf diesen einen Punkt Alles zu beziehen, von ihm aus die Welt zu betrachten, und so verwandelte sich Alles in einen verfeinert idealisirten oder auch mehr sinnlichen Genuß, der sich und Andere mit dem Namen von Wissenschaft und Bildung in gefährlicher Weise täuschte.
Bei solchen Ansichten mußte die Außenwelt an Wichtigkeit und Bedeutung verlieren. Sie schien nichts zur Lösung der Räthsel, welche im Bereiche des Herzens lagen, beitragen zu können, und wo sie mit rauher Hand eingriff, war sie störend und unbequem, am liebsten bekümmerte man sich gar nicht um sie. Und lebte man nicht in seinem Staate in vollster Sicherheit nach innen und außen? War man nicht im Besitze der Erbschaft Friedrich's des Großen und hatte seinen Ruhm, seine Verwaltung, sein Heer? Die 92 Staatsmaschine, wie er sie hinterlassen hatte, schien unverbesserlich; mit der Regelmäßigkeit eines Uhrwerks lief sie ab. Der Gedanke an Kriegsgefahr war, wie die Erinnerung an den Krieg, in weite Ferne zurückgetreten.
So machte der Eintritt eines gewaltigen, weltgeschichtlichen Ereignisses auf diese Gemüther keinen mächtigen Eindruck. In die eigenen Gefühle zu sehr versenkt, empfand man den Stoß der ausbrechenden Französischen Revolution auf das alte Europa nicht als drohende Ankündigung einer tiefen Umwälzung. Man meinte nichts weniger, als daß hier ein Brand sich entzündet habe, der im nächsten Augenblicke auch das eigene Haus ergreifen könne, in dem man sich so bequem eingerichtet hatte. Manchem mochte es scheinen, als könne man diesen Kämpfen mit derselben Gemächlichkeit zusehen, mit welcher man Ritterstücke und Familiendramen auf dem Nationaltheater sich vorspielen ließ.
Freilich fehlte es auch nicht an solchen, und es waren oft gerade die bedeutendsten Persönlichkeiten, welche den neufränkischen Ideen entgegenjubelten, und in ihnen den Anbruch eines neuen Zeitalters in Prosa und Versen begrüßten. Es war dies nur eine andere Art des Idealismus. Unbefangen revolutionirten sie auf dem Papiere. Eine politische Bedeutung hatte es kaum, wenn man sich für Menschenrechte und Freiheit begeisterte, sich in Demokraten und Aristokraten theilte, die »Marseillaise« sang, auf die Tyrannen schalt und die Jakobiner pries.
An die möglichen Folgen dachten gewiß die Wenigsten. Die Meisten kehrten am Ende doch wieder zu ihren Neigungen des Herzens und der Kunst zurück. Aber mit innerster Befriedigung erkannten sie die freimüthige Derbheit an, mit welcher der wackere deutsche Biedermann in einem Iffland'schen Familiendrama dem tyrannischen Minister die 93 Wahrheit sagte, ränkevollen Kammerjunkern und blutsaugerischen Steuerbeamten die Larve abriß, und den wohlwollenden, aber getäuschten Fürsten unsanft aus seinem Nachmittagsschlafe aufrüttelte.
Daß die jüngere Welt von diesen neuen Vorstellungen zumeist und am lebhaftesten ergriffen wurde, daß es hier an überschlagender Stimmung nicht fehlte, war natürlich. Auch Ludwig wurde vorübergehend davon berührt. Schon vor dem Ausbruche der Revolution hatte eine eigenthümliche Gunst des Geschicks ihm einen Helden der künftigen Tragödie im voraus gezeigt.
Eines Nachmittags war er mit einem Lieblingsbuche in der Tasche zum Halleschen Thore hinausgewandert. Sein Weg führte ihn nach einem etwas abgelegenen Vergnügungsorte, welcher in der berliner Volkssprache der dustere Keller heißt. In einem Winkel des kleinen Gartens warf er sich mit seinem Buche bei einem Glase Milch ins Gras. Um einen benachbarten Tisch war eine Gesellschaft von Stammgästen versammelt, die sich lebhaft in französischer Sprache unterhielten. Sie gehörten der Französischen Colonie an, und höflich wie sie waren, forderten sie ihn auf, unter ihnen Platz zu nehmen. Er folgte der Einladung und hörte ihren Gesprächen zu, die politischen Inhalts waren.
Vom ersten Augenblicke an hatte ein Mann seine Aufmerksamkeit erregt, welcher der Wortführer der Gesellschaft zu sein schien. Er sprach mit einer Stentorstimme und flutenden Beredtsamkeit, der gegenüber Alles verstummen mußte. Was er sagte, begleitete er mit dem ausdrucksvollsten Mienenspiele und gewaltsamen Geberden. Einen solchen Menschen, ein solches Gesicht meinte Ludwig noch niemals gesehen zu haben. Es war eine starke, stämmige Figur, aus der ein eigenthümlicher Trotz sprach. Aus dem Kopfe blitzten ein 94 paar Augen mit einem stechenden, kaum zu ertragenden Blicke. Im Ausdrucke des Gesichts, das von Blatternarben zerrissen war, herrschte ein sonderbarer Widerspruch. Von vorn gesehen, hatte es etwas Abschreckendes, Rohes, ja Gemeines, während es von der Seite edle Umrisse darbot, welche an einen antik geschnittenen Kopf erinnerten. Mit großer Zuversicht verkündete der Redner die Nothwendigkeit und den baldigen Beginn einer politischen Umgestaltung.
Diese Zusammenkünfte und Unterhaltungen wiederholten sich mehrere Male, und Ludwig, angezogen durch die Neuheit solcher Eindrücke, verfehlte nicht, daran theilzunehmen. Eines Tages fehlte die Hauptperson. »Wo bleibt denn heute unser Demokrat?« hieß es. Ludwig wagte endlich die Frage, wer dieser gewaltige Redner sei. »Wie, junger Mann«, entgegnete man, »so kennen Sie den Mann nicht? Es ist der Graf Mirabeau.« Für Ludwig war die Sache mit dieser Entdeckung vorbei. Er sah den Mann nicht wieder, und bald darauf hieß es, Mirabeau habe die Stadt verlassen. Erst später hörte er den verhängnißvollen Namen wieder und erinnerte sich jener Begegnung.Mirabeau war im Jahre 1786 zwei Mal in Berlin. Zuerst vom Januar bis Mai, dann vom Juli bis Ende December.
In dieser Zeit fing es auch an, in den Köpfen der Schüler zu gähren. Man eiferte gegen den Adel und die Tyrannen, wie man diese etwa aus dem Plutarch kannte. Unterhaltungen, Reden und Aufsätze hallten nun von diesem Tone wider. In einer der üblichen Reden hatte sich ein Schüler, welcher selbst dem Adel angehörte, sehr bestimmt gegen denselben erklärt. Auf Gedike's Bemerkung, daß das Worte seien; ob er sich den Entschluß zutraue, den Adel in der That abzulegen, betheuerte jener feierlich, daß er dazu mit Freuden bereit sei.
Auch Ludwig wurde von diesen Gedanken ergriffen. Als er sich indeß zu Hause in der Weise neufränkischer 95 Begeisterung vernehmen ließ, wurde er von dem Vater nicht eben glimpflich zurechtgewiesen. Dergleichen weltreformirende Reden mochten diesen im Munde des kecken Sohnes doppelt verdrießen. Er war ein zu guter Bürger und zu sehr Freund strenger Herrschaft, um sich mit dem Umsturze bürgerlicher Ordnung befreunden zu können. Er ahnte das Zerstörende solcher gewaltsamen Bewegungen, und pflegte diese politischen Erörterungen mit den Worten zu enden: »Dabei kann nur Verkehrtes und Thörichtes herauskommen. Das ganze Volk taugt zu solchen Dingen nicht. Der Erfolg wird es lehren!«
Der Erfolg lehrte es in der That. Als die Zeiten des Schreckens kamen, wurden auch die kühnen Sprecher stumm; und als der Vater voll Genugthuung fragte: »Nun, habe ich es nicht gesagt? Wer hat nun Recht?« hatte Ludwig dem nichts entgegenzusetzen. Vor diesen Gräueln schauderte seine innerste Natur zurück. Die Erregung für Revolution und Politik erlosch, und er wandte sich wieder den Kreisen des innern Lebens zu, die er eigentlich nie verlassen hatte.